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Updated: 18.12.2012 15:51 |
»Spurenelemente« oder: eine vertane Chance – zur Tarifrunde im Öffentlichen Dienst Tarifpolitik in der Krise – geht das, und wenn ja wie? Nicht nur in der Redaktion gingen die Einschätzungen über die hoch gestarteten Tarifrunden im Öffentlichen Dienst und der Metallindustrie auseinander. Aber, wir geben es zu: Wir hätten uns gefreut, wenn die eine und die andere ineinander übergegangen und vielleicht auch noch zu den »Maifestspielen« in Frankfurt, den Aktionstagen gegen die Krisenpolitik der Troika vom 16.–19. März, auf Plätzen und Straßen zusammengefunden hätten. Doch 74 Prozent stimmten in der ver.di-Mitgliederbefragung mit »Ja« für ein Verhandlungsergebnis, das diese Hoffnungen zunichte macht. Grund genug, unsere eigene kleine Umfrage in der Redaktion in Auftrag zu geben. Im Folgenden und auf Seite 2 die Ergebnisse: Am 26. April 2012 hat die Bundestarifkommission öffentlicher Dienst (BTK) dem Tarifabschluss im Bereich des TVöD sowie des TV-V (Versorgung) mit 72 Ja-Stimmen, 17 Gegenstimmen und 5 Enthaltungen zugestimmt. Damit ist die Tarifrunde im Bereich des TVöD und TV-V beendet. Legt man als Maßstab für die Bewertung des Ergebnisses die Forderung nach 6,5 Prozent, mindestens 200 Euro und einer Laufzeit zwölf Monaten an, so kommt man nicht umhin, von einem schlechten Ergebnis zu sprechen: Ab 1. März 2012 gibt es 3,5 Prozent mehr Lohn und Gehalt, ab 1. Januar 2013 1,4 Prozent zusätzlich und ab 1. August 2013 weitere 1,4 Prozent auf die entsprechenden Entgelttabellen bei einer Laufzeit von 24 Monaten. Die gewerkschaftlichen Schönrechner sprechen von 6,3 Prozent Erhöhung und vergessen dabei in der Regel den Hinweis, dass sich dies auf eine vereinbarte Laufzeit von 24 Monaten bezieht. Selbst bei dieser Rechnung ist offensichtlich, dass nicht einmal 50 Prozent der Forderung durchgesetzt wurden. Rechnet man dann aber auch noch nach der sogenannten Westrick-Formel [Fussnote], so kommt man für das erste Jahr der Laufzeit bei zehn Monaten mit 3,5 Prozent und zwei Monaten mit zusätzlich 1,4 Prozent auf gerundete 3,8 Prozent. Für die zweiten zwölf Monate ergibt sich bei fünf Null-Monaten und sieben Monaten mit 1,4 Prozent ein monatlicher Gehaltszuwachs von gerundeten 0,6 Prozent, macht eine durchschnittliche Gehaltserhöhung von 2,2 Prozent pro Monat aus. Bleibt zunächst einmal nur zu hoffen, dass die Inflationsrate unterhalb dieses Wertes bleibt. Gewitzelt wird in Funktionärskreisen über die Spurenelemente dieses Reallohnzuwachses! [*] Auf heftige Kritik ist gestoßen, dass es im Abschluss keinerlei soziale Komponente gibt. Der Tarifabschluss des Jahres 2008, wo zunächst alle Tabellenwerte um 50 Euro erhöht wurden und darauf eine prozentuale Erhöhung gesetzt wurde, war noch in positiver Erinnerung. Dem sollte mit der Mindestbetragsforderung von 200 Euro auch Rechnung getragen werden. Als der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske das jetzige Tarifergebnis in der BTK am 31. März 2012 vorstellte und die Annahme empfahl, ergab die Abstimmung in der BTK 39 Ja-Stimmen, 43 Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen. Damit war das Verhandlungsergebnis zunächst einmal abgelehnt. Nach einer Sitzungsunterbrechung erklärte Bsirske, dass nun darüber abgestimmt werden müsse, ob die Verhandlung für gescheitert erklärt wird unter der Maßgabe, einen Erzwingungsstreik führen zu müssen. Dazu stellte er eine Streikplanung vor, die schon im Vorfeld auf große Kritik gestoßen war: Flughäfen und Kraftwerke in den Dauerstreik, Kitas tageweise. In der Debatte erklärten verschiedene Landesleiter, dass eine Streikfähigkeit im Sinne eines Erzwingungsstreiks nicht gegeben sei. Nach dieser Debatte wurde eine erneute Abstimmung durchgeführt: 45 Ja-Stimmen für die Annahme, 30 Nein-Stimmen für die Ablehnung, sechs Enthaltungen. Damit wurde die Empfehlung für die Mitgliederbefragung gegeben, das Verhandlungsergebnis anzunehmen. Rund 74 Prozent der Mitglieder folgten dieser Empfehlung in der Mitgliederbefragung. Die Streikstrategie war deshalb umstritten, weil die Planung nur auf der Basis einer möglichen ökonomischen Schädigung des Arbeitgebers aufgebaut war, um die Streikkasse von ver.di zu schonen. Kritisiert wurde, dass unter diesen Vorgaben ein Erzwingungsstreik im klassischen öffentlichen Dienst nicht mehr möglich sei. Flughäfen und Kraftwerke, die zwar die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes anwenden, aber als Aktiengesellschaften organisiert sind, haben in der Regel bessere Entlohnungsbedingungen als der klassische öffentliche Dienst. Diese als Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit nutzen zu wollen erscheint absurd. Auf den Kopf gestellt wird diese Strategie dann auch noch durch die Vereinbarung im Tarifergebnis, die Beschäftigten der Flughäfen ab dem Jahr 2013 am wirtschaftlichen Erfolg der jeweiligen Unternehmen zu beteiligen, wobei die Beteiligung über das Passagieraufkommen gerechnet werden soll. Nimmt man noch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Bewertung hinzu, kann man nur von einer vertanen Chance sprechen. Die öffentliche Meinung, auch die veröffentlichte Meinung hatte sich ohne Wenn und Aber auf der Seite von ver.di positioniert. Niemals in der Geschichte der Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst war die Zustimmung zu einer gewerkschaftlichen Forderung höher als in den Wochen dieser Tarifrunde. Die Mobilisierung der Beschäftigten war größer als in der Vergangenheit. ver.di hatte in den betroffenen Tarifbereichen die höchsten Eintritte zu verzeichnen seit der Gründung im Jahr 2001. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung im Jahr 2013 vor den Bundestagswahlen keinesfalls eine Tarifrunde im öffentlichen Dienst wollte. Dies wurde als Faustpfand nicht genutzt. Angesichts der Tatsache, dass auch die IGM ab Mai in Tarifauseinandersetzungen ist, wäre ein großer gesellschaftlicher Konflikt möglich gewesen. Deshalb wollten die öffentlichen Arbeitgeber einen schnellen Tarifabschluss. Sie haben dazu erklärt, keine Schlichtung anrufen zu wollen, obwohl sie in dieser Tarifrunde den stimmberechtigten Vorsitzenden der Schlichtung gestellt hätten. Letztendlich lagen alle Vorteile in dieser Auseinandersetzung auf Seiten von ver.di. Hängt man nicht einer Verschwörungstheorie an, bleibt als Erklärungsversuch lediglich die Frage der Finanzierung eines langfristigen Arbeitskampfes übrig. Es scheint so zu sein, dass die Streikkasse nicht prall genug gefüllt ist, um einen längerfristigen Arbeitskampf im öffentlichen Dienst führen zu können. Während die IGM zehn Prozent der Mitgliederbeiträge in die Streikkasse abführt, sind es bei ver.di nur drei Prozent. Hier gilt es in den nächsten Monaten nachzuarbeiten. Ein Streik war nicht gewollt, ein gesellschaftlicher Großkonflikt schon gar nicht! Was bleibt, ist der Frust der Mitglieder und Funktionäre, wieder einmal nicht den Vorgaben der eigenen Veröffentlichungen gefolgt zu sein. Soziale Gerechtigkeit gibt es nur in den Reden zum 1. Mai. Roland Barth Fussnote: Eine Formel, mit der Tarifverträge, die eine Laufzeit von über zwölf Monaten haben, auf eine jährliche Betrachtung heruntergerechnet und so vergleichbar gemacht werden können; Anm. d. Red. * Wir möchten darauf hinwiesen, dass in diesem Absatz des Beitrages von Roland Barth einige Korrekturen im Vergleich zur Printversion im express vorgenommen worden sind. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/12 |