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Updated: 18.12.2012 15:51
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Überflüssiger Kapitalismus

Ein Blick in die Wirtschaftspresse samt Einladung zur Diskussion - von Slave Cubela

Wenn Siegerländer Sozialdemokraten die dunklen Seiten des Kapitalismus entdecken, Jesuiten-Intellektuelle darob die Glaubwürdigkeit der SPD bezweifeln und dagegen eine »substanzielle Kapitalismuskritik« einfordern und die IG Metall sich ihren Reim auf die Verhältnisse mittels einer Karikatur macht, die den metaphorischen Qualitäten des »Stürmers« in nichts nachsteht, ist Aufklärung gefragt. Kennzeichnend für das >breite< Niveau der Kapitalismuskritik sind deren >Verkürzungen<: die Reduktion auf Einzelmomente wie Managementfehler, spektakuläre Übernahmen oder Massenentlassungen, Bereicherungssucht im Allgemeinen und der Bankvorstände im Besonderen etc., wie überhaupt Moralisierung und politischer Voluntarismus sich vor die Analyse von Zusammenhängen schieben. Wichtige Debatten wie die über Unterkonsumtion oder Überakkumulation, langfristige Krisentendenzen des Kapitalismus, den »Staat« des Kapitals und dessen Steuerungsfähigkeiten bzw. -grenzen, sind, jedenfalls in der BRD, in den 70er Jahren theoretisch und empirisch stecken geblieben. Und dabei diskutiert selbst die liberale Wirtschaftspresse ganz ungeniert über politische Ökonomie und die Blauäugigkeiten des Kanzlers für Wirtschaftsgeschenke angesichts der Indikatoren für einen »Crash« auf Weltmarktebene, der freilich jenseits des taktischen Horizonts einer Landtagswahl liegt. Slave Cubela zeigt anhand eines Streifzugs durch die einschlägige Zeitungslandschaft, an welchen Zusammenhängen anzuknüpfen wäre, um nicht in den Verkürzungen der hiesigen, nationalistisch geprägten Kapitalismuskritik stecken zu bleiben. Ein Blick >auf die andere Seite< lohnt sich bisweilen.

Die Wiederentdeckung des »Kapitalismus« durch die deutsche Sozialdemokratie und die hieran anschließende öffentliche Debatte sind nicht so einfach zu verstehen, wie es vielleicht scheinen mag. Sicher, es geht um Wahlkampftaktik, und ohne Zweifel sucht die SPD auch von eigener Verantwortlichkeit abzulenken, von den vielen verqueren Argumenten und den problematischen Metaphern in dieser Debatte ganz abgesehen. Aber interessanter als all dies ist doch die Frage, wie viel Unbehagen, wie viel Ohnmachtsgefühl hier im Lauf der Jahre angestaut worden sein muss, dass der Begriff »Kapitalismus« zum Fluchtpunkt sozialdemokratischer Kritik und öffentlicher Debatte werden konnte. Mehr noch fragt man sich, ob sich in dieser Debatte nicht die vorsichtige Ahnung artikuliert, dass die verschiedenen Einzelphänomene, die die Gegenwartsentwicklung kennzeichnen - die steigende Anzahl der Arbeitslosen oder prekär Beschäftigten, der Druck auf Löhne und Sozialleistungen, der zunehmende Wettbewerb zwischen den Unternehmen, die Internationalisierung der Produktion oder die irritierende Entwicklung der globalen Finanzmärkte -, dass also all diese Einzelphänomene nur Momente eines immer schwerer zu beeinflussenden und übergreifenden Ganzen, eben »des Kapitalismus« sind? Und, wenn ja: Wie lässt sich der Zusammenhang dieser Phänomene wenigstens ansatzweise so begreifen, dass die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Linke nicht mehr herablassend und doch leider zurecht zu kritischerer Kapitalismuskritik auffordern muss? (FAS, 1. Mai 2005) Die Antwort, die im Folgenden vorgeschlagen und umrissen werden soll, lautet: Die gegenwärtige ökonomische Entwicklung nicht nur in der BRD ist geprägt von einem tendenziell wachsenden, globalen Kapitalüberangebot, d.h. der Druck auf die international agierenden Anleger, profitable Investitionsmöglichkeiten für ihr Kapital zu finden, steigt derart, dass die Expansion sog. Risikokapitalien, die »Überhitzung« diverser Anlagemärkte, ein stetig anwachsender Wettbewerbsdruck, aber auch eine immer ungewissere soziale Zukunft die notwendige Folge sind.

No risk, no money

Beginnen wir der Aktualität halber mit den »Heuschrecken«, also jenen neuartigen Kapitalgesellschaften wie Private Equity- oder Hedge-Fonds [1], die laut Franz Müntefering über die »guten«, weil solide und langfristig wirtschaftenden Unternehmen, herfallen, um sie dann in kurzer Zeit abgenagt wieder zu verlassen. Ohne Zweifel handelt es sich bei diesen beiden Arten der Kapitalanlage um ein besonders bemerkenswertes Phänomen, da sie durch die vergangenen schwierigen Jahre hindurch derart expandiert sind, dass der Economist mit Blick auf diese Fonds von den »New Money Man« spricht und ein echtes »start-up-fever« konstatiert (17. Februar 2005).

Um den Gründen für dieses Phänomen auf die Spur zu kommen, hilft es, sich den Zweck dieser neuen Anlagemöglichkeiten zu vergegenwärtigen. In den deutlichen Worten der Financial Times Deutschland: »Private-Equity-Fonds sind genau wie Hedge-Fonds systematisch betriebene Versuche, durch außergewöhnliche Methoden mehr Rendite zu erzielen.« (FTD, 10. Mai 2005) Wie diese »außergewöhnlichen Methoden« nun im Einzelnen aussehen, ist in letzter Zeit von vielen Seiten beschrieben worden, für unsere Zwecke ist eine andere Frage von Bedeutung: Warum besteht für einen immer größer werdenden Anteil des Investitionskapitals die Notwendigkeit, sich solcher außergewöhnlicher und riskanter Methoden zu bedienen, um die Renditen zu steigern? Haben wir es hier einfach mit einer zunehmenden moralischen Degeneration der Anleger zu tun? Hören wir erneut die Financial Times Deutschland: »Es ist der schiere Anlagenotstand, der relative Überfluss an Rendite suchendem Kapital. Der Kapitalüberfluss macht Aktien teuer, er führt dazu, dass die Gewinnmöglichkeiten der Anleger an den Börsen geringer werden und dass ganz allgemein die Renditen, die Zinsen auf das eingesetzte Kapital schrumpfen.« (Ebd.)

In diesem Sinne hätten wir ein erstes Indiz für die Ausgangsthese dieses Textes. Damit ist das Bild allerdings noch nicht vollständig. Denn: Hedge-Fonds und Private Equity-Anlagen sind nicht nur Folge von Kapitalüberakkumulation, sondern sie verschärfen das Problem, für das sie die Lösung zu sein scheinen, und sind damit selbst einem immer weiter steigenden Handlungsdruck ausgesetzt. Daher titelt die Süddeutsche Zeitung gegen den Trend bereits: »Hedge-Fonds in Nöten« (12. Mai 2005) und hält fest: »So haben Hedge-Fonds nach Angaben der Beratungsfirma Hennessee Group im April im Durchschnitt 1,75 Prozent verloren, so viel wie seit September 2002 nicht mehr. Auch seit Jahresbeginn liegen die Fonds leicht im Minus. Zwar erscheint das wenig, wenn man bedenkt, dass etwa der amerikanische Aktienindex S&P 500 in diesem Jahr um vier Prozent gefallen ist. Doch haben Hedge-Fonds noch Mitte der neunziger Jahre 15 Prozent und mehr abgeworfen, seitdem sinken die Erträge.« Und weiter heißt es: »Dafür gibt es vor allem zwei Gründe: der hohe Mittelzufluss und die Entwicklung an Aktien- und Anleihemärkten. Die Zahl der Hedge-Fonds ist seit 1995 von gut 2000 auf mehr als 8000 gestiegen, das verwaltete Vermögen von 76 Milliarden auf eine Billion Dollar. Hedge-Fonds verfolgen vielfältige Strategien und werben damit, unabhängig von der Entwicklung am Aktienmarkt Gewinn erzielen zu können, etwa indem sie auch auf fallende Kurse spekulieren. Doch tun sich Hedge-Fonds am leichtesten, wenn es an den Märkten einen klaren Auf- oder Abwärtstrend gibt. An den Aktienbörsen gibt es den schon seit 2004 nicht.« Also: über eine vergleichsweise lange Zeit waren Hedge-Fonds im Schnitt ein verdammt gutes Geschäft für risikofreudige Anleger, aber eben dieser Erfolg führte insbesondere ab 2000 sowohl zu einer langsamen Überkapitalisierung dieser Fonds selbst, die neben der schwierigen Entwicklung der Aktien- und Anleihemärkte den Gewinn dieser Fonds langsam, aber sicher minimalisierte. Da ist es nur folgerichtig, wenn die Financial Times Deutschland einen Experten mit den Worten zitiert, dass Hedge-Fonds noch aggressiver werden müssen, um Geld zu verdienen bzw. dass sich Gerüchte halten, dass sich einige Fonds womöglich bereits schon gewaltig verspekuliert haben. (FTD, 12. Mai 2005, FAZ, 17. Mai 2005).

Aktien, Anleihen, Immobilien

Soviel einstweilen aus der Welt des Risikokapitals. Versuchen wir jetzt die Situation auf den klassischen Anlagemärkten genauer zu zeichnen bzw. zu präzisieren, welche Phänomene der bereits erwähnte Anlagenotstand auf diesen Märkten nach sich zieht.

1. Was zunächst die Aktienmärkte angeht, so führt dieser Anlagenotstand zu der widersprüchlichen Situation, dass einerseits insbesondere die Aktienkurse in den USA trotz des Platzens der Spekulationsblase im Zuge des Internetbooms im historischen Vergleich immer noch sehr hoch sind (The Economist, 2. Januar 2003), andererseits aber die vergleichsweise niedrige Durchschnittsrendite des Aktienkapitals gegenwärtig doch einen erneuten extremen Aktienboom recht unwahrscheinlich macht. Somit kommt es auf den Aktienmärkten seit geraumer Zeit zu einer Seitwärtsbewegung, die jedoch wegen des Kapitalüberhangs überaus nervös verläuft, sei es, weil die Anleger Angst haben, kleine Einbrüche an den Aktienmärkten und damit scheinbar günstige Einstiegsgelegenheiten zu verpassen, sei es aber auch, weil immer wieder schlechte Nachrichten plötzlich zu Kursverlusten führen und damit für die Anleger beständig Gefahr besteht, jenen >richtigen< Moment des Marktausstiegs zu verpassen, der ein gutes von einem weniger guten Geschäft oder gar von einem Verlust unterscheidet. All dies führt zu einem extrem widersprüchlichen Bild von Meldungen und Tipps in den entsprechenden Zeitungen. So konstatierte etwa die Frankfurter Allgemeine im April mit Blick auf neue Zahlen der Weltwirtschaftsentwicklung und den Fall GM eine »Hohe Nervosität an den Finanzmärkten« (FAZ, 18. April 2005), fragte aber gleichzeitig in ihrer Internetausgabe die Leser, ob nicht gerade jetzt der richtige Moment des Einstiegs bei GM gekommen sei. Der Economist hingegen, seit Monaten ein mehr als skeptischer Begleiter der Entwicklung der Finanzmärkte, konnte plötzlich die Skepsis der Anleger nicht mehr verstehen und widmete verwundert einen ganzen Artikel der Frage: »Why are investors so jittery?« (The Economist, 21. April 2005)

2. Damit sind wir bei den Anleihemärkten, also den Märkten für die festverzinsliche Anlage von Kapital angelangt. Dort hat das Kapitalüberangebot inzwischen zu historisch derart niedrigen Zinsen für Staats- wie Unternehmensanleihen geführt, dass der US-Notenbankchef Alan Greenspan von einem Rätsel sprach. (FTD, 11. April 2005) Allein: entweder haben er und seine Gefolgsleute tatsächlich ein unerschütterliches Vertrauen in das Wachstum der Weltwirtschaft und der USA, so dass ihnen anhaltend sinkende Anleihezinsen in einer prosperierenden Ökonomie notwendigerweise wie ein Buch mit sieben Siegeln vorkommen müssen. Oder Greenspan und Konsorten wissen sehr genau, dass dieses Phänomen die notwendige Folge der begründeten Skepsis vieler Anleger gegenüber dem Wachstum der Weltwirtschaft im Allgemeinen und der USA im Besonderen ist (so dass es für diesen Teil der Anleger naheliegend ist, ihr Kapital in den zwar renditeschwachen, jedoch vermeintlich sicheren Hafen der Anleihen zu schicken). Wie dem auch sei, wenigstens hat diese Situation für >Papa Staat< etwas vorübergehend Gutes: Er findet nämlich gegenwärtig genügend Anleger, um die eigene Ausgabenpolitik günstig finanzieren zu können. Frankreich gelang es bereits mit Erfolg, eine 50-Jahres-Anleihe zu platzieren, so dass auch die USA, Großbritannien und die BRD ähnliches ankündigten. (FTD, 30. März 2005, 17. Mai 2005 u. FAZ, 4. Mai 2005) Doch wie im Falle der Hedge-Fonds regen sich auch auf dem Anleihemarkt bereits erste Stimmen, die Gefahr wittern. So sind die Folgen der Abstufung der Anleihen der beiden Autoriesen GM und Ford durch die Rating-Agentur Standard & Poor's für die Anleihemärkte wegen des großen Umfangs der davon betroffenen Anleihen noch gar nicht absehbar (FAZ, 6. Mai 2005, 17. Mai 2005), und die gleiche Agentur warnt bereits jetzt davor, »dass die Bonität von Bundesanleihen und ähnlichen Staatspapieren aus Frankreich, Großbritannien und den USA vom nächsten Jahrzehnt an stetig fallen wird und bis Mitte des Jahrhunderts den Status von Junk-Bonds erreichen wird« (FTD, 30. März 2005). Da muss es nicht verwundern, wenn der Kolumnist der Financial Times Deutschland warnend schreibt: »Für die Regierungen ist das ein großartiges Geschäft, denn sie verschulden sich langfristig zu Billigstzinsen. Es ist völlig in Ordnung, das Risiko auf naive Investoren abzuwälzen. Doch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass der Zustand nicht ewig anhalten wird. Wie jede Bubble wird auch diese platzen, und dann wird es unangenehm, gerade für Länder mit geringem strukturellem Wachstum und hohen Verschuldungsraten. (...) Und dann ist die Party zu Ende.« (Ebd.)

3. Somit kommen wir zum dritten und letzten Aspekt dieser Reise durch die Welt der klassischen Anlageformen: zum Immobilienmarkt. Dessen Entwicklung und Überkapitalisierung lässt selbst den Economist erblassen, wenn es dort heißt: »In den letzten drei Jahren hat sich der Gesamtwert von Wohneigentum in den entwickelten Ländern der westlichen Welt um schätzungsweise 20 bis 60 Trillionen Dollar (eine Zahl mit 18 Nullen) erhöht. Unterstellen wir, dass sich dieses Wachstum teilweise durch die Abwertung des Dollars erklären lässt, so hat sich das Wachstum dieser Werte in diesem Zeitraum dennoch verglichen mit dem schon extremen Wachstum von knapp 10 Trillionen in den drei Jahren bis 1999 knapp verdoppelt. Ist das die größte Finanzspekulationsblase der Geschichte?« (Economist, 9. Dezember 2004) Die etwas ausweichende, aber doch deutliche Antwort, die der Economist selbst gibt, lautet: »Niemals zuvor erlebten so viele Länder gleichzeitig einen Immobilienboom, angetrieben von niedrigen Leitzinsraten. Wie auch immer, in seinem letzten World Economic Outlook warnte der Weltwährungsfonds, dass wegen des globalen Anstiegs der Abstieg auch global sein wird - mit entsprechenden Konsequenzen für die Weltwirtschaft.« (Ebd.) Ist es vor diesem Hintergrund eine beruhigende Nachricht, wenn der Economist im März das erste Mal seit acht Jahren eine Verlangsamung des Anstiegs der Immobilienpreise vermeldet? (The Economist, 3. März 2005) Oder beginnt die Immobilienblase langsam zu platzen, wozu Berichte über die finanzielle Schieflage der beiden mit Abstand größten Hypothekenfinanzierer der USA - auf die auch US-Notenbankchef Greenspan bereits aufmerksam geworden ist - passen würden? (The Economist, 18. Februar 2005, 8. März 2005)

Wie das Kapital überflüssig wird

Die Frage, die sich nach diesen Ausführungen aufdrängt, ist klar: warum und wie ist es zu dieser allgemeinen Überkapitalisierung der Finanzmärkte gekommen? An der keineswegs einfachen Antwort haben sich in den letzten Jahren eine Reihe von Interpreten versucht - man denke z.B. an Altvater/Mahnkopf, Hans-Georg Conert oder in den USA Robert Brenner - und jeder, der es genau wissen will, sei hiermit auf die betreffenden Bücher verwiesen. Im Folgenden deshalb nur die Andeutung einiger in der Debatte häufig genannter Faktoren.

Erster Aspekt, und in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen: Kapitalinvestitionen in die sog. Realwirtschaft lohnen sich immer weniger, so dass diese umgekehrt selbst immer mehr zu einem wichtigen Produzenten überschüssigen Kapitals wird. Ein wichtiges Indiz für diese Behauptung ist, dass aktuell viele Unternehmen, statt ihre Gewinne zu reinvestieren, diese nutzen bzw. sogar Kredite aufnehmen, um entweder durch Aktienrückkäufe den eigenen Börsenkurs hochzuhalten und damit Übernahmen, also fortschreitende Zentralisationsprozesse zu verhindern, oder aber um dieses Kapital direkt an die Anleger auszuschütten. (The Economist, 29. Mai 2005) Aber auch die Tendenz vieler ehemaliger Industrieunternehmen, parallel zu ihrem Stammgeschäft als Akteure auf die Finanzmärkte auszuweichen, um dort selbst als Bankier, Risikokapitalinvestor, Aktionär, Immobilienaufkäufer oder Spekulant aufzutreten, ist ein Beleg hierfür. Wie weit dieser Prozess der Finanzkapitalisierung der Realwirtschaft inzwischen fortgeschritten ist, verdeutlicht die folgende Passage aus der Financial Times Deutschland: »Man muss kein ausgefuchster Volkswirt sein, um zu erkennen, dass wir es mit einem Missverhältnis zwischen Finanz- und Realwirtschaft zu tun haben. Alan Abelson hat im US-Anlegermagazin Barron's sein Unbehagen über dieses Missverhältnis ausgedrückt und sich dabei auf folgende US-Statistiken bezogen: Danach fallen vom Gesamtgewinn, den die Unternehmen in den USA erzielen, mittlerweile knapp 50 Prozent im Finanzsektor an. In den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts waren es noch zwischen 10 und 20 Prozent.« (FTD, 28. Dezember 2004)

Zweitens, und ein besonders bemerkenswerter Sonderfall des ersten Aspekts: Gerade ab den achtziger Jahren haben ölexportierende Länder wie Saudi-Arabien, Kuwait oder Katar einen großen Anteil ihrer Einnahmen weniger zur Modernisierung der eigenen Ölindustrien oder zum Aufbau neuer produktiver Branchen genutzt, sondern sich mit diesem Kapital insbesondere auf US-amerikanische Anlagen aller Art gestürzt. Da, wie schon gesagt, profitables Industriekapital immer weniger vorhanden war, ging auch dieses Kapital - schätzungsweise über eine Billion Dollar (Handelsblatt, 10.3.2003) - in Aktien, Fonds, Häuser, Gold.

Drittens: für eine weitere immense Zunahme des freien Weltkapitals hat die japanische Zentralbank gesorgt, als sie auf das Platzen der Immobilienblase und die beginnende Stagnation der eigenen Wirtschaft ab 1990 mit einer Senkung der Leitzinsen auf inzwischen 0,1 Prozent reagierte. Genauer: Der Versuch durch niedrige Kapitalzinsen Zusammenbrüche in der eigenen Finanzwirtschaft zu verhindern sowie Unternehmen und Verbrauchern durch billige Kredite je nach Bedarf die Entschuldung, aber auch die Verschuldung zu erleichtern, war gleichzeitig ein Freibrief für alle Arten der Spekulation und die weitere Aufblähung der globalen Kapitalmärkte. Berücksichtigt man dann noch, dass diese Finanzpolitik billiger Kredite in Japan seit über zehn Jahren anhält, dass die US-amerikanische Zentralbank zwischen 1992 und 1994 sowie mehr noch seit 2001 eine vergleichbare Zinspolitik verfolgt(e) und inzwischen auch in der Eurozone der Leitzins bei nur noch zwei Prozent liegt, so herrschte an Möglichkeiten zur Kapitalbeschaffung in den letzten Jahren kein Mangel, gab es also »money for nothing«. [2]

Viertens schließlich: Insbesondere seit dem Jahr 2002 lässt sich beobachten, wie eine ganze Reihe asiatischer Zentralbanken durch den Kauf US-amerikanischer Staatsanleihen - laut Schätzungen der Asian Development Bank belief sich die Gesamtmenge der durch asiatische Banken aufgekauften Anleihen im Jahr 2004 auf insgesamt zwei Billionen Dollar (L.A.Times, 6. April 2004) [3] - wesentlichen Anteil an der Überkapitalisierung in den USA haben. Sie tun dies im Wesentlichen aus zwei Gründen: einerseits um die US-Ökonomie bzw. deren Haushalts- und Leistungsbilanzdefizit zu stabilisieren, so dass ein Einbruch des US-amerikanischen Konsumbooms, also auf dem wichtigsten asiatischen Exportmarkt, verhindert wird und andererseits, weil sie auf diese Weise eine Abwertung des US-Dollars im Vergleich zu den eigenen Währungen unmöglich machen wollen, da dies einen wichtigen Wettbewerbsvorteil dieser asiatischen Länder zunichte machen würde. Doch auch hier scheint es, dass das, was als kurzfristige Überbrückung einer Konjunkturdelle angelegt war, sich derart verfestigt hat, dass sowohl ein kurzfristiger plötzlicher Ausstieg als auch ein unendliches Beibehalten dieser internationalen Defizitfinanzierung schwierig ist. Im ersten Falle könnte u.a. der US-Dollar unkontrolliert fallen, und asiatische Exporte würden von heute auf morgen erschwert; im letzten Fall gerät aber der US-amerikanische Staat unter immer größeren Einnahmedruck zwecks Bedienung dieser Anleihen, so dass eine erneute Ausweitung der Kreditexpansion, höhere Steuern oder gar ein Staatsbankrott denkbar wird. Hierzu noch ein kleiner Hinweis: Fast unbemerkt von der hiesigen Öffentlichkeit war der US-Kongress im November 2004 erneut gezwungen, die Obergrenze für die gesetzliche Schuldenaufnahme zu erhöhen - was nach Juni 2002 und Mai 2003 bereits die dritte Erhöhung dieser Art war!

Keynes gegen den Überfluss

Verwundert es angesichts dieser Zahlen und Kausalitäten immer noch, dass ein guter Sozialdemokrat über die gegenwärtige ökonomische Entwicklung als Ganzes derart irritiert sein muss, das er den Kapitalismus wiederentdeckt, und dass er sich mit Blick auf die Konsequenzen aus alledem lieber schnell wieder den überschaubaren Einzelphänomenen widmet? Aber, nicht zu schnell: Was ist überhaupt die Konsequenz aus alledem? Was sollen wir tun, und was dürfen wir hoffen?

Werfen wir zu diesem Zwecke noch einmal einen abschließenden Blick in die Wirtschaftspresse, wo gegenwärtig drei Zukunftsszenarien besonders häufig genannt werden. Zum ersten: das Schönwetter-Szenario. Dessen bekanntester Vertreter ist der bereits erwähnte Vorsitzende der US-Notenbank Alan Greenspan, und das Szenario besagt, dass die Entwicklung der Weltkapitalmärkte keinen Anlass zur Sorge geben muss, da insbesondere das Beispiel der USA zeige, dass expandierende und deregulierte Finanzmärkte zu einem arbeitsplatzschaffenden Wachstum führen könnten, wenn die Wirtschafts- und Sozialpolitik konsequent »Reformen« vorantreibe und die Zentralbank eine pragmatische Zinspolitik der ruhigen Hand verfolge. »Bereichert Euch« rufen also die Schönwetter-Vertreter, was im Subtext insbesondere meint: Beschleunigt endlich auch die »Reformpolitik« in den europäischen Ländern und in Japan.

Zum zweiten: das Szenario eines »gesunden« Crashs. Die Vertreter dieses Szenarios, eine in jüngster Zeit immer größer werdende Gruppe, verfolgen stets kritisch die Aufblähung der Anlagemärkte und glauben im Gegensatz zur Schönwetter-Gruppe weder an einen nachhaltigen Aufschwung in den USA noch an eine kontrollierte unendliche Fortsetzbarkeit von Niedrigzins- und Verschuldungspolitik, wie sie USA, Japan und Deutschland gegenwärtig betreiben. Auch sie sagen zwar »Bereichert Euch«, aber ihre Hoffnung für die Zukunft ist eine andere. Hören wir: »Nun muss es wirklich nicht immer gleich ein Weltkrieg sein. Aber ein hübscher Crash käme der Finanzanlageindustrie durchaus gelegen. Ganz gelassen betrachtet, ist so ein Crash gar nicht zu vermeiden. Denn vom jetzigen Niveau der Aktienkurse aus sind Steigerungsraten von 6,8 Prozent wie im Durchschnitt der letzten 130 Jahre einfach nicht vorstellbar. Es sei denn, man wendet die am Aktienmarkt so beliebte »Greater Fool Theory« an. Sie lautet, kurz gesagt, dass man einen noch größeren Deppen schon finden wird, der die Aktie noch teurer bezahlt.« (FTD, 28. Dezember 2004) Zum dritten schließlich: das Szenario einer Wiedergewinnung des Primats der Politik. Dessen Vertreter teilen in vielerlei Hinsicht die Einschätzung der zweiten Gruppe, aber sie rufen: »Seid vernünftig, wir müssen etwas tun«. Doch sie sind sich keineswegs im Klaren darüber, was angesichts all der Dilemmata genau zu tun ist. Tobin-Steuer? Internationale Kontrolle der Finanzmärkte? Mehr direkte Staatseingriffe in die Wirtschaft statt der bisherigen Niedrigzinspolitik - etwa mit Konjunkturprogrammen -, um die Profite in der Realwirtschaft wieder zu heben, damit Investitionen in diese attraktiv zu machen und dann auch irgendwann Arbeitsplätze zu schaffen? Offenlegung von Managergehältern? Oder gar alles zusammen?

Wer letztlich recht behalten wird, wird sich zeigen. Aber gerade mit Blick auf die letzte Gruppe und die in dieser vertretenen Keynesianer sei noch ein prinzipielles Wort erlaubt. Orientiert man sich nämlich an den Ursprüngen bzw. am guten alten Lehrmeister Keynes selbst, so wird man feststellen, dass dieser - ähnlich übrigens wie ein Trierer Privatgelehrter ein halbes Jahrhundert vorher - zu dem Schluss kommt, dass der Prozess der Akkumulation trotz aller kontrazyklischen staatlichen Eingriffe langfristig von einer steigenden Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals gekennzeichnet ist, dass der Fortschritt des Kapitalismus also dazu führt, dass immer mehr Kapital immer weniger Anlagemöglichkeiten vorfinden wird. In den Worten Christoph Deutschmanns: »Nicht der Tatbestand der fallenden Profitrate und der steigenden organischen Zusammensetzung ist zwischen Marx und Keynes ... kontrovers«. [4] Wäre es also nicht an der Zeit, mit Keynes wieder über die »Sozialisierung der Investition« oder gar mehr nachzudenken? Geben wir Deutschmann das Schlusswort: »In einer Gesellschaft, die sich nicht länger für neue große technologische Projekte mobilisieren lässt, entfällt die ökonomische Rechtfertigung für eine stark ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen. Am besten wäre es natürlich, die Reichen sähen dies ein und zögen freiwillig die Konsequenzen. Da damit nicht zu rechnen ist, bleibt nur die Notlösung einer kompensierenden Ausweitung der kreditfinanzierten Staatsausgaben. Wachstum lässt sich so nicht erzielen, nur der Absturz kann so - um den Preis einer Zunahme der Inflationsgefahr - verhindert werden. Aber die Gesellschaft gewinnt Zeit, über eine neue Wirtschaftsverfassung nachzudenken, in der sie nicht mehr wachsen und dem Goldenen Kalb nachjagen muss - eine zwar schmerzhafte und sozial höchst konfliktträchtige, aber für alle reifen Industrieländer wohl unvermeidliche Umstellung.« (FR, 2. Dezember 2003)

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/05


(1) Der Begriff Hedge-Fonds geht auf die Technik des Hedging (engl.: to hedge - absichern) zurück, die ursprünglich dazu gedacht war, ein anderes, zweites Anlage-Investment vor unwägbaren Risiken zu bewahren. Private Equity (engl.: privates Beteiligungskapital) ist der englische Begriff für das von Privatanlegern beschaffte Beteiligungskapital im Unterschied zum Public Equity, das an der Börse beschafftes Kapital darstellt.

(2) Vgl. insbesondere Robert Brenner: »Boom & Bubble. Die USA in der Weltwirtschaft«, Hamburg 2003

(3) Vgl. zu diesem Themenkomplex auch: The Economist, 4. Dezember 2003, 5. Februar 2004, 8. Juli 2004 sowie Washington Post, 19. November 2004

(4) Christoph Deutschmann: »Der linke Keynesianismus«, Frankfurt am Main 1973, S. 160


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