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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Tarifeinheit im Betrieb?! Ja, aber wo, für wen, mit wem? Anton Kobel zum Urteil des BAG Das Bundesarbeitsgericht hat seine jahrzehntelange, 1957 freihändig, d.h. ohne rechtliche und gesetzliche Grundlage, geschöpfte Rechtsprechung zur Tarifeinheit in Betrieben und Unternehmen aufgegeben. Ab sofort können demnach mehrere Tarifverträge in einem Betrieb gelten. Geklagt hatte ein Arzt. Er begehrte 2005 als Mitglied des Marburger Bundes Leistungen aus einem mit diesem abgeschlossenen Tarifvertrag. Der Arbeitgeber wendete jedoch einen für den Arzt ungünstigeren und den Arbeitgeber günstigeren ver.di-Tarifvertrag an. Nach fünf Jahren bekam der Kläger nun Recht. Die Begründung ist einfach und gerade dadurch erstaunlich: Nach 50 Jahren anderslautender Rechtsprechung erklärte das BAG, es gebe im Tarifvertragsgesetz keine Hinweise oder gar Regelungen, dass eine Tarifeinheit im Betrieb geboten sei. Auch Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes – aus dem Jahre 1949 – stehe der bisherigen Rechtsprechung entgegen. Das Grundgesetz garantiert ausdrücklich auch für alle Berufe die Koalitionsfreiheit, d.h. die Möglichkeit, sich nach Berufsgruppen gewerkschaftlich zu organisieren und zu engagieren. Krokodilstränen und Beschwörungen Die Reaktionen bei Arbeitgebern und Gewerkschaften, in den Parteien und der Presse überschlugen sich. Die eigentlich größtunmögliche Koalition nahm Fahrt auf. Die Lager waren gut vorbereitet, auch durch das BAG selbst: Seit Monaten hatte es eine Revision der bisherigen (Un-)Rechtsprechung angekündigt. Hinter den Kulissen wurde seit über einem Jahr eine jetzt veröffentlichte gemeinsame Erklärung von DGB und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) vorbereitet – gewerkschaftlicherseits voll an den Mitgliedern und auch an den Delegierten des diesjährigen DGB-Bundeskongresses vorbei. Ein bemerkenswertes Stück in Sachen innergewerkschaftlicher Demokratie! Gemeinsam fordern DGB und BDA in diesem Papier nunmehr eine gesetzliche Regelung zur Tarifeinheit im Betrieb. Es gehe darum, »die Regelungslücke im Tarifvertragsgesetz schnellstmöglich zu schließen und die Tarifeinheit gesetzlich zu regeln.« Dahinter steht bei den Arbeitgebern die Sorge um den »Betriebsfrieden«, bei den Gewerkschaftsspitzen sind es eindeutig organisationspolitische Interessen und Vorteile. Offensichtlich unbeeindruckt vom Grundgesetz und den Grundrechten arbeitender Menschen unterstreichen der DGB und seine Gewerkschaften ihre Rolle als Ordnungsfaktor statt Gegenmacht! Diese Koalition der »Tarifpartner« erfuhr breitestmögliche Unterstützung im Lager der Parteien und Politiker: Arbeitsministerin von der Leyen zeigte sich aufgeschlossen, die Partei »Die Linke« wurde ergänzt von SPD, CDU und FDP. Die SPD-Regierung von Rheinland-Pfalz will über den Bundesrat ran. Tarifchaos, unkontrollierbare und ausufernde Streiks von egoistischen Berufs- und Spartengewerkschaften, der Verlust der Sozialpartnerschaft als Standortvorteil in der internationalen Konkurrenz, Gefährdung der Arbeitsplätze – außer Klimakatastrophe und Aids gab es kaum ein »Übel«, das nicht beschworen wurde. Eine gesetzliche Neuregelung zur Verhinderung einer grundgesetzlich basierten Rechtsprechung! Der nationale Notstand muss groß sein. Die betriebliche Realität und andere Fragen Beschworen wird eine Tarifeinheit im Betrieb, die es seit Jahren so nicht mehr gibt. Die Arbeitgeber und ihre Verbände hatten diese zum eigenen Vorteil aufgekündigt. Die Gewerkschaften reagierten teils hilflos, teils mit Gewerkschaftskannibalismus, d.h. Konkurrenz gegeneinander. Es waren die Unternehmen, die out- und ingesourct haben. Dadurch konnten sie in für sie günstigere Tarifverträge einer bis dahin meist betriebsfremden Gewerkschaft flüchten. Auch die Schaffung tarifloser Zonen gelang so. Es waren die Arbeitgeberverbände, die ihren Mitgliedsfirmen eine »Mitgliedschaft ohne Tarifbindung« (OT) anboten. Waren es nicht auch bedeutende Unternehmen, die quasi eigene, gelbe Schein-Gewerkschaften sponserten und »ihren« Betriebsräten zur Unterstützung anboten? Sind es nicht Unternehmen, die mit für sie preisgünstigen Tarifabschlüssen DGB-Gewerkschaften, z.T. erfolgreich, unter Druck setzen? Letzteres vor allem, wenn es der zuständigen Gewerkschaft an Tarifmacht im Betrieb bzw. der Branche fehlt. Alles vergessen? Zur Erinnerung nur wenige Beispiele: In den Kauf- und Warenhäusern wurden seit den 1980er-Jahren die bis dahin allgemein gültigen Tarifverträge des Einzelhandels außer Kraft gesetzt, indem z.B. die Restaurants ausgegliedert und in die Gaststättentarifverträge eingegliedert wurden. In den Blumenabteilungen gelten seitdem, sofern vorhanden, die Gartenbautarifverträge, in den Parfümerieabteilungen die Tarifverträge der Parfümhersteller mit der IG Chemie (heute BCE), in verschiedenen Servicebereichen wären, gewerkschaftliche Präsenz vorausgesetzt, die IGM (etwa für Mister Minit) oder die NGG (für die Backshops) zuständig, im Reinigungsdienst die IG BAU, bei Sicherheitsdiensten war die ÖTV im Gespräch. In den kleinen Bereichen entstanden durch diese Arbeitgebermaßnahmen häufig tariflose Arbeitverhältnisse. Mitte der 1990er – vor den Gewerkschaftsfusionen – waren in den Kaufhäusern aufgrund der DGB-Satzung zehn DGB-Gewerkschaften zuständig, hinzu kamen DAG, DHV und CGB. Diese bewusste Vorgehensweise der Arbeitgeber schwächte die Tarifmacht der Gewerkschaft HBV beträchtlich, auch weil die betroffenen DGB-Gewerkschaften unfähig waren, diese durch Out- und Insourcing entstandenen neuen Zuständigkeiten an die »Herkunftsgewerkschaft« zurückzugeben. Schon vergessen auch das Folgende? In ziemlich jedem Betrieb gibt es LeiharbeitnehmerInnen, die in der Regel gerade nicht unter die Tarifverträge der Kernbelegschaften fallen. Bei der Regelung der Leiharbeit unter Rot-Grün war von Tarifeinheit im Betrieb und gemeinsamer Erklärung nichts zu sehen. Das Prinzip »gleicher Lohn bei gleicher Arbeit« wurde bewusst fallen gelassen zugunsten der Möglichkeit, Tarifverträge zur Leiharbeit abzuschließen. Der neuere Skandal um die Drogeriekette Schlecker und die von ihr gegründete Verleihfirma Meniar (s. express 1/2010) verdeutlichte nochmals die Situation. Schlecker war nur das Beispiel am Pranger für unternehmenseigene Verleihfirmen. Und in wie vielen Großbetrieben gibt es eine ähnliche Lage wie bei VW, nämlich unterschiedliche Tarifverträge für Kern- und Randbelegschaften? Die »Post expandiert mit Billigtochter« in Deutschland, titelte die Financial Times Deutschland am 25. Juni 2010. Was also ist der Betrieb, für den jetzt eine Tarifeinheit beschworen wird? Der Betrieb, durchlöchert mit Fremdfirmen in der Kantine, EDV usw., also das gesamte betriebliche Netzwerk? Oder das Netzwerk des Unternehmens, des Konzerns, der Unternehmensgruppe, gar in der gesamten Wertschöpfungskette? Oder doch nur das, was die Kapitalstrategen »ihren« Betriebsräten und deren Gewerkschaften bereit stellen? Die Antworten, die der DGB und seine Gewerkschaften auf die mit diesen Fragen aufgeworfenen Probleme gefunden haben, sind unbefriedigend – und die gemeinsame Erklärung mit den Arbeitgebern ist grundsätzlich falsch! Was tun! Statt der versuchten gesetzlichen Neuregelung wäre es für die DGB-Gewerkschaften sicherlich aufwändiger, aber auch gewerkschafts- und organisationspolitisch produktiver, die neue rechtliche Situation und die reale Realität in den Betrieben und der Gesellschaft aufzuarbeiten und dafür Handlungskonzepte zu erarbeiten. Ein Betrieb – ein Tarifvertrag? Oh, ja! Für den realen Betrieb, das reale Unternehmen (s.o). Warum nicht Aktivitäten für den Grundsatz »ein Betrieb – ein Tarifvertrag – eine Belegschaft – ein Betriebsrat« entwickeln, um gegen Spaltung, Untergliederung und Deregulierung der Belegschaften vorzugehen? Warum nicht offensiv und handlungsorientiert über die Entstehungsgründe der allseits so bedrohlich erscheinenden Spartengewerkschaften diskutieren! Reicht die beschämende Diskussion im Zusammenhang mit dem letztjährigen Lokführerstreik noch nicht für neue Ideen? Der Umgang mit Konkurrenz ist eigentlich ein urgewerkschaftliches Thema. »Konkurrenz belebt das Geschäft« – auch das existiert in den Köpfen vieler Menschen, nicht zuletzt von Gewerkschaftsvorständen. Wer die Einheit will, muss sich auf die Vielfalt und damit auch auf die Konkurrenz beziehen. Wann und wie wollen die DGB-Gewerkschaften ihre, z.T. durch die wirtschaftliche Entwicklung überholten, Zuständigkeiten klären? In diesem Jahr sind bei der SAP-Betriebsratswahl erstmals IGM und ver.di mit eigenen Listen gegeneinander angetreten. Wird es jetzt Ausschlussverfahren aus dem DGB geben analog zu denen in Metallbetrieben gegen eigensinnige IGM-Mit-glieder? Wann werden die Geltungsbereiche in »großen« Tarifverträgen als Forderungs- und Konfliktpotential – weil gegen die Out- und Insourcingprozesse gerichtet – in Angriff genommen? Das könnte ein produktiver Beitrag zur Tarifeinheit in den Betrieben und Unternehmen sein. Ein neues Gesetz? Das angestrebte Gesetz zur betrieblichen Tarifeinheit und vor allem der vielseitige Beifall und die Unterstützung sollten allein deshalb neben dem Verstoß gegen Grundrechte nochmals zum Nachdenken anregen. Ist denn vergessen, dass die FDP seit über 30 Jahren nach einem Verbändegesetz giert, nach einem Gesetz, das die Gewerkschaften regelt und reguliert? Die FDP ist auch hier nur pars pro toto, sie steht für viele in der CDU/CSU, unter den Arbeitgebern und ihren Verbänden. Wollen nicht konservative, gewerkschaftsunfreundliche Kräfte seit Jahren ein deutsches Arbeitskampfrecht – ein ganz anderes als die Gewerkschaften und die Linken? Vorschläge zu diesem neuen Gesetz sprießen aus vielen Federn. So ist in dem DGB/BDA-Papier die Rede von Mindestgrößen für tariffähige Gewerkschaften. Frage: Worauf wird diese Größe bezogen: auf den Betrieb, das Unternehmen, die Branche? Thomas Griebe fordert in der Financial Times Deutschland vom 25. Juni eine Mindestanzahl von Berufsgruppen, die in einer Gewerkschaft vertreten sein müssen. Also nicht nur Lokführer, Fluglotsen, Ärzte? Das würde bedeuten, dass diese Gewerkschaften in der bisherigen Form aufgelöst werden müssten. Ernst zu nehmen sind zudem Vorschläge, mit diesem Gesetz auch Arbeitskämpfe und vor allem Streiks und Aussperrung neu zu regeln. Konkret: »Daher sollten die Arbeitgeber im Tarifkonflikt die Wahl haben können, einen bestreikten Betrieb im Extremfall gänzlich stillzulegen oder eine Prämie für Streikbrecher auszuloben.« (Thomas Griebe, FTD vom 25. Juni 2010) Demzufolge sollten nicht nur die streikenden und nicht-organisierten, sondern auch die nicht-streikenden, weil durch gültige Tarifverträge friedenspflichtigen ArbeitnehmerInnen ausgesperrt werden können. Soviel zur Einheit im Tarifkonflikt: Einheit in der Aussperrung. Vielfältige Ein- und Aussichten sind zu erwarten. Manche Aussichten können auch zu unerwarteten Ergebnissen führen. So manche »große« Gewerkschaft beabsichtigt jetzt, kleine, unliebsame Konkurrenten per Gesetz ausschalten zu können. Bei genauerem Nachdenken werden diese »Großen« leicht feststellen, dass auch sie in zahlreichen Tarifbereichen, d.h. in bestimmten Branchen, Unternehmen oder Betrieben, »klein« sind, also ohne Tarifmacht, ohne Chance, eventuelle gesetzliche Voraussetzungen an Mindestgröße bzw. Mindestmitgliederzahl erfüllen zu können. Wie sonst wären die ständig wachsenden tarifvertragsfreien Zonen zu erklären? Es ist schon so mancher Schnellschuss nach hinten losgegangen. anton kobel Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 7/10 |