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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Chance 2011 statt Agenda 2010? Mitgliederorientierung als Maßstab des Organisationshandelns? Anmerkungen zum Diskussionspapier des ver.di-Bundesvorstands Organisationsentwicklung, Mitgliedergewinnung und -betreuung, Organizing und Campaigning sind zentrale Themen zweier Papiere, die die IGM und ver.di vorgelegt haben, um der Stärkung bzw. Wiedergewinnung gewerkschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit der jeweiligen Gewerkschaft einen programmatischen ›Unterbau‹ zu verschaffen. Mit den bisherigen Erfahrungen zu diesen Ansätzen, dem Warum und Wozu neuer Strategien zur »Mitgliederorientierung« werden wir uns in Vorbereitung auf die öffentliche Redaktionskonferenz des express zum Thema »Organisationsentwicklung« am 17. Januar 2009 in Berlin (eine ausführliche Ankündigung folgt im nächsten express) in den folgenden Ausgaben noch intensiver beschäftigen. Das im Mai vom ver.di-Bundesvorstand verabschiedete Diskussionspapier »Chance 2011 – Mitgliederorientierung bestimmt das Organisationshandeln«, zunächst unter dem Titel »Chance 2010« angekündigt, ist auch vor dem Hintergrund der bislang ausgesetzten Programmdebatte in ver.di zu sehen. Auch dies erklärt, warum dem Strategiepapier derzeit eine erhöhte Aufmerksamkeit zukommt. Während in einem Kommentar des Landesfachbereichs Postdienste, Spedition und Logistik von ver.di Nord vor allem die Tendenz zur Abschaffung der Matrixorganisation durch eine Zentralisierung der Kompetenzen in der »Ebene« gegenüber einer Stärkung der Fachbereiche kritisiert werden, beschäftigt sich der Landesbezirk Baden-Württemberg mit der fehlenden Einbettung der Organisationsreform in eine gesellschafts- und wirtschaftspolitische Analyse. Wir dokumentieren: Thema und Einordnung: Wenig Neues Das o.g. Papier war Schwerpunktthema der 6. LBV-Sitzung am 24. April 2008. Nach engagierter Diskussion wurde eine Arbeitsgruppe beauftragt, die Kritik zu konkretisieren und in einer ersten Stellungnahme in die Diskussion auf den Frühjahrstagungen Ende Mai einzubringen. Anlass von »Chance 2010« war, den Antrag H1 des letzten Bundeskongresses, der im Wesentlichen Hypothesen und Prüfaufträge enthielt, zu konkretisieren. Mit dieser Maßgabe wurde er auf dem Kongress ohne nennenswerte Diskussion verabschiedet. Der LBV kritisiert, dass der Konkretionsgrad von »Chance 2010« gegenüber dem Beschluss H1 kaum zugenommen hat. Form und Sprache: Ungeeignet für demokratische Diskussion Das Papier bewegt sich inhaltlich und sprachlich in der Welt der modernen Management- und Personalführungstheorien. Diese ist zum einen mit ihrem Wortschatz weit weg von der gewerkschaftlichen und betrieblichen Umgangssprache, und zum anderen ist es die Sprache, in der den KollegInnen die ArbeitgeberInneninteressen gegenübertreten. Das täglich’ Brot gewerkschaftlicher Interessenvertretungen ist, sich den in derartigen Verklausulierungen versteckten Zumutungen zur Wehr zu setzen. So verfasste, dann auch noch 16 Seiten lange Texte sind, ganz unabhängig von ihrem Inhalt, ungeeignet, einen tiefgreifenden demokratischen Diskussionsprozess einzuleiten. Sie erwecken eher den Eindruck einer Regieanweisung für Führungshandeln. Ansatz: Ausblendung des politisch-ökonomischen Umfelds von Gewerkschaft Im Anschreiben zu »Chance 2010« wird der Anspruch des Papiers formuliert, Antworten auf die »Perspektive für die weitere Entwicklung von ver.di« zu geben. Es soll insoweit eine »Richtschnur« bieten. Diesem hohen Anspruch kann ein Papier von vornherein nicht genügen, das sich in keinem Satz mit dem Umfeld und den Herausforderungen beschäftigt, auf die eine Gewerkschaft reagieren muss, innerhalb derer sie die Interessen der ArbeitnehmerInnen durchsetzen soll. Dieser Mangel ist umso dramatischer, als sich dieses Umfeld, der Kapitalismus und das staatliche Handeln, mit dem wir uns heutzutage auseinandersetzen müssen, fundamental von den Verhältnissen unterscheidet, die die derzeitigen Organisationsstrukturen und politischen Strategien von ver.di und allen anderen Gewerkschaften geprägt haben. Das zunehmend global und dereguliert handelnde Kapital hat ganz neue erpresserische Handlungsoptionen, die uns in die Defensive gedrängt haben. Es gelingt ihm auch mehr denn je, staatliches Handeln bis auf die kommunale Ebene herunter seinen Interessen dienstbar zu machen, Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken, den Sozialstaat zu demontieren und in großem Stil und fast unabhängig von politischen Mehrheiten Umverteilungspolitik von unten nach oben zu betreiben. Ein Papier, das den Anspruch erhebt, gewerkschaftliche Perspektiven zu entwickeln, kommt nicht umhin, sich auf diese neuen Szenarien einzulassen und daraus Veränderungsnotwendigkeiten zu entwickeln, zu analysieren, mit welchen gewerkschaftlichen und tarifpolitischen Strukturen dem gegenzuhalten ist, wie die gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit unter den Bedingungen eines (global) entfesselten Kapitalismus wiederherstellbar wäre, wie und mit wem politische Forderungen nach Verteilungsgerechtigkeit und sozialer Sicherheit durchsetzbar sind. Nur als Ableitung aus einer solchen Diskussion und gemeinsamen Analyse lässt sich eine »Richtschnur« für die organisatorische Weiterentwicklung der Organisation gewinnen. Schon die sog. Programmdebatte vor dem letzten Bundeskongress ist am Fehlen einer solchen Grundlage in Form einer gemeinsamen Sichtweise der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen gewerkschaftlichen Handelns gescheitert. Managementansatz: Individualistische statt solidarische Lösungen Entgegen dem gesellschaftlichen Mainstream und anders als in profitorientierten Unternehmen ist die gewerkschaftliche Handlungsweise nicht individualistisch, sondern eine kollektive, Konkurrenz überwindende, solidarische. Wird der gesellschaftliche Kontext ausgeblendet, geht das Besondere des Prinzips Gewerkschaft verloren, und Managementmethoden, wie sie andernorts üblich sind, können kaum gefiltert oder uminterpretiert bei Gewerkschaften Einzug halten. Verloren geht das Emanzipatorische einer Gewerkschaft, nämlich der Schritt vom Einzelnen zum gemeinsam Handelnden, im Sinne von Ernst Bloch: »Ich bin, aber ich habe mich noch nicht, darum werden wir erst noch« (Zitat aus dem LBV). Ziel Mitgliederorientierung: verkürzt und vordergründig Dass in einer Gewerkschaft Mitgliederorientierung ein Kernpunkt des Selbstverständnisses zu sein hat, ist im Prinzip schon immer unbestritten gewesen. Das Papier verfolgt aber ein verkürztes und vordergründiges Verständnis von Mitgliederorientierung. Das grundlegende Motiv für den Beitritt zu einer Gewerkschaft ist die Erkenntnis, dass man/frau allein nicht viel bewerkstelligen kann, es im Zusammenschluss mit anderen Lohnabhängigen bessere Durchsetzungsbedingungen gibt. Erster Fixpunkt der Mitgliederorientierung ist daher die glaubwürdige Darstellung einer Gewerkschaft, eben diesen entscheidenden Mitgliederwunsch erfüllen zu können, d.h. plausible Strategien zur Verbesserung von Arbeits- und Einkommensbedingungen und damit zur Lebenslage von ArbeitnehmerInnen anbieten zu können – am besten durch (tarif-)politische Erfolge, mindestens aber durch Erfolgsperspektiven. Der zweite Aspekt ist dann die operative Seite der Mitgliederorientierung: konkrete Werbearbeit, Halte- und Rückgewinnungsarbeit, positive Ansprache etc. Die beste operative Mitgliederorientierung kann Defizite im primären Bereich nicht oder nur begrenzt ausgleichen. Da sie den politischen Kontext von Gewerkschaft ausblendet, wird Mitgliederorientierung auf ihre operative Seite verkürzt. Es entsteht eine instrumentelle Sicht des Mitglieds, dessen Wünsche notfalls mit den Mitteln der Meinungsforschung ermittelt werden müssten. Tunlichst wird zwar die Charakterisierung des Mitglieds als Kunde vermieden, aber inhaltlich bewegt sich das Papier in dieser überwunden geglaubten Denkungsart. Charakteristisch für diese Verkürzung ist die Bestimmung des Verhältnisses von Tarifpolitik und Mitgliedergewinnung. Unbestritten ist, dass besonders Arbeitskämpfe stärker zur Mitgliedergewinnung genutzt werden müssen. Viel entscheidender für die langfristige Mitgliedergewinnungsperspektive ist aber die umgekehrte Frage: Wie müssen Tarif- und Organisationsstrukturen unter geänderten Bedingungen weiterentwickelt werden, um eine Gewerkschaft wieder erfolgreich zu machen oder eine Perspektive zum Erfolg und auf diese Weise zu steigenden Mitgliederzahlen bieten zu können? Ist das Bild einer Gewerkschaft (Ziel und Weg dahin) überzeugend, entlastet und erleichtert das die operative Mitgliedergewinnung. Selbst ein »systematisches Mitgliederbeziehungsmanagement« wird schon aufgrund immer knapperer Personalressourcen an Grenzen stoßen und sich schwer tun, den letzten weißen Flecken zu erreichen, wenn es nicht auf ein solches positives Bild einer Gewerkschaft aufbauen kann. FunktionärInnen – Scheinproblem Verhaltensstarre Als eine Schwachstelle in der Mitgliederorientierung identifiziert das Papier »strukturresistente« Einstellungs- und Verhaltensmuster bei nicht näher beschriebenen FunktionärInnen (S. 4). Es wird ein Gegensatz gesehen zwischen Mitgliederinteressen und teils illegitimen Beschäftigteninteressen (S.5), dessen sich die verantwortlichen Führungskräfte top-down annehmen müssten. Unbestritten ist, dass es in jeder Großorganisation mehr oder weniger Starke und Erfolgreiche gibt und dass den Schwächeren geholfen werden muss, sie bei Bedarf zu kritisieren und in Grenzfällen auch zu sanktionieren sind. Durch die pauschale Formulierung entsteht der Eindruck eines halsstarrigen Funktionärskörpers, der durch moderne Personalführungstechniken in die Moderne getrieben werden müsse. Das Bild ist verzerrt: Die haupt- und ehrenamtlichen Funktionäre sind großteils hochmotiviert, aber oft unter Druck und in Schwierigkeiten. Typisch für die vorherrschenden Managementmethoden ist die Umdefinition eines Strukturproblems zu einem Individualproblem. Die defizitäre Mitgliederentwicklung wird der unzureichend motivierten FunktionärIn zugeschrieben und soll durch Änderung von deren Verhalten und Einstellung behoben werden. Eine solidarische Organisation würde den Schwerpunkt auf die gemeinsame Analyse der Schwachstellen legen, kurzfristige und grundsätzliche Auswege suchen und ggf. auch Grenzen akzeptieren. Richtige Punkte Trotz der fehlenden analytischen Einbettung werden etliche generelle oder auch Detailvorschläge grundsätzlich oder in der Tendenz vom LBV unterstützt. In vielen Punkten wird es aber für eine sinnvolle Diskussion über die Weiterentwicklung und Konkretisierung des Papiers eines gemeinsamen politischen Vorverständnisses bedürfen. Umbruchsituation : Richtig beschreibt das Papier das Erfordernis, nach sechs Jahren des Organisationsaufbaus und der starken Beschäftigung mit Binnenproblemen die Gewichte wieder stärker auf die eigentlichen gewerkschaftlichen Aufgaben zu lenken. MIBS (Mitgliederinformations- und Betreuungssystem) (S. 5): Die Pflege der MIBS-Daten in den Bezirken ist für die gezielte Kommunikation mit den Mitgliedern erforderlich. Sanitäter vs. Prozessmanager (S. 3): Das professionelle Selbstverständnis von haupt- und ehrenamtlichen FunktionärInnen ist eine Mischung aus solidarischem Beistand im Einzelfall und einem priorisierenden und strukturierten Arbeiten. Wo diese Balance aus dem Lot geraten ist, ist Unterstützung, Beratung oder Weiterbildung erforderlich. Organizing (S. 5): Die bisher randständigen Organizing-Ansätze in ver.di müssen verstärkt diskutiert und zu einem »gemeinsamen Organizing-Verständnis« weiterentwickelt werden. Auch dies setzt aber eine vertiefte Beschäftigung mit den geänderten Rahmenbedingungen voraus, auf die Organizing eine Antwort darstellen soll. Schwerpunktbereiche, Betriebsatlanten (S.6f.): Eine qualifizierte Fachbereichsarbeit setzt in der Tat genaue(re) Kenntnisse der Branchenstrukturen, der Organisationsgrade und Prioritätensetzungen voraus. Verankerung Mitgliederwerbung in der Betriebsarbeit und -kultur (S. 9): ein richtiges Anliegen! Zweistufige Organisation mitgliederferner Aufgaben : muss weiterverfolgt werden, wo sinnvoll. Ausdifferenzierung des Organisationsaufbaus , z.B. ehrenamtliche Präsenz auf örtlicher Ebene (S. 13): ein denkbarer Ansatz, der der Diskussion und Präzisierung bedarf. Steuerungsfunktion im Bezirk (S. 13): Die Bündelung von Zuständigkeiten ist während eines Arbeitskampfes für die Fachbereiche im Öffentlichen Dienst sinnvoll, ob auch weitergehend, ist umstritten. Weiterentwicklung des Finanzausgleichs (S.14f.): ist ein wichtiges Ziel, das der solidarischen Diskussion bedarf! Fachbereichsstrukturen und -kooperationen (S.15): Die Diskussion muss fortgesetzt werden, wobei nicht nur betriebswirtschaftliche Aspekte, sondern verstärkt Fragen der Branchenstrukturen und der veränderten Konkurrenzverhältnisse zu berücksichtigen sind. Aufgabenabgrenzung Bundes-Landesbezirksebene (S. 16): ist angesichts vieler Doppelarbeiten und Koordinationsdefizite auch aus landesbezirklicher Sicht sinnvoll. ver.di Landesbezirksvorstand Baden-Württemberg Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 09/08 |