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Updated: 18.12.2012 15:51
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ver.di auf der Rutsche!

Rückschritte können sinnvoll sein – wenn man vor dem Abgrund steht

Ohne Geld, so heißt es, könne man auch glücklich sein. Aber was macht eine Gewerkschaft ohne Mitglieder? Anlässlich des ver.di-Gewerkschaftstages wirft Anton Kobel einen Blick auf die aktuelle Entwicklung in zwei Kernbereichen: Mitgliederzahlen und Finanzen – keineswegs eine trockene Materie.

Mitgliederverluste ohne Ende? Der ver.di-Geschäftsbericht (2003-2007) weist vom 31. Dezember 2002 bis 31. Dezember 2006 einen Mitgliederrückgang von 2740123 auf 2274731 aus; das sind 465392 (= 16,98 Prozent) weniger! Gegenüber dem Bestand von Ende 2001 (= 2850533) sind dies 20,2 Prozent. Bei der ver.di-Gründung (19.–21. März 2001) waren es noch 2895025 Mitglieder, die die fünf Gründungsgewerkschaften in die neue Organisation einbrachten. Im Einzelnen hatten die DAG 385045, DPG 442459, HBV 434471, IG Medien 174607, ÖTV 1458443 Mitglieder.

15 Monate vorher, am 31. Dezember 1999 waren es insgesamt noch 3083322. Am 19. Juni 1999 empfahlen die fünf Vorsitzenden »die Gründung der mit 3,2 Millionen (!) größten Einzelgewerkschaft der Welt«. Angesichts der Mitgliederzahlen in China war das allerdings etwas übertrieben.

Interessant ist auch die Entwicklung der von der DAG angegebenen Mitgliederzahlen: von 462164 am 31. Dezember 1999 verblieben am 31. März 2001 noch 385045 (= 16,7 Prozent weniger). Ein Schelm, der ... denkt.

1996 – fünf Jahre vor der ver.di-Gründung – waren es zusammen 3429191 und 1991 – nach der Ausdehnung in die DDR – gar 4316909 Mitglieder. Ein Verlust (1991–2006) von insgesamt 2042178 (= 47,3 Prozent) in 15 Jahren.

Diese langjährige Betrachtung, zu der allerdings im Geschäftsbericht 2007 kein Wort zu finden ist, könnte die hoffnungsvolle Aussage im Geschäftsbericht ungewollt bekräftigen: »Insgesamt sind seit Januar 2002 548003 Menschen in ver.di eingetreten und 1092894 aus ver.di ausgetreten. Dies bedeutet, dass auf einen Eintritt rund zwei Austritte kamen. Bei den erwerbstätigen Mitgliedern jedoch kamen auf 525308 Eintritte 650208 Austritte, also auf einen Eintritt rund 1,25 Austritte. Dies ist ein stabilisierender Trend, der durch die Stärkung der gewerkschaftlichen Betriebsarbeit noch ausgebaut werden kann und muss.« (S. 283)

Dramatisch sind die Mitgliederrückgänge in den Fachbereichen Bund/Länder, Gemeinden, Finanzdienstleistungen (= Banken, Versicherungen) und Handel mit 19,1–22,5 Prozent Rückgängen von 2002–2006. In den Gemeinden handelt es sich um die gewerkschaftlichen Hochburgen der ÖTV, im Handel und Banken/Versicherungen um die von HBV und DAG.

Verheerend ist die negative Entwicklung (2001–2006) in Sachsen-Anhalt (– 36,33 Prozent), Thüringen (– 34,3 Prozent), Sachsen (– 33,2 Prozent), Berlin/Brandenburg (– 29,8 Prozent).

Aber auch im Westen stellt sich die Situation in Bezug auf die Mitgliederentwicklung nur geringfügig anders dar: Hessen (– 21,4 Prozent), Rheinland-Pfalz (– 20,4 Prozent), NRW (– 19 Prozent), Saarland (– 18,9 Prozent), Niedersachsen/Bremen (– 16,8 Prozent). Auf den Medaillenrängen der internen »ranking-Listen« finden sich Hamburg (– 12,8 Prozent), Bayern (– 15,6 Prozent) und Baden-Württemberg (– 15,7 Prozent). Angesichts dieser negativen Zahlen ist die im Antrag H 050 (Organizing) der Landesbezirkskonferenz Hamburg geäußerte Prognose bzw. Befürchtung mehr als verständlich: »Insofern steuern wir mit ... einer Abgangsquote von 7,5 bis 8 Prozent auf eine Mitgliederzahl von unter 1,5 Millionen zu – mit allen Folgewirkungen für Beitragseinnahmen, Sach- und Personalbudgets. Diese Zahl zeigt den Ernst der Lage...«.

Einer kritischen Diskussion und »Würdigung« wert sind die im Geschäftsbericht genannten Gründe für diese Mitgliederentwicklung, einschließlich der dargestellten Versuche und Initiativen zur Werbung neuer Mitglieder. Bezeichnend sind hier auch zwei Auffälligkeiten im Geschäftsbericht: Während auf S. 284 im Zusammenhang mit den Organizing-Projekten nachvollziehbar steht: »Wir halten es für erforderlich, den Begriff Organizing möglichst bald organisationsadäquat zu bestimmen... Zudem ist ›Übersetzungsarbeit‹ aus dem Englischen notwendig. Wir denken, dies ist wichtig, um akzeptiert zu werden«, wimmelt es drumherum ohne weitere Erklärungen nur so von »Best Practice«, »innovativem Engagement«, »Community Organizing«, »Evaluation«, »Member-Card«, »Beschwerdemanagement«. Vielleicht hängen die vielen neuen negativen Erfahrungen in ver.di auch damit zusammen. Worthülsen und Sprache als Bluff sind im (gewerkschafts-)politischen Leben zwar üblich, aber wenig erfolgreich, jedenfalls nicht nachhaltig.

Die Zahlen scheinen politisch korrekt: Röter geht’s kaum noch! Jedenfalls keine fünf Jahre mehr, munkeln und befürchten viele, und es werden immer mehr, auf allen Ebenen allerorts.

Ausgewiesen wird von 2002–2006 ein »zentrales Defizit« von insgesamt 143491390 Euro. Wie viel Schminke für diesen expressionistischen Rot-Ton erforderlich war, lässt sich aus dem veröffentlichten Zahlenwerk bestenfalls erahnen, und wie viel zusätzliches Rot aus den »dezentralen« Defiziten« dazukommt, bleibt unerwähnt.

Für den 2002 beschlossenen Personalabbau und entsprechende Sozialplanmittel gibt ver.di die »stolze« Summe von 81650415 Euro aus. Dafür gibt es viel Kritik: Ursprünglich sollten sog. Personalüberhänge und sog. Synergieeffekte für gewerkschaftliche Aktivitäten in bisher gewerkschaftsfreien Zonen bzw. »weißen Flecken« genutzt werden. Jetzt produziert dieser Personalabbau – bisher über 1200 Stellen von 5186 Stellen in 2001 – selbst solche gewerkschaftsfreien Zonen und Betriebe. Deutlichstes Beispiel ist der Rückgang von Mitgliedern und Kampfkraft im Handel.

Besonderes Unverständnis und derbe Kommentare ruft folgende Form des Personalabbaus bzw. der Personalkostenreduzierung hervor: Hauptamtliche, die ihre Arbeitszeit von 100 Prozent befristet auf 50 Prozent absenken, erhalten während dieser Zeit 80 Prozent (!) ihres Gehaltes weiter. Wie groß muss die Not sein, die solches gebiert. Und das in einer Gewerkschaft, deren Büros und Hauptamtliche sowie Aktive in den Betrieben und Verwaltungen tagtäglich von den vielfältigen Problemen und Folgen der neoliberalen Umgestaltung der bundesdeutschen Gesellschaft für die arbeitenden und arbeitslosen Menschen überschwemmt werden.

Großräumig umschifft der Geschäftsbericht (S. 237ff.) die Schließung von bislang 6 der 17 Bildungsstätten, die ver.di zum Zeitpunkt der Fusion ›geerbt‹ hatte. Für weitere zwei ver.di-Bildungszentren laufen immer noch so genannte »Prüfaufträge«, und in der Organisation wird diskutiert, ob ver.di zwar Bildungsarbeit, aber keine eigene Bildungsinfrastruktur mehr brauche. Auch die Kritik an dieser Entwicklung ist heftig: »Für vieles haben sie Geld, z.B. Papier- und Prospektfluten, Broschüren, Vorstandsgehälter, und für unsere Schulen reicht es nicht!«, so der Tenor unter KollegInnen. In Zeiten der täglichen neoliberalen Indoktrinierung der – auch potentiellen – Mitglieder und Aktiven werden Gewerkschaftsschulen geschlossen, andererseits wurden für die neue Berliner ver.di-Zentrale am Potsdamer Platz (»in Augenhöhe und Sichtweite mit dem Bundeskanzleramt«) jährlich 16,5 Millionen DM/8,3 Millionen Euro ausgegeben. Ausreichend finanzielle Mittel waren und sind noch immer da für die 2001 erfolgte bis zu 60-prozentige Erhöhung der Gehälter für 84 »Spitzenfunktionäre«.

Ob diese finanziellen ver.di-Interna auf dem Bundeskongress Ende September 2007 öffentlich eine Rolle spielen oder ob es beim Gegrummel und Geschimpfe, verbunden mit Frustration und Resignation bis hin zur inneren Kündigung vor Ort bleibt, gilt es abzuwarten. Vielleicht setzen gar die hauptamtlichen Bundesvorstandsmitglieder angesichts der katastrophalen Entwicklung bei Mitgliedern und Finanzen bei ihren Gehältern von sich aus ein Zeichen? Den Abgrund vor Augen kann selbst ein Zurückgehen noch als »Führungsstärke« erscheinen.

Anton Kobel

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/07


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