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Updated: 18.12.2012 15:51 |
(K)eine Trendwende? Stephan Krull* über die Tarifauseinandersetzungen 2012 Im Frühjahr 2012 wurden Tarifverträge für über sieben Millionen Beschäftigte in Deutschland neu abgeschlossen [1]:
Unmittelbar nach Abschluss der Tarifverhandlungen wurden erste Bewertungen vorgenommen [2], die mit zeitlichem Abstand und nach Studium der Verträge ebenso einer kritischen Betrachtung unterliegen wie die Abschlüsse selber. Eine Rolle als Schiedsrichter ist dabei natürlich nicht angemessen. Stattdessen geht es im Folgenden darum, einen Beitrag für diese gewerkschaftliche Debatte zu leisten. Dies schließt ein, Widersprüche auszutragen, und verlangt uns innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften Veränderung ab. Das ist nicht einfach. Die Verknüpfung der Debatten und des Wirkens der Tarifkommissionen, der betrieblichen Bewegungen, der Gewerkschaftslinken, der Gewerkschaftsführungen, der sozialen Bewegungen und Initiativen könnte grundlegende Veränderungen erbringen, auf die allein es ankommt. Eine solche Methode der gewerkschaftlichen Arbeit soll damit angeregt werden. Obwohl über 800 000 Warnstreikende in der Metall- und Elektroindustrie und 300 000 Warnstreikende im öffentlichen Dienst mobilisiert wurden und etwa gleiche Forderungen hatten, blieben die Tarifauseinandersetzungen jeweils isoliert – mit entsprechend enttäuschenden Ergebnissen. Eine Zusammenführung mit den globalisierungskritischen Aktionen vom Mai diesen Jahres, die inhaltlich möglich gewesen wäre, konnte so nicht gelingen. Es wurde die Chance vertan, diese Tarifkämpfe in Kombination mit den gegen die neoliberale Plünderung gerichteten Blockupy-Aktionen zu einer Wende in der Politik unseres Landes zu machen. Für die gut 100 000 Beschäftigten in der bestens organisierten Stahlindustrie waren am Jahresbeginn 2012 bereits Abschlüsse von 3,8 Prozent für 15 Monate vereinbart worden, das entspricht umgerechnet auf zwölf Monate wenig mehr als drei Prozent. Ein schlechtes Omen für die Tarifauseinandersetzung in der Metallindustrie, dem »hochproduktiven industriellen Zentrum des deutschen Kapitalismus« [3] , das im Folgenden einer kritischeren Bewertung unterzogen wird. Ausgangsbedingungen Die Rahmenbedingungen für die Tarifrunde 2012 beschrieb die IG Metall mit einem Wirtschaftswachstum von drei Prozent im Jahr 2011, äußerte sich bezüglich der Aussichten für 2012 jedoch skeptisch. [4] Hier orientierte sich die Gewerkschaft an der Prognose des Sachverständigenrates (SVR), der von 0,9 Prozent Wachstum, 1 Prozent Produktivitätssteigerung, einer auf 2,7 Millionen Menschen sinkenden Erwerbslosigkeit und 1,9 Prozent Inflation für 2012 ausgeht – dessen Prognosen aber noch nie gestimmt haben. Um die über diese Rahmendaten hinausgehende Forderungshöhe zu begründen, wurde auf den »nicht ausgeschöpften verteilungsneutralen Spielraum« aus dem Jahr 2011 verwiesen. Dieser nicht ausgeschöpfte Spielraum führte allein in der Metallindustrie im Jahr 2011 zu einer Netto-Gewinnabschöpfung von 40 Mrd. Euro. Ein Prozentpunkt Tariferhöhung entspräche dabei laut Angaben der IG Metall nur 1,5 Mrd. Euro [5], die Tarifforderung wäre also locker »aus der Portokasse« der Kapitalbesitzer zu bezahlen. Dennoch ist der Rückgriff auf das Vorjahr ein Novum in der Tarifgeschichte und wirft Fragen auf:
Die Reallöhne in Deutschland sind im Zeitraum 2000 bis 2010 um 4,5 Prozent gesunken [6], während sie in allen anderen EU-Ländern sowie USA und Japan gestiegen sind. Im Zeitraum 2000 bis 2008 stieg die Produktivität um gut zehn Prozent, in der Metall- und Elektroindustrie gar um fast 30 Prozent, die Preissteigerungsrate betrug 15 Prozent, die Nominallöhne jedoch stiegen nur um 16 Prozent. Befeuert wurde die Debatte durch »Unterstützung« unter anderem von Ministerin von der Leyen, die wirksame Lohnerhöhungen empfahl [7]. DGB-Chef Sommer kündigte gleich »richtige Streiks« [8] an, die taz titelte am 7. Februar 2012 »Mit Vollgas aus der Garage« und die FR zitierte einen »Experten«: »Höhere Löhne wären möglich – DIW-Experte hält 4 Prozent für realistisch.« (FR, 8. Februar 2012). Es sah so aus, als würde es ein heißes Tänzchen im Frühjahr geben. Gesamtwirtschaftliche Daten oder Branchendaten? Traditionell orientiert sich die Forderung der IG Metall an gesamtwirtschaftlichen Daten – an Daten, die Industrieproduktion, Handel und Dienstleistungen nivellierend beinhalten. Würden die Daten der Metall- und Elektroindustrie zugrunde gelegt, müsste bei der Produktivität ein vielfacher Wert von etwa fünf Prozent pro Jahr zugrunde gelegt werden, in der Automobilindustrie ein nochmals deutlich höherer Wert von etwa acht Prozent. Diese gesamtwirtschaftliche Orientierung hat(te) ihre Berechtigung, solange die Industrieproduktion die dominante Produktionsweise in unserem Land war und dadurch ähnliche Lebensbedingungen in den differenten Branchen hergestellt werden konnten. Nun sind aber Dienstleistungsbereiche wie Bildung, Gesundheit oder Pflege enorm gewachsen; und selbstverständlich sind hier keine vergleichbaren Produktivitätssteigerungen möglich oder wünschenswert, ebenso wenig bei Reinigungspersonal oder Wachleuten. Es ist deshalb zu fragen, ob die durchschnittlichen Produktivitätssteigerungen (Produktion über Durchschnitt, Dienstleistung unter Durchschnitt) auch diesen Bereichen bei Tarifverhandlungen zugutekommen – nur dann hätte die gesamtwirtschaftliche Betrachtung ihre Berechtigung und ginge nicht nur zu Lasten der Produktionsbereiche. Jedoch sind gerade in den Dienstleistungsbereichen die Reallöhne am stärksten gesunken und zugleich in den Produktionsbereichen nur unterhalb der gesamtwirtschaftlichen Produktivitätssteigerung gestiegen. Das ist übrigens auch der Schlüssel für die – andere Volkswirtschaften – überwältigende Exportoffensive aus Deutschland. Diskussion und Beschlussfassung zur Forderung Auf dieser Basis wurde ab Herbst 2011 in den Betrieben die Diskussion über die Tarifrunde 2012 angestoßen. Erfahrene und gewerkschaftspolitisch geschulte KollegInnen wissen, dass sich Tarifforderungen aus drei Bestandteilen zusammensetzen: Erstens die Preissteigerungsrate, zweitens die Produktivitätsrate und drittens Umverteilung der privat entnommenen Unternehmensgewinne; alles auf Basis gesamtwirtschaftlicher Daten. Das ist bei der Preissteigerungsrate ebenso fragwürdig wie bei der Produktivitätsrate, die genauer als Rate der Arbeitsproduktivität berechnet und ausgewiesen werden müsste, aber gewöhnlich nicht so ausgewiesen wird. Während zum Beispiel Fernseher, Computer und andere Geräte der I+K-Technologie im Preis fallen, sind Preise für Energie, Mieten und Lebensmittel des täglichen Bedarfs teils drastisch gestiegen. Die »Inflationsrate« von z.B. 2,3 Prozent verschleiert deshalb eigentlich mehr, als sie offenbart. Das konstatierte auch die IG Metall, als sie in einem Flugblatt schrieb: »Offiziell lag die Teuerungsrate im Jahr 2011 bei 2,3 Prozent. Doch ein Blick auf den Warenkorb zeigt: Die entscheidenden Kosten für Lebensmittel und Energie waren erheblich höher. Die Inflationsrate entspricht nicht dem Konsumbudget.« [9] In einigen Betrieben der Automobil- und Zulieferindustrie wurden Forderungen von acht Prozent und mehr diskutiert. Die Begründungen waren ökonomisch und tarifpolitisch korrekt hergeleitet: 2,3 Prozent Inflation plus 1,6 Prozent Arbeitsproduktivität plus X Prozent Umverteilung sind bei einer Laufzeit von zwölf Monaten im Ergebnis durchzusetzen, wenn eine Trendwende in der Lohnpolitik eingeleitet werden soll. Wie hoch müsste dementsprechend dann die Forderung angesetzt werden? Kurz vor Jahresende kam die Empfehlung des Gewerkschaftsvorstandes für die Tarifforderung: »Bis zu 6,5 Prozent« hielt die Gewerkschaftsführung für eine angemessene Forderung. Fast alle Tarifkommissionen beschlossen daraufhin die Forderung von 6,5 Prozent plus weiterer Verhandlungspunkte: Übernahme der Ausgebildeten, mehr Geld für Leiharbeitskräfte und eine »Einstiegsqualifizierung« für »benachteiligte Jugendliche«. Falsche Forderungen, falsche Begründungen ... Die 6,5 Prozent-Forderung wurde im Februar vom Gewerkschaftsvorstand als verbindliche Forderung beschlossen – so das Ergebnis des komplizierten Procederes. Die »Begründung« für diese Forderung fiel jedoch völlig anders aus als in der oben genannten Rechnung, die der Forderungsdiskussion zugrunde lag: Zwei Prozent Inflation plus 0,9 Prozent Produktivitätsanstieg – auf Basis der Daten des Sachverständigenrates – plus 0,9 Prozent Nachschlag aus dem Jahr 2011 gleich 3,8 Prozent »verteilungsneutraler Spielraum«. Abgesehen davon, dass die IG Metall von schön- bzw. runtergerechneten Daten des SVR ausging, wiesen die Arbeitgeber die »Nachschlagforderung« ebenso entschieden zurück wie die Umverteilung. Es ist wie im richtigen Leben: Wenn man etwas Falsches bestellt oder fordert, kann man kaum das Richtige und Notwendige bekommen! Falsch waren auch andere Forderungen in dieser Tarifauseinandersetzung: Leiharbeit: Mit der gewerkschaftspolitisch naheliegenden und auf viele sympathisch wirkenden Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit war die IG Metall in die Auseinandersetzung gegangen. Doch dabei muss etwas erläutert werden: Im Gesetz steht der Equal-Pay-Grundsatz sowie: »ein Tarifvertrag kann abweichende Regelungen zulassen« [10] . Wolfgang Clement, Minister für Wirtschaft und Arbeit im Kabinett von Schröder und inzwischen Manager bei einem der weltgrößten Leiharbeitsanbieter, erklärte bei einem Treffen mit den Großen der Leiharbeitsbranche: »Die künftigen Tarifpartner, namentlich die Spitzen des DGB und seiner Einzelgewerkschaften, haben mir zugesagt, dass sie bereit sind, solche Tarifverträge auch tatsächlich abzuschließen.« [11] Und noch bevor die »christlichen« Gewerkschaften Gefälligkeitstarife abschlossen, erklärte der Vertreter der IG Metall in der Hartz-Kommission, der damalige NRW-Bezirksleiter Peter Gasse: Unter der Voraussetzung eines akzeptablen Tarifabschlusses werde die IG Metall die Zeitarbeit als Beschäftigungsinstrument zukünftig fördern. [12] Damit war die Grundlage für die ungleiche Bezahlung von Leiharbeitsbeschäftigten gelegt, bevor die »christlichen« Gewerkschaften ihre Gefälligkeitstarifverträge den Unternehmern angeboten haben. Hätte die DGB-Tarifgemeinschaft, so der Arbeitsrechtler Prof. Wolfgang Däubler [13], keine Tarifverträge abgeschlossen, gäbe es längst Equal Pay – spätestens mit der richterlichen Entscheidung, nach der die »christlichen« Gewerkschaften mit ihren Dumpingtarifverträgen für nicht tariffähig erklärt wurden und auf die hin jetzt Nachzahlungen für Lohn, Steuern und Sozialversicherung fällig werden. Beim Gewerkschaftstag der IG Metall im Herbst 2011 wurde – gegen den Widerstand des Vorstandes – ein Verbot von Leiharbeit in ihrer hierzulande bekannten Form beschlossen. Eine starke Minderheit der Delegierten votierte gegen diesen Antrag. Offensichtlich ist es der Vorstand und diese ihm gehorchende Gruppe von Interessenvertretern, die solche spalterischen Tarifforderungen aufstellen und damit praktisch verhindern, dass dem Equal-Pay-Grundsatz zum Durchbruch verholfen wird. Weitere Forderungen in der Tarifrunde: Für Auszubildende wurde eine unbefristete Übernahme nach der Ausbildung sowie für »benachteiligte« oder »lernschwache« Jugendliche eine »Einstiegsqualifizierung« gefordert. Den Arbeitgebern sollten diese beiden Forderungen mit Hinweis auf den angeblichen »Facharbeitermangel« schmackhaft gemacht werden. Das Ergebnis Materiell scheint das Ergebnis [14] auf den ersten Blick befriedigend. In den Betrieben ist es erleichtert aufgenommen worden, was auch an der medialen Aufbereitung lag: Es galt als das beste Tarifergebnis seit 20 Jahren. Die 4,3 Prozent einschließlich Nullmonat und 13 Monaten Laufzeit sind tatsächlich auf zwölf Monate gerechnet nur 3,9 Prozent und liegen damit genau innerhalb des verteilungspolitischen Spielraumes. Insofern also kein weiterer Lohnverlust und keine weitere Senkung der Lohnstückkosten vereinbart wurden, ist das eine Wende, aber noch keineswegs eine Trendwende! Zu kritisieren bleibt, dass die große Bereitschaft zu kämpfen, die sich in zahlreichen Warnstreiks und in lauten Protesten von Gewerkschaftsmitgliedern und Vertrauensleuten nach den Abschlüssen in der Stahlindustrie deutlich machte, nicht genutzt wurde, um die Tarifrunden im öffentlichen Dienst und in der Metall- und Elektroindustrie mit den gegen die Sparpolitik gerichteten Aktionen zusammenzuführen und so den frischen Wind für bessere Ergebnisse zu nutzen. Zu kritisieren bleibt, dass Versäumnisse vorangegangener Tarifrunden nicht eingeholt wurden, dass sich an den Verteilungsrelationen zwischen Löhnen und Gewinnen nichts geändert hat, dass keine Umverteilung im volkswirtschaftlichen Sinne stattfand! Detje und König schreiben dazu: »Die Tarifrunde 2012 bringt so für die Beschäftigten einen echten Zuwachs bei den Reallöhnen. Bei einem Anstieg der Verbraucherpreise um 1,8 Prozent schlägt sich rund die Hälfte des Einkommenszuwachses in steigender Kaufkraft nieder – zumal eine negative Lohndrift nicht zu erwarten ist, die durch betriebliche »Verrechnungen« das Lohnplus wieder schmälern würde.« Dieser positiven Bewertung ist zu widersprechen, denn die Verbraucherpreise steigen tatsächlich im bisherigen Jahresverlauf um ca. zwei Prozent und die Einbehaltung dieses »Lohnplus« bei Opel zeigt deutlich, dass eine »negativen Lohndrift« keineswegs ausgeschlossen ist. Weiter schreiben Detje und König: »Der einkommenspolitische Erfolg in der Tarifrunde 2012 zeigt sich auch noch von einer anderen Seite: der Verteilungssymmetrie. (...) Angesichts rückläufiger Konjunktur fällt letzterer (der Produktivitätszuwachs, S.K.) in diesem Jahr ausgesprochen schwach aus und dürfte deutlich unter einem Prozent liegen. Der Metall-Tarifabschluss 2012 schöpft den Verteilungsspielraum nicht nur aus, sondern liegt darüber.« Tatsächlich ist die Arbeitsproduktivität im produzierenden Gewerbe von Januar bis April 2012 kumuliert um 1,2 Prozent gestiegen, im gesamten Vorjahr jedoch um 6,5 Prozent. Übernahme der Ausgebildeten: Erfolgreich Ausgebildete werden künftig unbefristet übernommen statt wie bisher nur für zwölf Monate, allerdings gibt es zahlreiche Ausnahmen, die die Dispositionshoheit des Unternehmens nicht wirklich einschränken. (S. dazu auch den Beitrag von Marcus Schwarzbach in dieser Ausgabe des express.) Davon, dass »[j]unge Metaller gewinnen« (Detje/König), kann nicht wirklich geredet werden. Ausgebildete müssen nicht übernommen werden, wenn »über Bedarf« ausgebildet wurde, personenbezogene Gründe vorliegen oder es »Beschäftigungsprobleme« gibt. Erst die künftige Praxis wird zeigen, ob die Jugend wirklich gewinnt. Vorläufig gibt es zu wenig Ausbildungsplätze, zu schlechte Bezahlung und viel zu viele junge Menschen, die nach Ausbildung und Studium mit prekären Arbeitsplätzen nur die Flexibilitätsreserven des Kapitals sind. Das Ergebnis zur Leiharbeit ist mehrschichtig und keineswegs nur positiv. Zunächst erteilt die Gewerkschaft ihre Zustimmung zum regelmäßigen Einsatz von Leiharbeit, wenn »Fachkräfte mit speziellen Qualifikationen im Betrieb nicht vorgehalten werden oder der Einsatz dazu dient, Auftragsspitzen oder anderen zeitlich begrenzten Mehrbedarf abzuarbeiten«. Zurzeit gibt es etwa 350 000 Leiharbeitsverhältnisse in der Metall-, Elektro- und Automobilindustrie. Mit dem Betriebsrat ist der Einsatz von Leiharbeit »zu beraten« bzw. er ist »zu informieren« – Mitbestimmung ist das nur in Betrieben mit sehr starken Betriebsräten; nach § 99 BetrVG hat der Betriebsrat ein Zustimmungsverweigerungsrecht. Bei freiwilligen Betriebsvereinbarungen, die per Tarifvertrag empfohlen werden, können Einsatzzweck, Vergütung und Einsatzdauer geregelt werden. Diese »Einschränkung der Flexibilität« kann kompensiert werden durch eine von 18 auf 30 Prozent erhöhte Quote derjenigen, die im Betrieb ihre Arbeitszeit verlängern und regelmäßig 40 Stunden beschäftigt werden, was die Differenzierung in der Belegschaft sowie die interne Flexibilität erhöht. Richtig schreiben Detje und König dazu, dies sei »ein weiterer Schritt im Rahmen der Strategie von Gesamtmetall, die 35-Stunden-Woche durch Arbeitszeitverlängerung und -flexibilisierung außer Kraft zu setzen.« (Hervorh. S.K.) Nach 18 Monaten Verweildauer hat der Unternehmer ein Übernahmeangebot zu prüfen, nach 24 Monaten »ist dem Leiharbeiter ein unbefristeter Arbeitsvertrag anzubieten. Dieses kann nach Beratung mit dem Betriebsrat bei akuten Beschäftigungsproblemen entfallen«, ebenso bei Vorliegen eines »Sachgrundes« für den Einsatz von Leiharbeit, z.B. »Fachkräftemangel«. Die durchschnittliche Verweildauer von LeiharbeiterInnen in den Entleihbetrieben beträgt 8,7 Monate. Es werden also nur sehr wenige Menschen in den »Genuss« dieses Tarifvertrages kommen. Mit den Leiharbeitgeberverbänden wurden parallel »Branchenzuschläge« vereinbart. Diese treten erst ab November 2012 in Kraft und beinhalten keineswegs »gleiches Geld für gleiche Arbeit«! Nach zehn Beschäftigungsmonaten beträgt die Differenz immer noch 1,50 Euro pro Stunde oder ca. 250 Euro pro Monat oder ca. 15 Prozent in der untersten Entgeltstufe des Grundlohnes der Stammbelegschaft! Wird wiederum die durchschnittliche Verweildauer von 8,7 Monaten im Entleihbetrieb zugrunde gelegt, kommt auch in diesen »Genuss« kaum jemand von den prekär Beschäftigten. Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu Equal Pay ist mit der Laufzeit dieses Tarifvertrages – bis Ende 2015 – vorprogrammiert: Die Laufzeit führt dazu, dass die Ende 2013 kündbaren Tarifverträge der DGB-Tarifgemeinschaft zur Leiharbeit wahrscheinlich weiter laufen werden und das Elend der Leiharbeit somit über viele weitere Jahre mit Zustimmung der Gewerkschaften fortgesetzt wird. Die »Einstiegsqualifizierung« für benachteiligte Jugendliche war bereits in der Forderungsdebatte umstritten. Vereinbart wurde ein »Tarifvertrag Förderjahr«, in dessen Ergebnis Jugendliche in die Betriebe kommen, die weder Auszubildende noch Arbeitnehmer sein werden. Die Begründung dafür findet sich in der Präambel: »In Anbetracht des sich abzeichnenden Fachkräftemangels haben die Tarifvertragsparteien der Metall- und Elektroindustrie in Baden-Württemberg das gemeinsame Ziel, dass möglichst viele qualifizierte Ausbildungsbewerber für die Betriebe der M+E-Industrie zur Verfügung stehen. Gleichzeitig stellen sie übereinstimmend fest, dass Teile der Schulabgänger den heutigen Anforderungen der Berufsausbildung in der M+E-Industrie nicht entsprechen.« Weil Unternehmen zu wenig ausbilden und Jugendliche keinen Ausbildungsplatz ergattern, werden diese als »benachteiligt« oder gar als »ausbildungsunfähig« eingestuft. Die Defizite sollen in sechs- bis zwölfmonatigem betrieblichen Einsatz überwunden werden: »Da dieses nach Ansicht der Tarifvertragsparteien am besten durch eine gezielte Förderung der Fachkenntnisse sowie des Arbeits-, Leistungs- und Sozialverhaltens von Jugendlichen geschehen kann, haben diese in der Sozialpartnervereinbarung zum Förderjahr ... ein entsprechendes gemeinsames Konzept entwickelt.« Um dieses Ziel sicher zu erreichen wird zu Lasten der Jugendlichen vereinbart: »Der Jugendliche ist zur Teilnahme an den Fördermaßnahmen und zur Arbeit im Betrieb verpflichtet. Sofern und soweit im Fördervertrag vereinbart, nimmt der Jugendliche im Einzelfall auch darüber hinaus an besonderen individuellen Fördermaßnahmen innerhalb seiner Freizeit teil.« (Hervorh. in den vorangehenden Zitaten von S.K.) Danach sollte es mit dem Arbeits- und Sozialverhalten wohl geklappt haben, die jungen Menschen sind dann entweder industrietauglich zugerichtet oder ‚für die Produktion verloren’! Deshalb und nicht nur wegen des Taschengeldes (250 bis 680 Euro pro Monat inkl. öffentlicher Zuschüsse) ist eine solche »Förderung« eigentlich keinem jungen Menschen zu wünschen. Arbeitgeber haben die billige Auswahlmöglichkeit für künftige Auszubildende, und die Konkurrenz um Ausbildungsplätze wird verschärft. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Tarifabschlüsse des Frühjahres 2012 hinter den Möglichkeiten und Notwendigkeiten zurück bleiben. Ohne Bewegung aus den Betrieben und lebendigere Diskussionen in den Tarifkommissionen wird sich an dieser Entwicklung nicht viel ändern. Ob die Tarifrunde eine Trendwende war, hängt vom weiteren Verlauf der Debatten und der Kämpfe ab! * Stephan Krull war Mitglied des Betriebsrats bei VW in Wolfsburg und in der Tarifkommission der IG Metall; Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Niedersachsen. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/12 1) Die Aufzählung ist unvollständig, kleinere Branchen und regionale Verträge werden nicht erwähnt. 2) So von Bernd Riexinger in: Sozialismus, Nr. 5/2012; Richard Detje/Otto König in: Sozialismus, Nr. 6/2012; Die LINKE, AG Betrieb & Gewerkschaft, vom 20. Juni 2012; Jakob Schäfer, Mitglied im Arbeitsausschuss der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken, 24. Mai 2012; Metallzeitung vom Juli 2012 3) Detje/König in: Sozialismus, Nr. 6/2012 4) Wirtschaftspolitische Informationen des Bereichs Grundsatzfragen beim Vorstand der IG Metall, Nr. 1 vom 1. März 2012 5) Ebd., S. 10: »Eine Tariferhöhung von einem Prozent hat dagegen, bezogen auf alle Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie, nur ein Finanzvolumen von 1,5 Milliarden Euro.« 6) Global Wage Report, ILO 2011 7) »Von der Leyen löst Irritationen aus. Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen hat mit ihrem Ruf nach spürbaren Lohnerhöhungen oberhalb der Inflationsrate für Irritationen gesorgt. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund (DStG) nennt diese Forderungen völlig übertrieben«, RheinPfalz, 13. Februar 2012 8) »Die Leute haben die Nase voll davon, dass gute Arbeit nicht überall anständig bezahlt wird«, sagte er der Bild-Zeitung. Er kündigte eine harte Gangart bei den bevorstehenden Gesprächen an. »Tarifstreit ist nichts für den Knabenchor, Kampf ist normal.« Die Gewerkschaften streikten nicht häufig, »aber wenn wir streiken, dann richtig«, sagte Sommer (Welt Online, 12. Februar 2012). 9) Metall-Nachrichten Nr. 4, IG Metall Bezirk Niedersachsen, 27. Februar 2012 10) Arbeitnehmerüberlassungsgesetz AÜG §§ 9.2 und 10.4 11) Adecco-Symposium »Flexibilität am Arbeitsmarkt«, Berlin, 27. November 2002 12) Fachtagung der IG-Metall NRW am 6. Februar 2003 in Gütersloh 13) Prof. Wolfgang Däubler im Gespräch über Leiharbeit, express, Nr. 2/2012 14) Pilotabschluss Baden-Württemberg, dokumentiert im Labournet: www.labournet.de |