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Updated: 18.12.2012 15:51
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Auch ohne Programm: Debatten

Hugo Claus zum ver.di-Bundeskongress in Leipzig

In der Zeit vom 29. September bis 6. Oktober 2007 wird der zweite ver.di-Bundeskongress in Leipzig stattfinden. Er steht unter dem Motto: »Gerechtigkeit, Würde, Solidarität«. Hugo Claus hat sich für uns verschiedene Themenbereiche aus den rund 1600 Anträgen genauer angesehen und gibt einen ersten Überblick, um was es geht.

Ein zentrales Thema auf dem Gewerkschaftstag wird der Umgang mit den Entwürfen für ein ver.di-Grundsatzprogramm sein. Nach zwei Jahren Programmdebatte hat sich nämlich zum einen gezeigt, dass dieses Thema immer noch nicht wirklich in der Organisation »angekommen« ist, und zum anderen, dass in der Sache noch erheblicher Klärungsbedarf besteht, weil die Positionen verschiedener Strömungen und Fachbereiche zu berücksichtigen sind.

Der Gewerkschaftsrat hat daher einen Antrag »Programmdebatte vertiefen und beim Bundeskongress 2011 zum Abschluss bringen« (P 001) gestellt. »So soll gewährleistet werden, dass tatsächlich alle Ebenen, Personengruppen, Fachbereiche und Gremien die Debatte vertiefen und ihre Positionen ausformulieren können. Ob die Programmdebatte verlängert wird, entscheidet der Bundeskongress 2007.« (Vgl. ver.di News, 13/2007)

In dem entsprechenden Antrag des Gewerkschaftsrates heißt es u.a., der Kongress möge den Vorständen und Gliederungen konkrete Aufträge erteilen, zum Beispiel:

  • »Der Bundesvorstand soll alle Dokumente für die weitere Debatte in Form eines Readers und im Internet zur Verfügung stellen.
  • Alle bezirklichen Gremien sollen sich bis Ende 2008 mit den vorliegenden Positionen und Alternativen beschäftigen - unter Einbeziehung möglichst vieler Mitglieder.
  • Bis Ende 2009 sollen die Landesbezirke und Fachbereiche Diskussionsangebote zum Programm machen.
  • Die Fachbereiche sollen ebenfalls bis Ende 2009 ihre Positionen und Forderungen an das Programm formulieren und dokumentieren.
  • Die Bildungsstätten sollen ihre bisherigen Aktivitäten zum Programm (Dokumentation des Diskussionsstandes, Angebote zur Information, zum Austausch und zur Diskussion) verbreitern und die Fachbereiche und Ebenen bei ihren Vorhaben unterstützen.
  • Die Bundesebene soll alle Diskussionsbeiträge von Ebenen und Gremien zeitnah in einer Internetplattform dokumentieren, jährlich eine übergreifende bundesweite Konferenz zur Vernetzung der Programmdiskussion veranstalten und dokumentieren, Arbeitskreise zur themenstrangbezogenen Konkretisierung und Abstimmung zwischen Fachbereichen und Ebenen anbieten und bis zum Beginn der Vorkonferenzen des nächsten Bundeskongresses aus den Positionierungen und Rückmeldungen der Landesbezirke einen konsensfähigen Entwurf entwickeln.«

Abgesehen von der Frage, welche Bedeutung solche Programme für die gewerkschaftspolitische Praxis überhaupt haben, scheint diese beabsichtigte Vertagung für die künftige Entwicklung von ver.di eher zweitrangig zu sein. Auch ohne Grundsatzprogramm wird ver.di in der Öffentlichkeit als gesellschaftspolitischer Faktor wahrgenommen. Und die Delegierten auf dem Gewerkschaftskongress werden auch ohne Programm über wichtige gesellschafts- und organisationspolitische Fragen streiten.

Die Antragslage

Bei einer ersten Durchsicht der Anträge fällt zunächst das große Themenspektrum auf. Daher kann es hier nur einen groben Überblick mit einigen Beispiele geben:

Unter den Anträgen zur Gewerkschafts- und Gesellschaftspolitik finden sich nicht nur allgemeine Entschließungen zur »Zukunft von ver.di« oder zum Thema »Soziale Rahmenbedingungen durchsetzen - Sozialstaat retten«, sondern auch konkretere Anträge zum »Kritischen Umgang mit der Bertelsmann-Stiftung«, zum Thema »ver.di-Kampagne für Menschenwürde im Job beim Discounter Lidl fortführen«, zur Verteidigung demokratischer Grundrechte, zur Förderalismusreform, zum »Politischen Streik« oder zum Kampf gegen Rechtsextremismus. Außerdem wird gefordert, die Medienpräsenz von ver.di zu verbessern und das Konzept der Mitgliederzeitung »ver.di publik« zu verändern.

Im Mittelpunkt des Antragsschwerpunktes Beschäftigung und Arbeitsmarktpolitik steht die Beschäftigungssicherung. So wird z.B. im Antrag B 004 gefordert, die Sicherung der Beschäftigung im privaten und öffentlichen Dienstleistungsbereich in den Mittelpunkt zu stellen und dabei die Schwerpunkte Gesundheitsschutz, Aus- und Weiterbildung sowie kollektive und individuelle Arbeitszeitverkürzung zu setzen. Weitere Antragsblöcke gibt es zu den »Arbeitsgelegenheiten« gem. § 16,3 SGB II (»1-Euro-Jobs«), zum Regelsatz beim Arbeitslosengeld II, zur »Grundsicherung« und zum Mindestlohn.

Bei der Sozial- und Gesundheitspolitik steht die Alterssicherung mit mehr als 30 Anträgen im Vordergrund, einschließlich der Forderung, das Rentenalter nicht anzuheben (Antrag C 004). Interessant ist der Antrag Q 005, der am Beispiel der Sparkassen betriebliche Mitbestimmung bzw. neue Mitbestimmungsstrukturen in gemischten Konzernen (öffentlich-rechtlich und privat-rechtlich) fordert. Dies verweist auf eine grundlegende Herausforderung für die »Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft« durch veränderte Unternehmens- und Branchenstrukturen.

In der Tarifpolitik nehmen (z.T. kontroverse) Anträge zur Arbeitszeitpolitik bzw. Arbeitszeitverkürzung, zur Tarifpolitik im öffentlichen Dienst (z.B.: R 074 - Nachbesserung TVÖD; R 075 - Tarifstrategie oder R 124 - Organisatorische Voraussetzungen für die Handhabung des TVÖD und des TV-L schaffen) und zum Mindestlohn den meisten Raum ein.

Beim Antragsschwerpunkt Politik des Öffentlichen Dienstes lautet der Leitantrag E 001 des Gewerkschaftsrats »Aufgaben der Daseinsvorsorge müssen in öffentlicher Verantwortung bleiben!« Das klingt gut. Auch den kritischen Ausführungen zu »Öffentlich-privaten Partnerschaften« (ÖPP bzw. auf englisch: PPP) als einer verbreiteten Spielart der Privatisierung ist zuzustimmen.

Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass

Symptomatisch auch für andere Politikfelder ist allerdings auch an diesem Beispiel, welche Schlussfolgerungen aus einer kritischen Bewertung gezogen werden. Sollen ÖPP-Projekte abgelehnt werden (vgl. Anträge E 012ff.) oder nicht? Im Antrag 001 des Gewerkschaftsrats wird lediglich die politische Präferenz für ÖPP-Projekte kritisiert. Die Schlussfolgerung lautet dort: »Bei Entscheidungen über die Art der Erledigung öffentlicher Aufgaben sind stets Kriterien anzulegen, die den besonderen Charakteristika und Funktionen sowie der Bedeutung öffentlicher Dienstleistungen und Einrichtungen in einer demokratischen und sozialstaatlichen Gesellschaft, die ihren Bürgerinnen und Bürgern vor allem Teilhabe und Chancengerechtigkeit geben soll, entsprechen. (...) ver.di wird auf allen Entscheidungsebenen ... der faktischen oder gesetzlichen Privilegierung von Privatisierung oder Teilprivatisierung (ÖPP/PPP) ebenso entgegen treten, wie Versuchen neue Subventionstatbestände und Steuererleichterungen für so genannte ÖPP zu schaffen.«

Klare Positionsbestimmungen sehen anders aus. Insofern ist damit zu rechnen, dass solche konkreten Widersprüche die programmatische und die praktische Diskussion in ver.di prägen werden - auch nach dem Gewerkschaftskongress.

Vom Nebeneinander zum Miteinander?

Angesichts der rückläufigen Mitglieder- und Beitragsentwicklung werden bei der Antragsbefassung »Orientierungen zur Organisationspolitik« (H 001) sowie die Themenblöcke »Finanzen - Leistungen - Beitragsregelungen« (76 Anträge) und »Personal« (45 Anträge) eine wesentliche Rolle spielen. Die komplexe organisatorische Gemengelage lässt sich dabei beispielhaft an der Zusammensetzung des Bundesvorstands verdeutlichen. In § 42 der ver.di-Satzung heißt es unter der Ziffer 4: »Der Bundesvorstand besteht aus dem/der Vorsitzenden, den Leiter/innen der Fachbereiche und bis zu fünf weiteren Mitgliedern, deren Zahl vom Bundeskongress auf Vorschlag des Gewerkschaftsrats bestimmt wird.« Bei 13 Fachbereichen ergeben sich daraus bis zu 19 Mitglieder des Bundesvorstands. Der ver.di-Kongress 2003 hatte die Reduzierung der Bundesvorstandsmitglieder auf elf beschlossen.

In der Zwischenzeit gab es jedoch keine Zusammenlegung von Fachbereichen. Lediglich die Fachbereiche Bund/Länder und Gemeinden haben ein gemeinsames Vorstandsmitglied nominiert. Gleichzeitig gilt, dass in den Gremien »Frauen mindestens entsprechend ihrem Anteil an der jeweils repräsentierten Mitgliedschaft vertreten sein müssen« (§ 20 der ver.di-Satzung). Diese Vorgabe haben die Fachbereiche nicht erfüllt, da sie überproportional männliche Kollegen zu Bundesfachbereichsleitern gewählt haben. Daher wird es nicht 13 Bundesvorstandsmitglieder geben müssen, sondern 14, um die »Quote« zu erfüllen.

Angesichts knapper Kassen erscheint das widersinnig. Dieses Beispiel ist ein Indiz für das Nebeneinander in der Matrixorganisation ver.di. Zwischen der Autonomie der Fachbereiche und der Gesamtverantwortung auf den jeweiligen Ebenen klafft eine Lücke. Das zeigt sich auch an der so genannten Budgetierungsrichtlinie: Der »Ebene« und den Fachbereichen werden zwar nach einem komplizierten Schlüssel jeweils eigene finanzielle Mittel zugewiesen. Doch dieses Instrument wird immer Gegenstand von internen Konflikten sein, solange es nicht gelingt, von einem Nebeneinander zu einem solidarischen Miteinander in ver.di zu kommen. Das scheint nach wie vor die zentrale organisationspolitische Herausforderung der »Vereinten Dienstleitungsgewerkschaft« zu sein.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/07


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