»Das klingt nach FDP«
Diskussions- und Streitpapier zur Tarifreform im Einzelhandel
Bis Ende des Jahres soll im Einzelhandel ein neues Entgeltsystem verabschiedet werden, mit dem u.a. Tarifverträge für Unternehmen wieder attraktiv gemacht und neue Anforderungen der Arbeitswelt abgebildet werden sollen. (S. auch express 1, 3, 5/2012) Neben der grundsätzlichen Frage, ob solche tarifpolitischen Reformen, wenn sie substanzielle Verbesserungen für die Beschäftigten bringen sollen, gerade in Zeiten einer relativen Schwäche durchgesetzt werden können (hier wäre auch auf entsprechende Erfahrungen in der Chemieindustrie und mit dem Entgeltrahmenabkommen ERA in der Metallindustrie zu verweisen), nehmen die bislang vorliegenden Beiträge aus Baden-Württemberg, Südhessen und nun auch Rheinland-Pfalz vor allem interne Konstruktionsprobleme des geplanten Tarifwerks unter die Lupe. Mit dem im Folgenden dokumentierten und leicht gekürzten »Diskussions- und Streitpapier«, das am 17. April von der Tarifkommission, dem Landesfachgruppenvorstand und den bezirklichen Fachgruppenvorständen für den Einzelhandel in Rheinland-Pfalz beschlossen wurde, setzen wir die Diskussion über die geplante Reform fort.
Im Rahmen einer gemeinsamen Tagung des Landesfachgruppenvorstandes, der Tarifkommission und der bezirklichen Fachgruppenvorstände für den Einzelhandel Rheinland-Pfalz haben wir uns am 17. April 2012 mit dem aktuellen Stand im Projekt »Neue Entgeltstrukturen« befasst. Der Beratung und Diskussion sind vorausgegangen eine jeweils ausführliche Darstellung und Präsentation in der Tarifkommission und in den bezirklichen Fachgruppenvorständen Koblenz/Trier und Rhein-Nahe-Hunsrück. Auf Grundlage des »Diskussions- und Streitpapiers zur geplanten Entgeltstruktur im Einzelhandel« unserer bezirklichen Fachgruppenvorstände Koblenz und Trier wurde das vorliegende Papier beschlossen. Mit diesem Papier wollen wir eine breite Diskussion ermöglichen.
Einerseits wollen wir denjenigen, die sich bisher noch nicht mit der Thematik beschäftigen konnten, eine Grundlage zur Diskussion anbieten. Andererseits wollen wir all denjenigen, die sich bereits mit den vorliegenden Papieren beschäftigt haben, eine Grundlage für eine notwendige weitere intensive Diskussion ermöglichen. So soll diese Diskussion in den unterschiedlichen Gremien ausdrücklich dazu dienen, dieses Papier fortzuentwickeln.
Bei der Behandlung des Themas haben wir uns mit den Argumenten für eine neue Entgeltstruktur im Einzelhandel in den genannten Papieren [1] auseinandergesetzt. Wir sind folgendermaßen vorgegangen:
- Welche Verständnisfragen haben wir noch?
- Können wir die Argumente für eine neue Entgeltstruktur teilen?
- Kann die neue Entgeltstruktur (Tätigkeitsanforderungen, analytisches System) die angesprochenen Probleme des bisherigen Lohn- und Gehaltstarifvertrags lösen?
- Welche Probleme sehen wir darüber hinaus mit der neuen Entgeltstruktur (im Folgenden EST)
Die bekannten und genannten Argumente für ein neues Tarifsystem, wie sie in den uns vorliegenden Informationen genannt werden
- In den bestehenden Tarifverträgen sind Diskriminierungselemente enthalten (Überbetonung im Bereich der Gewerblichen (»alleinverdienendes Familienoberhaupt«), (vermutete) mittelbare Geschlechterdiskriminierung, Berufsjahrstaffel). Im neuen Entgeltsystem soll es deshalb keine Altersdifferenzierung geben. [2]
Die hier genannten Diskriminierungselemente sind für uns dahingehend nicht nachvollziehbar, weshalb diese nur mit einem analytischen Verfahren gelöst werden können. Die neue Entgeltstruktur bildet nicht ab, wie eine Gleichstellung / Differenzierung ohne Benachteiligung geschehen soll. Die heutige Berufsjahrstaffel ist nicht diskriminierend, da sie nicht altersgebunden ist.
Wir meinen, Erfahrungen, die nichts mit dem Lebensalter zu tun haben, sollten auch weiter eine bessere Entlohnung rechtfertigen. Die neue EST sieht keine Honorierung von Berufserfahrung (Routine/Erfahrungs-werte) vor, während durch die heutigen Berufsjahresstaffeln und Tätigkeitsjahressprünge soziale und fachliche Kompetenz Berücksichtigung findet. Berufserfahrung und insbesondere eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung müssen weiterhin honoriert werden.
- In den derzeitigen TV finden wesentliche Anforderungen wie z.B. soziale Kompetenz keine Berücksichtigung [3]
Wir fragen uns, wie gerecht kann soziale Kompetenz von wem bewertet werden?
Problem »Soziale Kompetenz«: Teamfähigkeit kann fast keiner haben, wenn er oder sie allein im Betrieb/Abteilung ist.
- In zahlreichen Vertriebsformen des Einzelhandels sind zur Zeit Tätigkeiten nicht oder nur schwer den Tarifgruppen zuzuordnen und das Tarifsystem wird den Anforderungen im modernen Arbeitsleben nicht gerecht. [4]
Wir meinen, jeder Tarifvertrag muss regelmäßig an die neuen und veränderten Realitäten angepasst werden. Auch die derzeitigen Tarifverträge lassen dies zu. Dazu bedarf es keines analytischen Verfahrens. Zudem dürften auch die »Denkanker«, welche zur Zeit erstellt wurden, in einigen Jahren nicht mehr die Realitäten abbilden.
- Mit einem neuen Entgeltsystem erreichen wir Entgeltgerechtigkeit durch klaren Anforderungsbezug. [5]
Da der Anforderungsbezug allein von den Arbeitgebern bestimmt wird, besteht die Gefahr, dass nicht die tatsächlichen Tätigkeiten entlohnt werden, sondern nur die geforderten Tätigkeiten (Tätigkeitsbeschreibungen entsprechen nicht den tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten).
Außerdem kann es dazu kommen, dass ein/e 16-Jährige/r ohne Ausbildung so viel verdient wie eine Ausgebildete, die schon mehrere Jahre im Handel tätig ist. Dies führt unweigerlich zur Abwertung einer qualifizierten Ausbildung bzw. eine Ausbildung ist nichts mehr wert. Dies ist eine absolute Abkehr von unserer bisherigen Argumentation, Ausbildung muss sich lohnen, weswegen heute bei bestandener Ausbildung besser entlohnt wird als ohne Ausbildung.
- Die Mehrzahl der Unternehmen distanziert sich vom heutigen Flächentarif. [6]
Wir meinen, es ist keine Verbindlichkeit zu erkennen, warum sich die Arbeitgeber mit dem neuen Entgeltsystem wieder langfristig tariftreu verhalten sollten. Wir erkennen keine Gründe, warum sich dies mit dem neuen Entgelttarif ändern sollte.
Woher nehmen die Autoren der EST die Hoffnung, dass mit EST Arbeitgeber zukünftig mit Tarifbindung in den Arbeitgeber-Verband eintreten? Es gibt keinerlei verbindliche Zusagen der Unternehmen zu einer bedingungslosen langfristigen Tarifbindung bei Abschluss einer EST. Wo ist der tarifpolitische Nutzen, wenn auch nach Einführung von EST nur noch wenige Unternehmen tarifgebunden sind?
- Die Trennung von Arbeiter und Angestellten muss aufgehoben werden. Im neuen Tarifsystem gibt es keine Differenzierung zwischen kaufmännisch und gewerblichen Arbeitnehmern. [7]
Wir meinen, dass dies auch in den heutigen Strukturen mit den derzeitigen TV möglich und umsetzbar ist. Dazu bedarf es keines analytischen Verfahrens. Die bisherigen Lohngruppen können mit den Gehaltsgruppen relativ problemlos in neue Entgeltgruppen analog der bisherigen Gehaltsgruppenstruktur überführt werden.
- Die Tarifbindung schwindet, und mit einem neuen Entgeltsystem erreichen wir den Ausbau der Tarifbindung durch ein attraktives, einfaches und nachvollziehbares Entgeltsystem. [8]
Wir meinen, dies klingt nach FDP (wir wollen ein einfaches gerechtes und besseres Steuersystem). Wir fragen uns: was ist das Attraktive? Wo ist das Einfache? Wo ist das Nachvollziehbare?
- Tarifverträge genügen nicht mehr gesetzlichen Bestimmungen und/oder der Rechtsprechung (z.B. Diskriminierungselemente). [9]
Wir meinen, es ist die Aufgabe der Tarifpartner, die jeweiligen TV regelmäßig an die Aktualitäten anzupassen, so wie 2011 bezüglich der Urlaubsstaffel und den Abschlägen für Jugendliche auch tatsächlich in den Tarifabschlüssen umgesetzt.
- Mit einem neuem Entgeltsystem halten wir Schritt mit dem Strukturwandel unserer Branche. [10]
Wir meinen, durch die Wiederholung nichtssagender Phrasen wie dieser, lässt sich ein neues Entgeltsystem nicht begründet erklären.
- Mit einem neuem Entgeltsystem stärken wir die Zukunftsfähigkeit des Einzelhandels. [11]
Dies ist ein Argument, welches schön klingt, aber für uns nicht nachvollziehbar ist.
Wir meinen, nicht weil ein System neu ist, begründet dies gleich auch die Zukunftsfähigkeit, denn dies schafft das bisherige System auch.
- Mit dem neuem Entgeltsystem steigern wir die Attraktivität der Branche für Nachwuchskräfte / Steigerung der Motivation von Mitarbeitern und Teams. [12]
Wir fragen uns, wodurch soll eine Steigerung der Motivation erreicht werden? Besteht die neue Attraktivität für den EH darin, dass man hier ohne Ausbildung »gut« verdienen kann?
- Mit dem neuen Entgeltsystem werden die Tarifverträge sicherer in der Anwendung. [13]
Wir meinen, dies gilt ausdrücklich nur für die Arbeitgeberseite. Denn über die Anforderungen an eine Stelle, entscheidet der Arbeitgeber kraft Direktionsrecht einseitig.
Weitere Praxisprobleme:
1. Einstufungsverfahren neues Entgeltsystem
Grundlage für die Einstufung ist eine Tätigkeitsbeschreibung.
Situation: Mitglied ruft bei ver.di an und fragt nach dem Tarifgehalt für seine zukünftige Tätigkeit. Das Mitglied hat weder eine detaillierte noch irgendeine Tätigkeitsbeschreibung, da sie sich auf die Stelle »Wir suchen Verstärkung unseres Verkaufsteams im Markt »XY-Ungelöst« beworben hat!
Der Wunsch nach Tätigkeitsbeschreibung ist wahrscheinlich so alt wie die Gewerkschaftsgeschichte (nicht die von ver.di, Anmerkung der Verfasserin); aus welchem Grund soll es sie auf einmal in allen Einzelhandelsläden (und damit sind auch die Klein- und mittelständischen Einzelhandelsbetriebe gemeint) geben, nur weil es einen Tarifvertrag gibt, der dies zur Grundlage macht?
Klar dürfte doch auch sein, dass es in Betrieben ohne BR keinerlei Korrekturmöglichkeit bzgl. der vom Arbeitgeber aufgestellten Tätigkeitsbeschreibung, sofern er sich diese Arbeit überhaupt macht, gibt. Aber auch in Betrieben mit BR kann es auch zukünftig eine »falsche« Bezahlung geben. (...) Hier verweisen wir auf die Beschreibung der Situation der betrieblichen Interessenvertretung: [14]
Die Mehrheit der Einzelhandelsbeschäftigten arbeitet in Betrieben, die keinen Betriebsrat haben, der die Umsetzung und Einhaltung von Tarifverträgen kontrollieren könnte (vgl. Jacobsen/Hilf 2000). Dass viele Betriebe gar keinen Betriebsrat haben, überrascht angesichts des hohen Anteils der Klein- und Kleinstbetriebe nicht. Aber auch in größeren Unternehmen haben sich die Arbeitsbedingungen der Betriebsräte durch die Aufspaltung ehemals vertikal integrierter Unternehmen und die Auslagerung von Funktionsbereichen drastisch verschlechtert (Wirth o.J.), ganz abgesehen davon, dass einige Unternehmen, vornehmlich solche aus dem Discountbereich, gezielt Betriebsratsgründungen und die Betriebsratsarbeit ver- und behindern.
Selbst wenn AG und BR sich auf bestimmte Tätigkeitsbeschreibungen ihres Betriebes verständigt haben, geht das Gerangel doch wieder von vorne los, wenn der Arbeitgeber ein halbes Jahr später ankommt und mitteilt, dass er nunmehr die Anforderungen an die einzelnen Beschäftigten im Betrieb neu organisieren will.
AG werden möglichst schlanke Tätigkeitsbeschreibungen bei Einstellungen zugrunde legen. Wenn die Kollegin dann eine Kundin berät, dann wurde dies nicht von ihr in der Tätigkeitsbeschreibung verlangt. Da sie dies freiwillig tat, kann sie jetzt nicht mehr Gehalt fordern, AG Antwort: »Ich wollte sie nur für’s Verräumen!«
Wie soll eine Neueinsteigerin wissen, was sie verdient? Es ist schwer vorstellbar, dass bei einer Stellenausschreibung die genaue Tätigkeitsbeschreibung vorliegt, v.a. bei Betrieben ohne BR.
Wer erstellt das Tätigkeitsprofil, wer gruppiert wie ein? Was passiert in Betrieben ohne BR? Die Gefahr, in Niedriglohnsektor abgeschoben zu werden, ist groß, da die offizielle Tätigkeitsbeschreibung und tatsächliche Ausübung weit auseinander liegen.
KollegInnen übernehmen immer mehr Aufgaben, in der Hoffnung, mehr Punkte zu erreichen. Wenn sie dann eine höhere Entlohnung fordern, verweist der AG sie auf die geforderte Tätigkeitsbeschreibung: »Ich wollte nie, dass sie darüber hinaus noch etwas machen sollten!«
Eine Gerichtsverfahrensflut wird befürchtet, wenn sich bei Eingruppierung nicht geeinigt wird. Das angedachte neue System ist eher komplizierter als einfacher. Unübersichtlicher scheint es ebenfalls. Viel Zeitaufwand wird für Eingruppierungsprozedere erwartet, vor allem auch im Laufe der Zeit, wenn das Tätigkeitsprofil geändert wird. Es besteht die Gefahr, dass jedes Jahr ein neues Tätigkeitsprofil erstellt und damit neu eingruppiert wird, z.B. anlässlich von Beurteilungsgesprächen. Wer schlichtet bei Bewertungsdifferenzen zwischen BR und AG?
2. Sonstige Fragen und Praxisprobleme
- Gefahr, dass noch mehr ausgelagert wird, da analytisches System zeigt, wo Tätigkeiten ausgelagert werden können.
- Sofern ein Besitzstand (statisch oder dynamisch) am Ende vereinbart wird, hat dies unweigerlich Auswirkungen auf die Streikmotivation. Wir machen es uns damit noch schwerer. Neues Motto: »Dank ver.di weißt du auch in zehn Jahren, wie viel du verdienst, denn es wird sich lange nichts ändern, wegen der Besitz-standsregel (wenn es sie denn geben wird).
- Gefahr, dass Mitglieder austreten, da sie u.U. nur noch Besitzstand haben, und die, die mehr davon hätten, werden deshalb nicht in ver.di eintreten. Wir sollten uns fragen, wo unsere Mitglieder hauptsächlich tätig sind. Wir befürchten, die Frischeabteilungen bekommen maximal alte G II – und alle anderen? Durch die bisher vorliegenden Denkanker ist eindeutig erkennbar, dass KassiererInnen und VerkäuferInnen in SB Märkten deutlich weniger verdienen werden als bisher (keine Beratung, da hauptsächlich körperliche Tätigkeit). Aber genau hier haben wir als ver.di unsere meisten Mitglieder, also eigentlich die Verpflichtung, für unser »Klientel« etwas Besseres abzuschließen.
- Könnte dies auch Konsequenzen für die Bezahlung der BR haben, insbesondere bei Freigestellten?
- Was ist mit Behinderten im neuen System, da die Anforderungen von Ihnen nicht immer erfüllt werden können?
- Was wird mit der Ausbildung im EH?
- Die Punktebewertung kann nicht beeinflusst werden, sie wird vom Vorgesetzten bestimmt, es gibt keine tatsächliche Mitbestimmung, insbesondere in Betrieben ohne Betriebsrat.
Fazit
Die Argumente gegen den bestehenden TV sind bestimmt in einigen Punkten überholungsbedürftig, aber die Vorschläge und Ausarbeitungen des neuen TV-Systems sind in keiner Weise ein Vorteil für die Arbeitnehmer und deshalb nicht akzeptabel.
Eine Streichung von weggefallenen Tätigkeiten/Berufen und ein Hinzufügen von neuen Berufs-/Tätigkeitsbe-zeichnungen ist jederzeit in den bisherigen Strukturen möglich.
Es müssten neue Begriffe berücksichtigt werden, aber ansonsten ist der alte TV o.k.
Gefahr von Dumpinglöhnen, da die Arbeitgeber die Tätigkeitsbeschreibungen machen.
Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/12
Express im Netz unter: www.express-afp.info , www.labournet.de/express
1) Gemeint: »Mit neuer Entgeltstruktur gestärkt in die Zukunft« sowie »Innovative Tarifpolitik FIT/ver.di Entgeltstrukturen sowie Denkanker«
2) »Mit neuer Entgeltstruktur gestärkt in die Zukunft«, S. 2, »Innovative Tarifpolitik FIT/ver.di Entgeltstrukturen«, S. 11
3) »Mit neuer Entgeltstruktur gestärkt in die Zukunft«, S. 2
4) Ebd., S. 2
5) Ebd., S. 5
6) Ebd., S. 3
7) Ebd., S. 3
8) Ebd., S. 3 und 5
9) Ebd., S. 3
10) Ebd., S. 4
11) Ebd., S. 4
12) Ebd., S. 4
13) Ebd., S. 4
14) »Ist der Flächentarifvertrag für den Einzelhandel noch zu retten?«, S. 15
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