letzte Änderung am 11. November 2003

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Mär vom Aufschwung

von Winfried Wolf

Seit Oktober mehren sich die Aussagen, wonach es 2004 einen neuen Aufschwungs geben würde. Ja, dieser habe seit Sommer 2003 bereits eingesetzt. Das hört sich gelegentlich an wie ein Pfeifen im Walde. Nehmen wir den am 10. Oktober 2003 veröffentlichten neuen "Konjunkturindikator" der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Überschrift dazu lautete: "FAZ-Konjunkturindikator steigt deutlich". Sollte sich hinter dem Frankfurter Großbürger-Blatt der sprichwörtliche "kluge Kopf" befinden, dann muss dieser erst die unter der Überschrift wiedergegebene Tabelle studieren, um die Wahrheit zu erfahren. Laut Tabelle zeigte der Geschäftsklima-Indikator, der auf Umfragen bei Unternehmen über die zukünftige Wirtschaftsentwicklung ein halbes Jahr lang monatlich in Folge eine Verschlechterung der ökonomischen Entwicklung an. Lediglich der jüngste ermittelte Wert, der August-Indikator, weist das bescheidene Plus von 1,5 Prozent aus. Ein anderes Beispiel: Am 6. November schlagzeilte die Financial Times Deutschland: "Deutschland entkommt der Rezession". Begründet wurde dies damit, dass das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung für das 3. Quartal 2003 ein (geschätztes) Wachstum von 0,1 Prozent erwartet. Selbst wenn es dieses Miniwachstum gegeben haben sollte, so sind die vom Bundesamt für Statistik bestätigten Zahlen doch interessanter, da belastbar: Danach war das deutsche Bruttoinlandsprodukt drei Quartale hintereinander – von IV/02 bis II/03 – rückläufig. Die industrielle Produktion lag im zuletzt ermittelten Monat August 2003 sogar um 3,2 % unter dem Vorjahresniveau. Damit erlebt die BRD nach offizieller Terminologie eine Rezession – nach derjenigen von 2001 die zweite in knapper Folge.

 

Weltweite Realwirtschaft im Minus

Ähnlich sieht es auf internationaler Ebene aus. Die Weltwirtschaft erlebt 2003 einen "double dip", den zweiten konjunkturellen Einbruch binnen dreier Jahre: Einen ersten hatte es 2001 gegeben. 2002 wurden allseits Aufschwungtendenzen gefeiert. Anfang 2003 kam die neue Rezession. An diesen harten Fakten sollten wir uns zunächst orientieren.

Die US-Ökonomie geriet im 4.Quartal 2001 in die Rezession – deutlich vor dem 11.9.2001. Interessant dabei war, dass es bis September 2001 geheißen hatte, die US-Ökonomie befinde sich weiter im Aufschwung. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Centers wurde eine Rezession bekannt gegeben, die ab dem dritten Quartal 2001 eingesetzt habe. Mitte 2002 wurde eine "Revision" der BIP-Statistik vorgenommen und rückwirkend eingestanden, dass es bereits in den ersten drei Quartalen 2001 ein rückläufige US-Bruttoinlandprodukt gegeben hatte und dass ausgerechnet ab Oktober 2001, also nach dem Einsturz der Twin Towers, ein neuer Aufschwung eingesetzt hatte. Die Möglichkeiten der "kreativen Gestaltung" der Wirtschaftsstatistik haben sich offensichtlich gerade im Zeitalter der elektronischen Datenerfassung erheblich "verbessert" – was im übrigen auch auf die BRD-Statistik zutrifft.[1] Allein aus diesem Grund sollten die Angaben über angebliche Aufschwungtendenzen mit gesunder Skepsis zur Kenntnis genommen werden.

Nach einem Aufschwung von Ende 2001 bis Ende 2002 näherte sich die US-Wirtschaft Anfang 2003 erneut der Rezession. Seit Mitte 2003 gibt es nun die vielzitierte Erholung beim Bruttoinlandsprodukt – mit einem offiziell im November vermeldeten Plus im dritten Quartal von 7 Prozent gegenüber dem Vorquartal (auf das Jahr hochgerechnet). Allerdings nennt die letzte verfügbare Statistik zur industriellen Produktion für September 2003 immer noch ein Minus von 0,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Vor allem aber: Seit März 2001 wurden 2,8 Millionen Arbeitsplätze abgebaut. Und dieser Jobbabbau soll fortgesetzt werden – die großen Konzerne (so Chrysler, Eastman Chemical, Sun Micro) haben den Abbau von mehreren Hunderttauend Arbeitsplätzen angekündigt. Die offizielle US-Statistik nannte Anfang November einen ersten Anstieg der Beschäftigung im Oktober 2003 um 126.000 und einen Rückgang der Arbeitslosenquote von 6,1 auf 6 Prozent, "den niedrigsten Wert seit sechs Monaten". Allerdings wurde auch hier die Statistik rückwirkend bis einschließlich der September-Zahlen revidiert, was Anlass zu Vorsicht geben sollte. Insbesondere hat auch nach den offiziellen Zahlen insbesondere die Beschäftigung im Dienstleistungssektor zugenommen, wohingegen "die Industrie ihren Abwärtstrend lediglich gebremst hat".[2]

Japan, die zweitgrößte Ökonomie der Welt, erlebt seit 1992 eine Stagnationsperiode, die von Rezessionen unterbrochen wird. Typisch sind die letzten fünf Jahre: 1998 eine Rezession; 1999 ein Miniaufschwung; 2001 eine Rezession; 2002 ein leichtes Plus; in den ersten zwei Quartalen 2003 erneut Rezession. Ein Diskonssatz, der nahe Null Prozent liegt, und Konjunkturprogramme, die sich im Zeitraum 1991 bis 2003 auf umgerechnet 650 Milliarden Euro addieren, schufen anstelle eines dauerhaften Aufschwung eine Staatschuld, die 150 Prozent des Bruttoinlandprodukts entspricht (Maastrich-Maximum: 60 %). Seit Sommer 2003 ist in Japan einmal wieder von "Erholung" die Rede. Bei allem Auf und Ab bleibt: Die Arbeitslosigkeit liegt auf Nachkriegs-Rekordhöhe. Die industrielle Produktion lag Mitte 2003 um 4 Prozent unter dem Niveau von 1997. Charakteristischer für die Misere der japanischen Ökonomie mag die Zahl von 32.143 Selbstmorden 2002 sein – das sind 1101 Suizide mehr als im Vorjahr und im fünften Jahr mehr als 30.000 Selbsttötungen. Japan weist hinter Ungarn die zweithöchste Suizidquote auf. Ein großer und wachsender Teil der Suizide erfolgt "aus ökonomischen Gründen".[3]

Die drittgrößte Ökonomie, die deutsche, geriet Ende 2001 in die Rezession. Nach Aufschwungstendenzen 2002 gibt es 2003 bestenfalls ein "Nullwachstum". Die Arbeitslosigkeit lag im Oktober saisonbereinigt bei knapp 4,4 Millionen. Der leichte Rückgang im Oktober war ausschließlich das Ergebnis der neuen Arbeitsmarktgesetze ("Hartz-Gesetze"), die Tausende Erwerbslose veranlassten, nicht oder kaum versicherte Billigjobs anzunehmen oder sich als "Selbständige" (Ich-AGs) zu erklären und die Hunderttausende dazu zwangen, sich "aus der Statistik abzumelden". Anlässlich der Vorstellung der Oktober-Zahlen gab der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Gerster, bekannt: Von den 747.100 Männern und Frauen, die sich im Oktober bei den Arbeitsämtern abmeldeten, hätten "mehr als die Hälfte, 336.100, keine Beschäftigung aufgenommen". Danach gibt es einen realen Anstieg der Massenerwerbslosigkeit. Dieser wird sich fortsetzen. Für 2003 erwartet die Creditreform einen Pleitenrekord mit 40.000 Firmen-Insolvenzen und 300.000 vernichteten Jobs. Die gleichen Institute, die für 2004 von einem Aufschwung reden, gehen davon aus, dass die Massenerwerbslosigkeit auch bei den offiziellen Zahlen weiter wächst. Berücksichtigt man die genannten Maßnahmen zur fortgesetzten Schönung der Arbeitslosen-Statistik, dann wird im Januar und Februar 2004 die Marke von 5 Millionen Erwerbslosen überschritten und damit ein neuer Nachkriegsrekord erreicht.[4]

 

Fragiler potentieller Boom

Es stellt sich die Frage, worauf die Aufschwungs-Erwartungen aufbauen? Die US-Ökonomie, die als internationale Wachstumslokomotive gehandelt wird, ist seit 2002 geprägt von gewaltig angestiegenen Staatsausgaben vor allem im Verteidigungs- und Sicherheits-IT-Sektor, gepaart mit großen Steuersenkungsprogrammen für Reiche und Unternehmen und den niedrigsten Zinsen seit den 50er Jahren. Allein die Steigerung der Rüstungsausgaben und der Ausgaben für "Home Security" brachten 2003 im Vergleich zu 2000 staatliche Mehrausgaben von 150 Milliarden US-Dollar. Zusammen mit den Steuersenkungen und dem Prime-Rate-Zinsniveau auf Rekordtief von 1 Prozent ergibt sich eine massive Nachfragesteigerung, ein Konjunkturprogramm, das knapp 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes entspricht.

Es handelt sich überwiegend um einen kreditfinanzierten Aufschwung. Künstlich ist auch die Nachfrageausweitung in anderen Bereichen. Typisch ist der Fahrzeugbau, die größte Branche der US-Wirtschaft. Dort wurde der Absatz bis Mitte 2003 durch massive Preisnachlässe auf relativ hohem Niveau gehalten. Kaum reduzierten die US-Autokonzerne diese – für die Profite ruinösen – Rabatte, brach der Absatz im Oktober ein. Tatsächlich wurden Pkw-Käufe, die für später vorgesehen waren, zu Schnäppchen-Preisen vorgezogen. 2003 werden in den USA voraussichtlich nur 15,6 Millionen Kfz abgesetzt – erstmals seit 1998 deutlich weniger als 17 Millionen.[5]

In der EU ist es ebenfalls der Wettlauf mit Steuersenkungen, der stimulierend wirkt. Damit werden gewaltige Löcher in den Staatshaushalten aufgerissen. Allein die Tatsache, dass die zwei entscheidenden EU-Länder BRD und Frankreich drei Jahre in Folge das entscheidende Maastricht-Kriterium eines Haushaltsdefizits von maximal 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) erheblich verletzen, zeigt wie verzweifelt und riskant diese Politik ist.

Ein Teil der Aufschwungstendenzen in dieser Region erklärt sich durch die EU-Osterweiterung: Die EU-Unternehmen zerstören damit Hunderttausende Unternehmen und kleine Existenzen und erhöhen in Mittel- und Osteuropa die Arbeitslosigkeit um mehrere Millionen. Der damit ausgelöste Prozess ähnelt demjenigen von 1990-1992, als im Zuge des Anschlusses die westdeutsche Ökonomie boomte, weil die BRD-Konzerne den Markt der Ex-DDR übernahmen – und en passant die weltweite Krise von 1990-92 auf 1993 hinauszögerten und abschwächten. In vergleichbarer Weise, nur auf höherer Stufenleiter, stützt nun die "Osterweiterung" die Konjunktur in Kerneuropa. Die Folgen sind bedrohlich. Polen, das insbesondere dem Feuersturm der überlegenen BRD-Konzerne ausgesetzt ist und eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von knapp 20 Prozent aufweist, verbucht 2003 ein Haushaltsdefizit in Höhe von 7 Prozent des BIP; für 2004 wird von der Dresdner Bank eine polnisches Haushaltsdefizit von umgerechnet 8,7 Prozent des BIP erwartet – fast die dreifache Höhe des Maastrichter Maximums.[6]

Schließlich spielt bei den Boom-Erwartungen China eine wichtige Rolle. Das Wirtschaftswachstum im 1,3 Milliarden-Menschen-Staat liegt 2003 bei 8 Prozent. Der Auto-Absatz wird sich 2003 gegenüber dem Vorjahr von 1,1 auf 2 Millionen Kfz knapp verdoppeln – seit 1995 hat er sich versechsfacht. Im laufenden Jahr will VW in China erstmals mehr Pkw absetzen wie in der BRD. 2002 lag China auch bei den deutschen Auslandsinvestitionen erstmals auf Rang 1– noch vor den USA.[7]

 

Neue Krisen-Risiken

Die skizzierten Aufschwungtendenzen sind wenig überzeugend, insbesondere sind sie nicht nachhaltig. Die Gefahren, vor denen die Weltwirtschaft heute steht, sind von einer Art, dass auch ein kurzzeitiger Aufschwung in Frage steht. Einige kritische Sonderfaktoren seien hier vorab als Stichpunkte genannt:

Jenseits solcher Sonderfaktoren lassen sich drei relevante umfassende Gefahrenherde ausmachen.

Da ist zunächst die weiterhin zurückbleibende Massennachfrage. Grundsätzlich ist ein weltweiter Aufschwung von normaler Dauer nur vorstellbar, wenn sich die Nachfrage nachhaltig belebt. Tatsächlich existieren weltweit Tendenzen, die eine gegenteilige Wirkung haben. Die neoliberale Politik senkt die individuellen Realeinkommen, erhöht die Massenarbeitslosigkeit und reduziert damit die Massennachfrage. Hierzulande gilt dies im besonderen Maß für das, was als "Agenda 2010" bezeichnet wird: höhere private Ausgaben für Gesundheit, niedrigere Renten, niedrigere Einkommen der Erwerbslosen – all das addiert sich auf Dutzende Milliarden Euro an reduzierter Nachfrage. Jeder OECD-Staat wird von vergleichbaren Programmen gegeißelt. In Japan erwartet man beispielsweise nach der Wiederwahl von Koizumi eine drastische "Rentenreform", die laut Hiromichi Shirakawa von UBS Japan "das Wachstum wieder stark bremsen" würde. Die hohe private Verschuldung schränkt dabei gleichzeitig die Möglichkeiten der künstlichen Ausweitung des Konsums ein; dies gilt insbesondere für den Zeitpunkt, an dem die Zinsen wieder ansteigen. Auch auf dem Weltmarkt ist die Nachfrage gefährdet: Einige große Exportabsatzmärkte (Russland, Lateinamerika) stagnieren, in anderen liegt die Nachfrage lediglich aufgrund künstlich niedrig gehaltener Wechselkurse hoch (Asien). Der chinesische Markt ist besonders labil. Derzeit entstehen in China gewaltige Überkapazitäten, v.a. in der Autoindustrie. Gleichzeitig droht in diesem Land eine Finanzkrise; jedes zweite Darlehen der chinesischen Banken gilt als nicht mehr eintreibbar. Das heißt, die Nachfrage aus China kann abrupt abbrechen.[11]

Schließlich stellen die Börsenverluste, die es zwischen März 2001 und Sommer 2003 gab, Einkommensverluste dar. Sie schlagen erst verzögert durch und werden derzeit noch durch Zinsen, die auf Rekord-Tief liegen, gemildert. In der BRD hat sich beispielsweise aufgrund der Verluste am Aktienmarkt erstmals seit 1948 der Geldvermögensbestand der deutschen Privathaushalte verringert.[12]

Wir erleben damit den fortgesetzten Versuch der Wirtschaftspolitik, die Verwertungsbedingungen (Profitbedingungen) zu verbessern – u.a. durch niedrigere Löhne, längere Arbeitszeiten, niedrige Zinsen, niedrigere Besteuerung, Förderung der Kapitalkonzentration und des Exports. Das befeuert durchaus kurzzeitig die Produktion, zumal dann, wenn sich neue Absatzmärkte auftun. Doch ein erheblicher Teil dieser Maßnahmen reduziert auch die (private und staatliche) Nachfrage bzw. erhöht die Labilität derjenigen Ökonomien, die Ziel der G-7-Exportströme sind. Womit die günstiger produzierten Waren und die preiswerter gelieferten Dienstleistungen teilweise aktuell, vor allem jedoch perspektivisch zu wenige Käufer finden. Dies mündet im typischen, kurzatmigen Auf und Ab, wie wir es derzeit weltweit erleben – u.a. mit den "dips", den "double", "triple" und "multiple dips".

Als zweites ist die fortgesetzte Spekulation zu nennen. Die Erholung an den Börsen Mitte 2003 hat nur einen Teil der riesigen Verluste seit März 2001 wettgemacht. Gleichzeitig blüht erneut die Sumpfblüte des Fusions- und Aufkaufsfiebers, der M&A-Geschäfte, auf: Oracle will People Soft feindlich übernehmen; Thomson/Frankreich verbündet sich mit TCL/China zum größten TV-Gerätehersteller der Welt; Tschibo schluckt Beiersdorf; Bayer stößt die Chemie und Kunststoff-Sparte ab; Google erwartet 15 Milliarden Dollar durch den Börsengang. Der Skandal um den Chef der New Yorker Börse, Richard Grasso (Jahressalär 2001: 31 Mio $, ebenso viel wie der Gewinn der New York Stock Exchange), und dessen erzwungener Rücktritt im Sommer 2003 erschütterten erneut das Vertrauen in die Börsen. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank und der Aufsichtsratschef desselben Instituts müssen sich 2003/2004 vor Gericht verantworten – der erstere, Ackermann, wegen seiner Verwicklung in die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone, bei der in großem Maß Schmiergelder geflossen sein sollen, der zweitere, Breuer, wegen des Vorwurfs, er habe den Medienunternehmer Kirch in den Konkurs getrieben. Ein Wirtschaftsblatt stellte dazu fest: "Die Deutsche Bank wird zur Anklage-Bank".[13]

Besonders gefährlich erscheint auf dem Gebiet der Spekulation derzeit der Immobilienssektor. In Spanien und Großbritannien haben sich die Immobilienpreise seit 1995 verdoppelt. Auch im übrigen Europa (außer BRD und Österreich) und in den USA hat sich in diesem Sektor eine "Blase" entwickelt. Die niedrigen Zinsen verstärkten den Bau- und Umschuldungsboom. All das stellt noch eine wichtige Stütze der Massennachfrage dar. Doch das Ende des Immobilien-Booms naht. In den USA gab es im Juni 2003 mit der Beinahe-Pleite des führenden Baufinanzierers Freddie Mac eine erste Erschütterung. In Großbritannien entschloss sich die Bank of England am 7. November 2003 zum ersten Zinserhöhungsschritt, den es seit zwei Jahren in einem maßgeblichen Industrieland gab. Die britische Zentralbank will damit die gefährliche Aufblähung der Immobilienblase stoppen. Doch es handelt sich dabei um eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera: Riskiert wird gerade damit das Platzen der Blase, ein abrupter Verfall der Immobilienpreise und die hunderttausendfache Pleite überschuldeter Hauseigentümer.[14] Das erinnert an Japan: Dort folgte auf den Zusammenbruch der Börsenkurse 1989 bis 1991 der Zusammenbruch der Preise im Immobiliensektor. Dies war wiederum Grundlage für die Erosion der gesamten Wirtschaft. Seither erlebten wir in Japan mehr als ein Jahrzehnt Stagnation, Krise und Deflation. Der US-amerikanische Yale-Ökonom Robert Shiller, der Ende der 1990er Jahre zutreffend das Platzen der Aktienblase vorhergesagt hatte, wurde im September 2003 mit den Worten zitiert: "An den Immobilienmärkten deutet viel auf eine Spekulationsblase hin. Ein Einbruch bei den Vermögenspreisen stellt derzeit das größte Risiko dar."[15] Wie wir beim ersten Aufplatzen der Aktienblase 2000ff – und insbesondere in der Weltwirtschaftskrise 1929ff – sahen handelt es sich dabei nicht um ein Nullsummenspiel. Obgleich die überhöhten Kurse in allen Segmenten der Spekulation "künstliche" sind, obgleich ihnen keine realen Gegenwerte gegenüberstehen, sind sie doch fest in die kapitalistische Ökonomie "eingepeist". Ein Zusammenbruch dieser Blasen reduziert die Nachfrage; vor allem werden dadurch Hunderttausende Marktteilnehmer in den Konkurs getrieben.

 

Voodoo-Wirtschaftspolitik in USA

Den dritten Gefahrenherd bilden die US-Defizite und deren Finanzierung. Das sogenannte "Zwillingsdefizit" (Haushalts- und Leistungsbilanz-Defizit) schafft in den USA eine enorm labile Situation: Während der Haushalt 1999 und 2000 im Plus lag, fehlten 2002/2003 (Haushaltsjahr-Ende: September) 374 Mrd. $. Für 2003/2004 wird ein Fehlbetrag von 500 Mrd. $ erwartet – knapp 5 % des BIP. Gleichzeitig wird die Differenz zwischen dem, was die USA an Waren und Dienstleistungen exportieren, und dem, was sie importieren, immer größer: 2002 entsprach das Leistungsbilanzdefizit mehr als 5 % des BIP. Entsprechend gewaltig ist der Bedarf an einem ständigen Zufluss von ausländischem Kapital – aktuell sind es 2,3 Millionen Dollar pro Minute.[16]

Die labile finanzielle Lage in den USA vernetzt sich mit den Ökonomien Japans, der Tigerstaaten und Chinas. Diese Staaten finanzieren im wesentlichen den US-Kapitaldurst, indem sie US-Dollar und US-Anleihen kaufen. Von 2500 Mrd. US-Dollar an weltweiten Währungsreserven konzentrieren sich 1500 Mrd. $ auf die asiatischen Staaten. Deren Dollar-Heißhunger speist sich aus dem Bestreben, die eigenen Währungen künstlich niedrig, damit den Dollarkurs hoch zu halten – und auf diese Weise den eigenen Exportboom zu verlängern. Dies ist wiederum Grundlage des US-amerikanischen Leistungsbilanzdefizits. Die Bank of Japan (BoJ) teilte Mitte November mit, dass sie allein im Zeitraum 1.7. bis 29.Oktober 2003 80 Milliarden Dollar aufkaufte – überwiegend in Form von US-Staatsanleihen. Diese stellt den größten Betrag dar, den die japanische Zentralbank jemals an US-Dollar in einem vergleichbaren Zeitraum erwarb.

Als Antwort auf die niedrigen asiatischen Währungen, die wachsenden Importe aus Asien nach USA und das explodierende US-Leistungsbilanzdefizit fordern die US-Regierung und führende Kapitalvertreter Nordamerikas – so das Management von General Motors – eine Abwertung der Währungen Asiens, insbesondere des Yen und der Renminbi, der chinesischen Währung. Das ist ebenso logisch wie widersinnig. Einerseits könnten damit die US-Exporte wieder steigen und die Defizite sinken. Andererseits würde auf diese Weise jedoch der dringend benötigte Kapitalzufluss nach USA jäh abreißen. Eine Aufwertung der asiatischen Währungen entspräche einer Abwertung des Dollars – und dies könnte – wie beim Zusammenbruch des Weltwährungssystems ("Bretton Wood") Anfang der siebziger Jahre und nicht zufällig am Ende des Vietnam-Kriegs – in einen Dollar-Sturzflug münden. Die damit gleichzeitig aufgewerteten Währungen Euro, Yen, Pfund, SFr etc. würden die Exporte der entsprechenden Länder massiv reduzieren – und damit dem erwarteten neuen Aufschwung die Grundlage nehmen.[17] Der Weltwährungsfonds warnte, das US-Haushaltsdefizit könnte bald auf umgerechnet 6 Prozent des US-BIPs und damit auf den höchsten Stand seit Ende des Zweiten Weltkriegs steigen. Ein solches Rekorddefizit könne "die langfristigen Zinsen in die Höhe treiben und den erhofften Aufschwung gefährden."[18] Christian de Boissieu, Professor an der Université Paris-I und Vizepräsident des französischen Sachverständigenrats äußerte: "Die USA haben eine psychologische Schwelle überschritten. Ab einem bestimmten Niveau wiegt die Besorgnis über die Ungleichgewichte schwerer als der Optimismus hinsichtlich der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit."[19]

In der Bilanz sind die Gefahren für einen neuen Konjunktureinbruch und für eine beschleunigte Massenarbeitslosigkeit ernster zu nehmen als die Hoffnungen auf einen Aufschwung. Ursache dafür ist letzten Endes die Tatsache, dass die kapitalistische Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten ein gewaltiges Krisenpotential angesammelt und eine enorme Störung des Gleichgewichts erlebt hat. Krisen stellen, wie Karl Marx schrieb, "momentane, gewaltsame Lösungen der vorhandenen Widersprüche, gewaltsame Eruptionen (dar), die das gestörte Gleichgewicht für einen Augenblick wiederherstellen".[20] Die "double" und "triple dips", die wir 2001 bis 2003 erlebten, brachten, trotz der damit verbundenen katastrophalen Verschärfung der sozialen Krise, noch keine (zeitweilige) Lösung des Potentials an Widersprüchen und keine nachhaltige Behebung des gestörten Gleichgewichts. Diese Einschätzung drängt sich insbesondere auch beim Blick auf die langandauernde japanische Krise auf. Dabei sollte bedacht werden, dass Nippons Wirtschaft bis 1991 als Motor der Weltwirtschaft galt und dass damals die gesamte kapitalistische Welt in den japanischen Produktionsmethoden ein Vorbild sah, dem es nachzueifern galt. Mehr als ein Jahrzehnt japanischer Stagnation, Deflation und Erosion schienen Anfang der neunziger Jahre völlig ausgeschlossen; kein einziger Ökonom, kein einziges Wirtschaftsinstitut hat vergleichbares auch nur in Ansätzen vorhergesagt.

Im übrigen gilt: Selbst wenn es zu dem derzeit vielfach erhofften Aufschwung kommt, so wird dieser von einer weltweiten Rekordarbeitslosigkeit, von einem umfassendem Sozialabbau und von einer fortgesetzten Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts, von der Vergrößerung der Kluft zwischen Arm und Reich und Nord und Süd begleitet sein.

Weltweit macht die Losung "Eine andere Welt ist möglich" die Runde – zuletzt anlässlich des Scheiterns der WTO-Konferenz in Cancun, Mexiko, und bei der Demonstration von mehr als 100.000 Menschen gegen den Sozialabbau am 2. November 2003 in Berlin . Wir müssen diese Losung ergänzen um die Feststellung: "Eine andere Ökonomie ist nötig!"

 

Der Text ist eine speziell für das LabourNet Germany erstellte Langfassung. Die Kurzfassung ist am 11.11.03 in junge Welt. Winfried Wolf veröffentlichte im Juni 2003 das Buch "Sturzflug in die Krise – Die Weltwirtschaft, das Öl, der Krieg". Konkret Literatur, 240 Seiten, 16,50 Euro.

Anmerkungen:

1) Ein typisches Beispiel sind die Angaben zur Verkehrsstatistik und hier zur Statistik der Deutschen Bahn AG respektive der Statistik des Bundesministeriums für Verkehr. Während offiziell (DB AG und "Verkehr in Zahlen") die Fahrten im Nahverkehr (Verkehrsaufkommen und Verkehrsleistung / Pkm) just seit Beginn der "Bahnreform" 1994 zunahmen, lässt sich im Detail belegen, dass es zum Gegenteilt zu einem Rückgang kam. Die Bahn hat seit Mitte der 1990er Jahre systematisch ihre Zahlen rückwirkend "geschönt". Vgl. Klaus Gietingers Recherche in: Frankfurter Rundschau vom ....; derselbe in: Auf dem richtigen Gleis? Die Bahn zwischen öffentlichem Auftrag und Privatisierung, Sammelband der Evangelischen Akademie Baden, Tagung in Bad Herrenalb September 2003, Karlsruhe Dezember 2003.

2) Angaben zur US-Wirtschaft u.a. nach: Financial Times Deutschland vom 10.11.2003; Business Week vom 12.11.2003; National Bureau of Economic Research (NBER), November 2003.

3) Angaben zu Japan nach: Nikkei Weekly vom 10.11.2003; Financial Times (London) vom 24.10.2003; ZU vom 22.8.2003.

4) Angaben zur BRD-Arbeitslosigkeit: Frankfurter Rundschau vom 7.11.2003; Financial Times Deutschland vom 5.11.2003; zum Pleitenrekord nach: Die Welt vom 24.5.3003 und Financial Times Deutschland vom 27.6.2003; zum BIP und zur industriellen Produktion: Monatsberichte der Deutschen Bundesbank 10/2003; FAZ vom 10.10.2003; Wirtschaftswoche vom 6.11.2003.

5) Angaben zu den US-Konjunkturprogrammen: Financial Times Deutschland vom 9.4.2003; zum US-Fahrzeugbau nach Financial Times Deutschland vom 3.11.2003.

6) Financial Times Deutschland vom 22.9.2003.

7) Süddeutsche Zeitung vom 11.20.2003.

8) Ein bereits 1996 geschaffenes vergleichbares Instituts zum Aufkauf fauler Wohnungsbaudarlehen, die Resolution and Collection Corporation (RCC), geriet im November 2003 selbst in finanzielle Not; die Tokioter Regierung musste mit einem neuen Sonderkredit einspringen. Nikkei Weekly vom 10.11.2003; Financial Times Deutschland vom 10.11.2003 und 7.5.2003.

9) Financial Times Deutschland vom 5.11.2003 und 28.5.2003.

10) Die OPEC beschloss im September, die Förderquote zu senken. Dadurch könnte der Ölpreis, der im November mit 27 US-Dollar je Barrel (Brent Oil) trotz weltweiten Rezessionstendenzen immer noch relativ hoch lag, weiter ansteigen. Nach: Financial Times (London) vom 26.9.2003. Zuvor UBS-Zitat nach: Wirtschaftswoche vom 6.11.2003.

11) Die Ende 2003 existierenden Kfz-Produktionskapazitäten in China ermöglichen die Fertigung von jährlich 2,7 Mio Fahrzeugen; bis 2005 haben die in China agierenden, überwiegend internationalen Autokonzerne Fertigungskapazitäten mit einer Jahresproduktion von 5 Mio Kfz fest eingeplant. 2003 werden, wie erwähnt, maximal 2 Mio Kfz in China verkauft. Nach: Süddeutsche Zeitung und Financial Times Deutschland vom 24.10.2003. Die faulen Kredite werden in China auf umgerechnet mindestens 374 Mrd. Euro (andere Quellen nennen 749 Mrd. Euro) geschätzt. Auch in China wurden – wie in Japan – spezielle, staatlich gestützte Institute zum Aufkauf notleidender Anleihen geschaffen. Im November 2003 begann eine weitere Auktion solcher fauler Kredite, um den Bankensektor zu stabilisieren. Nach: Financial Times vom 22.9.2003. Angaben zuvor zu Japan/Koizumi/Rentenreform: Financial Times Deutschland vom 11.11.2003.

12) Der Bundesverband der Volksbanken und Raiffeisenbanken errechnete, dass sich in der Bundesrepublik Deutschland der Wert der Aktienbestände der privaten Haushalte 2002 gegenüber 2001 um 181 Mrd. Euro verringerte. In: FAZ vom 24.10.2003.

13) Zur Deutschen Bank siehe Financial Times Deutschland vom 22.9.2003; zuvor Grasso-NYSE-Skandal nach: Neue Züricher Zeitung vom 11.9.2003;

14) Angaben zum Immobiliensektor nach: Frankfurter Rundschau vom 24.10.2003 (zu Großbritannien); Financial Times (London) vom 2.7.2003 (zu Spanien); Süddeutsche Zeitung vom 18.6.2003 (zu Freddie Mac); Financial Times Deutschland vom 5.11.2003 (zur britischen Zinserhöhung).

15) In: Financial Times Deutschland vom 26.9.2003.

16) Frankfurter Rundschau vom 24.10.2003.

17) Financial Times Deutschland vom 29.9.2003.

18) In: Financial Times Deutschland vom 7.8.2003. Hinter der Währungsproblematik verbirgt sich auch die innerimperialistische Konkurrenz EU/USA, auf die in diesem Beitrag nicht eingegangen werden kann. Im Fall eines Dollar-Sturzflugs könnten die asiatischen Länder ihre Politik des Dollarkaufs radikal verändern und stattdessen in großem Stil Euro als Währungsreserven anlegen. Seit Einführung des Euro gab die BoJ in Tokio 23.964 Milliarden Yen zum Kauf von Dollar bzw. US-Staatsanleihen aus, jedoch nur 1075 Mrd. Yen für Euro. Nach: Financial Times Deutschland vom 11.11.2003.

19) Zitiert in: Le Monde Diplomatique, April 2003.

20) Karl Marx, Das Kapital, Band III, MEW Band 25, S.250.

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