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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

"Gegen die Konkurrenz- und Standortlogik und gegen ihre Akzeptanz durch die Gewerkschaften"

Von Kolleginnen und Kollegen der "Standorte"-Gruppe bei Opel in Bochum (5.9.1995)

(1) Die neuen Strategien, die die Unternehmensmanager derzeit unter dem Namen "Lean production" in den Betrieben einzuführen versuchen (Stichworte: Gruppenarbeit, KVP, neue Entlohnungssysteme, Arbeitszeitflexibilisierung, Fremdvergabe und Auslagerungen, neue Formen der Zuliefereranbindung), bedeuten Rationalisierungsangriffe gegen die Beschäftigten mit krankmachender Arbeitsintensivierung und massivem Arbeitsplatzabbau. Verbunden sind diese Strategien mit dem Versuch, Herz und Verstand der Beschäftigten zum freiwilligen Mitgestalten dieser Rationalisierung zu gewinnen und unter Kontrolle zu bringen, propagiert mit der altbekannten Behauptung, daß allein durch die Gewinnung von Wettbewerbsvorteilen gegenüber Belegschaften anderer Betriebe und Länder die eigene Lohn-, Arbeitsplatz- und Lebensabsicherung erreicht werden könne. Die Unternehmer fordern gesamtgesellschaftliche Akzeptanz dieser Strategien.

(2) Diese Rationalisierungsangriffe geschehen zu einer Zeit anhaltender Massenarbeitslosigkeit und verschärfen diese gleichzeitig massiv. Erwerbslose und Sozialhilfeempfänger gelten als tote Kosten, werden verarmt und unter Druck gesetzt, jede Arbeit anzunehmen. Für alle Beschäftigten steigen Konkurrenz und Anpassungsdruck.

(3) Diese Rationalisierungsangriffe sind Ausdruck von Verwertungsproblemen für das Kapital, die sich seit Ende der 70er Jahre verschärft haben. "Wer von Arbeit und Arbeitslosigkeit redet, muß sich mit den globalen Verhältnissen von Geld und Kapital auseinandersetzen" (E. Altvater).

Dazu einige Stichworte:

  • Krisenentwicklung in den 70er Jahren mit zyklisch steigender Arbeitslosigkeit
  • Internationalisierung von Produktion und Vermarktung, durch EDV/Mikroelektronik wie nie zuvor ermöglicht, durch Zugriff auf die ehemaligen Ostblock-Staaten beschleunigt.
  • Zunehmende Infragestellung von produktiven Investitionsentscheidungen und selbst von nationalstaatlichen Entscheidungen im Sektor Sozialpolitik und Finanzen durch einen nicht kontrollierten, hoch spekulativen monetären Weltmarkt. Down-Regulierung und gesellschaftliche Spaltung als Programm.

(4) Manager charakterisieren ihre Situation selber als "weltweiten Konkurrenzkrieg". Ihre Konkurrenz um maximale Profitraten ist Ausdruck ihres Zwangs, das eigene Kapital erhalten und vermehren zu müssen, bei Strafe ihres Kapital- und Machtverlustes, wenn sie sich in diesem Konkurrenzkampf nicht behaupten.

  • Dieser Konkurrenzzwang verbietet den Unternehmern auch die Rücksichtnahme auf die lokale Ansiedlung ihrer Produktionsstätten. Deren "Standort", der Ort des Kapitaleinsatzes, ist nach Profitgesichtspunkten festzulegen, unabhängig von dem Interesse der Beschäftigten wie Arbeitssuchenden, an ihrem "Standort", ihren Heimatorten,- regionen oder -ländern weiterleben zu wollen.
  • Dieser Konkurrenzzwang zur Kapitalvermehrung auf der Seite der Kapitaleigner zwingt alle diejenigen, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, in Konkurrenz untereinander, besonders verschärft durch die anhaltende und wachsende Massenarbeitslosigkeit.
  • Von Unternehmerseite wird dieser systembedingte Konkurrenzzwang benutzt,
    • erstens innerhalb ihrer Betriebe Konkurrenz zwischen einzelnen, Fertigungsgruppen oder Abteilungen zu schüren, vor allem Belegschaften ihres eigenen Konzerns gegeneinander zu hetzen, auszuspielen und zu erpressen.
    • Die Manager der multinationalen Konzerne benutzen diesen Konkurrenzzwang zweitens zur Ausspielung und Erpressung der Zuliefererunternehmer (die den Druck wiederum an ihre Belegschaften weitergeben),
    • drittens zur Subventions- und Downregulierungserpressung gegen Regierungen von Regionen, Nationalstaaten und Kommunen.

(5) Akzeptiert man diesen Konkurrenzzwang gemeinsam mit den Unternehmern und ihren Managern, als sei dieser Zwang sozusagen naturgegeben, kann man weder "Vollbeschäftigung", noch "Sicherung des Standorts" im Sinne von Lebensort und Lebensstandard der Lohnabhängigen anstreben, noch erst recht eine ökologisch und ökonomisch vernünftige und humane Produktion und Verteilung der Produkte zwecks möglichst bester Bedürfnisbefriedigung der Menschen.

(6) In den Gewerkschaften hat eine fatale Anpassung an die beschriebene Entwicklung stattgefunden. Von jahrzehntelang betriebener Politik der Sozialpartnerschaft zum Co-Management: wir erleben die Gewerkschaften heute hilflos und unfähig, sich den veränderten Bedingungen zu stellen. Ihre Vorschläge beruhen auf falschen Analysen, die zu falschen Schlußfolgerungen führen müssen:

  • Die Konkurrenzprobleme der Unternehmer sind nicht auf "falsche Politik" der Regierung zurückzuführen (so z.B. IGM). Die beklagte "Deregulierungsorgie der 80erJahre" war nicht Ursache "für das Anwachsen der Bedeutung von internationalen Finanztransaktionen" (ebenfalls IGM), sondern Reaktion darauf.

Insofern ist eine auf nationale Rettung, "Standort Deutschland sichern", angelegte Gewerkschaftspolitik eine völlig hilflose Reaktion auf die Zwänge und Strategien des Kapitals.

Und wenn Gewerkschaften propagieren: "Tatenlos sieht die Regierung zu, wie andere Länder ... ihre Märkte brutal nach außen dichtmachen... Und jetzt drängen auch noch die Koreaner auf den Weltmarkt..." (so IGM) oder: "Wollen wir tatenlos warten, bis das erste amerikanische oder japanische Drei-Liter-Auto in Bremerhaven angelandet wird?" (IGM), dann wird vielmehr ein übler und gefährlicher Nationalismus als "Ausweg" propagiert, der die Hoffnungen der Gewerkschaftsmitglieder an die Sicherung "deutscher" Unternehmerprofite auf dem Weltmarkt bindet. (Wobei die Nationalitätsbestimmung eines multinationalen Konzerns immer fragwürdiger wird und solche Gewerkschaftsstrategie die Mitglieder in "nicht-deutschen" Konzernen zum Abschuß freigibt - IGMetaller/innen arbeiten auch z.B. bei Toyota, GM oder Ford...)

  • Ebensowenig stimmt die unablässig von Gewerkschaftsfunktionären aufgetischte Behauptung, "Mißmanagement" sei die Ursache für die nationalen wie globalen Probleme der Kapitalverwertung (so IGM). Gemessen an ihrem Auftrag der Profitmaximierung haben die Manager meist sehr gute Arbeit geleistet...
  • Ebensowenig bedeuten die neuen Rationalisierungsstrategien für die Belegschaften "Überwindung der tayloristischen Arbeitsteilung", "Dezentralisierung der Arbeit", noch sind sie - was ja wirklichen Entscheidungs- und Machtzuwachs zur Voraussetzung hätte - mit "mehr Verantwortung der Beschäftigten bei Fragen von Angebot und Nachfrage nach den Produkten ihrer Arbeit und mit einer stärkeren Einbindung der Beschäftigten in die Unternehmensplanung verbunden." Wer im Anschluß an diese Behauptung dann noch schlußfolgert "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Betriebs- und personalräte werden mehr und mehr zu unternehmerisch mitdenkenden Co-Managern" (DGB-Bundesvorstand), der versucht die Beschäftigten an die Unternehmerpropaganda zu binden. Hier scheint eher der Wunsch der Vater des Gedanken zu sein: als ob "Mitbestimmung" durch die neuen Rationalisierungsstrategien sozusagen "automatisch" installiert wird... Daß durch diese Art von Mitbestimmung als "Co-management" die Macht der Unternehmer gefestigt wird, haben die längst erkannt: "Die Mitbestimmung, wie sie die IG Metall vertritt, akzeptiert die handlungspolitische Funktion des Gewinns und der Wettbewerbsfähigkeit", urteilt der VW-Personalvorstand Peter Hartz aufgrund seiner Unternehmererfahrungen mit der IGM.

(7) Praktische Konsequenzen der falschen Analyse für die aktuelle Gewerkschaftspolitik:

  • Die Gewerkschaften müssen ihre programmmatische Zielvorstellung umdefinieren, wie sie z.B. noch in der Entschließung 1 vom Gewerkschaftstag der IG Metall 1992 nachzulesen ist: "Es ist offenkundig, daß der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Verfassung ... kein Zukunftsmodell sein kann. Eine Gegenmacht, die die Interessen der Menschen an sozialer Gerechtigkeit, Gleichheit der Lebenschancen und ökologischer Erneuerung durchsetzt, bleibt ... erforderlich." Eine "gerechte Weltordnung" und "internationale Solidarität" (E1) kann eine Gewerkschaft nicht mehr fordern, die den Konkurrenzsieg der "deutschen Wirtschaft" auf dem Weltmarkt mitgestalten will.
  • Aktuell wird die Vorstellung von gewerkschaftlicher Gegenmacht (selbst im kapitalistisch positiv zu verstehenden Sinne von mitregulierender Ordnungsmacht, die verschiedenen Branchenkapitalien eine gleiche Konkurrenzchance ermöglicht) aufgekündigt zugunsten von sog. "Gestaltungsmacht" (so der DGB-Chef). Gibt aber der Nationalstaat im Zusammenhang mit der Globalisierung der Wirtschaft seinen Gestaltungsanspruch im Sinne von sozialstaatlicher Regulierung mittels antizyklischer Konjunktur- und Beschäftigungspolitik auf, verliert auch die Gewerkschaft ihre Funktion als national anerkannter "Gestaltungsmacht".

"Gestaltungsmacht" reduziert sich dann nur auf Mitgestalten von Erhalt und Verbesserung der Wettbewerbssituation der Unternehmer, auf Profitsicherung. Angesichts der Weltmarktzwänge kann das nur als Mitgestaltung des eigenen Funktionsverlustes als Gewerkschaft und zu Lasten der Lohnabhängigen funktionieren.

Die Parole "Gewerkschaft als Gestaltungsmacht" wird übrigens dringend gebraucht zur Vorbereitung des nächsten Entwicklungssprungs der Arbeitsorganisation nach lean production: zur Vorbereitung der fraktalen Fabrik, der virtual company, der industriellen Produktion im Rahmen eines zeitlich begrenzten, wie eine Film-Produktion organisierten Projekts. Dabei sind natürlich Flächentarifverträge unmöglich. Sie werden derzeit schon von den Gewerkschaftsführungen immer mehr aufgegeben.

  • Auf betrieblicher Ebene bedeutet diese Strategie der "Mitgestaltung": Im dualen System der deutschen Arbeitnehmervertretung (Gewerkschaften/Betriebsräte) Delegation aller Verantwortung an die ans Betriebsverfassungsgesetz samt Friedenspflicht und Pflicht zu vertrauensvoller Zusammenarbeit gebundenen Betriebsräte, zum Mitgestalten der "Wettbewerbsfähigkeit" im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Logik der Manager unter der Parole der "Standortsicherung". Daraus resultieren dann Betriebsvereinbarungen, die oft bestückt sind mit Zugeständnissen ungeheuren Ausmaßes (Stichworte: Konzessionen zur Produktivitätserhöhung durch Pausendurchfahren, KVP-Mitgestalten u.v.a., Konzessionen bezüglich Lohnabsicherung durch nur teilweise Übernahme von Tariferhöhungen, Lohnverzicht bei Arbeitszeitverkürzung oder neue Lohnsysteme, Konzessionen zur angeblichen Investitionsermöglichung wie z.B. Regelarbeitszeit für Reparatur an Samstagen etc.). Oft werden dabei bestehende Tarifverträge bereits auf Betriebsebene ausgehebelt.

(8) Fazit: Gewerkschaft als Organisation für unsere gemeinsame Interessenvertretung wird von oben aufgegeben. Mit der Aufforderung, die kapitalistische Wirtschaftsordnung als alternativlos zu bejahen und die einzige Chance darin zu sehen, im Konkurrenzkrieg mitzukämpfen und andere Lohnabhängige auf die Verliererseite zu zwingen, wird in die schrumpfende Mitgliedschaft der Gewerkschaften Resignation und Mutlosigkeit getragen.

(9) Aus dem bisher Gesagten ergeben sich für uns folgende Anforderungen:

1. Die Notwendigkeit von Gewerkschaften ergab sich aus ihrer Funktion, die Konkurrenz der Lohnabhängigen durch ihren organisierten Zusammenschluß ein Stück weit aufzuheben. Solidarität ist für uns nicht nur ein moralisches Prinzip, sondern lebensnotwendig.

Die Orientierung an Wettbewerbsvorteilen "beläßt uns Beschäftigte in einer Tretmühle, in einem Rennen, das wir nicht gewinnen können..., es bedeutet Konzessionen heute und noch mehr Konzessionen morgen" (CAW, Canad. AutoWorkers). Sie führt uns in eine Abwärtsspirale, in der immer mehr Standards, die durch einen gemeinsamen und organisierten Kampf erreicht wurden, abgebaut werden.

Wir wollen Gewerkschaften, die den Konkurrenzzwang, dem die Kapitaleigner unterliegen, nicht als Leitlinie ihrer eigenen Überlegungen und Aktivitäten akzeptieren.

Praktisch bedeutet das für uns zum Beispiel:

  • Wir müssen Hintergründe und Ursachen für die Konkurrenzproblematik in den Belegschaften und Gewerkschaften diskutieren und die sog."Standortlogik" als gegen uns gerichtete Unternehmerpropaganda sorgfältig und kontinuierlich entlarven.
  • Bei den typischen Managementerpressungen von Konzessionen zwecks angeblicher Investitionssicherung müssen wir: breitmöglichst darüber informieren, welche Investitionen mit welchen Auswirkungen vom Management geplant werden und welche Konzessionen an welchen Standorten damit erpreßt werden sollen.
  • Die Ausspielerei der Belegschaften müssen wir öffentlich anprangern, möglichst in Absprache und parallel mit unseren KollegInnen der anderen betroffenen Betriebe und Länder.
  • Wir müssen uns auf gemeinsame Ablehnung von Zugeständnissen einigen und dabei die Rückendeckung unserer Gewerkschaften einfordern.
  • Für gemeinsame Widerstandsaktionen gegen die Konzessionserpressungen müssen wir möglichst breite öffentliche Unterstützung organisieren, da meist viele Menschen in den Kommunen und Ländern von den Investiitonsentscheidungen mitbetroffen sind.
  • In den praktischen Auseinandersetzungen um die Einführung der "Lean Production" müssen wir die Chance nutzen, daß die Unternehmer zur Erreichung ihrer Ziele auf "Mitgestaltung", Motivation und Engagement der Beschäftigten angewiesen sind. Ständige Arbeitsintensivierung sowie Arbeitsplatzabbau auch noch selber "mitzugestalten", wird umso schneller als unerträglich und würdelos erkannt, je konsequenter wir diese Erfahrungen mit "lean production" aufgreifen, verallgemeinern und Widerstand mobilisieren. Dabei müssen wir Mut machen durch Veröffentlichung von positiven Beispielen des Widerstands in aller Welt. Diese Herangehensweise bedeutet das Gegenteil von der überwiegend anzutreffenden Gewerkschafts-und Betriebsratspraxis, die die Rücksichtnahme auf die "Wettbewerbssicherung" zur Leitlinie macht.
  • Für unsere eigene Praxis müssen wir uns neu besinnen auf die Bedeutung von eigenen Aktionen der Betroffenen und kritische Korrektur des eigenen "Stellvertreter"-Handelns besonders als Betriebsäte und Betriebsrätinnen. Die Konfrontation mit dem Kapital innerhalb der Betriebe müssen wir auch nach außen offensiver bekanntmachen.
  • Die Mobilisierung von Kolleginnen und Kollegen für einen derartigen Kampf in den Betrieben erfordert wohl auch neue Überlegungen, wie wir insbesondere jüngere KollegInnen einbeziehen können, erfordert, den Blick nicht nur auf die unmittelbaren Lohninteressen zu richten.

2. Dabei müssen wir Gewerkschaften als Interessenorganisation aller einrichten, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft zur Sicherung ihres Lebensunterhalts angewiesen sind, besonders angesichts der Tatsache, daß immer weniger Menschen einer "normalen" Beschäftigung nachgehen.

Praktisch bedeutet das für uns zum Beispiel:

  • Bei gewerkschaftlichen Forderungen wie Aktionen sind möglichst viele Gruppen von Menschen auch außerhalb der Betriebe bewußt einzubeziehen. "Ein Unrecht gegen einen oder eine von uns ist ein Unrecht gegen alle". Umgekehrt müssen wir uns bei sozialen Bewegungen, die auf emanzipative Ziele ausgerichtet sind, zum Engagement mitaufgerufen sehen und unsere Erfahrungen dabei in die betriebliche und gewerkschaftliche Diskussion bringen. Außerbetriebliche und außergewerkschaftliche Bewegungen sind auch darum von besonderer Bedeutung, weil sie den Gedanken einer neuen Bewertung von Arbeit und Leben in eine solidarische Gesamtbewegung tragen können.
  • Die Strategie der Fremdvergabe und Auslagerung sowie die neuen rigiden Formen der Anbindung der Zuliefererbetriebe- und belegschaften an die Herstellerbetriebe macht offenbar, daß das Prinzip der Branchengewerkschaften immer mehr in Frage zu stellen ist. Einheitsgewerkschaft im Sinne politischer und organisatorischer Stärkung des DGB zu fordern, wird allerdings zu sehr grundsätzlichen und harten Auseinandersetzungen innerhalb der Gewerkschaften führen.
  • Dabei wird eine komplizierte kritische Aufarbeitung der Verbürokratisierung der Gewerkschaftsarbeit nicht zu umgehen sein.
a) Wie schätzen die Gewerkschaftsmitglieder zum Beispiel die tagtägliche Arbeit der Betriebsräte ein? Werden auch die BR-Mitglieder unter uns nicht meist eher als verlängerter Arm der Personalabteilung denn als Organisatoren gewerkschaftlichen Widerstands angesehen? Haben sich die Betriebsräte durch langjährige Funktionärstätigkeit, zum Teil finanzielle und arbeitsmäßige Privilegien (Freistellung, Büro-Jobs, Seminare und Reisen, Stellvertreter- und Spezialistenbewußtsein etc.), durch Distanz zu den Alltagserfahrungen und in Lebenseinstellung wie Lebensstil nicht selber zu weit von der Masse der KollegInnen entfernt, so daß sie die BRe eigentlich nicht mehr zu den ihren rechnen?
b) Das gilt ebenso bei einer kritischen und konsequenten Analyse der Gewerkschaftsbürokratie: Die Gewerkschaftsführungen gaben in den frühen Nachkriegsjahren die politische Debatte über Alternativen zum Kapitalismus auf und konzentrierten sich auf die Minderung der negativen Auswirkungen der kapitalistischen Marktwirtschaft. Mit dieser Entwicklung ging eine "Entmündigung der einfachen Mitglieder einher" (Oskar Negt). Viele Funktionäre der oberen Ebenen hatten ihre Vertragsmachterfolge; die Mitglieder wurden immer mehr bevormundet, hatten auf den Warnstreikpfiff zu reagieren. Wobei es um Kampfziele ging, deren Inhalte und Kompromißlinien von vornherein nicht von der Diskussion und Kampfbereitschaft der Mitgliedermassen ausging, sondern von der "Finanzierbarkeit" seitens der Kapitalseite. "Wir mobilisieren nicht, um unsere Forderungen durchzusetzen, sondern um einen Kompromiß möglich zu machen, der erkennbar unter dem liegen wird, was wir für berechtigt und gerecht halten" (H.J. Arlt, DGB-Bundesvorstand) - "Also ein Demokratiedefizit in der Mitgliedschaft, mit dem wir es noch heute zu tun haben." (O. Negt)

"In den offiziellen Gremien ist der Umgang ritualisiert... Als Nachweis erfolgreicher Kommunikationsweise dienen die unterdrückten, nicht die ausgetragenen Konflikte. Wo sie dennoch auftreten, sind Treue und Verrat die entscheidenden Wertmaßstäbe für das Verhalten der Kontrahenten... Drohung, Moralisierung und Belehrung bestimmen das Klima." (H.J. Arlt) (Wieweit geht diese Haltung von Funktionsverlustangst, "Treue"-Zwang schon auf Betriebsebene in BR-Gremien wie Vertrauenskörpern?!)

"Bereits in ihren Lebensstilen haben sich mit Sicherheit sehr viele Funktionäre als Teil dieses Systems betrachtet und nicht als Gegenpart" (O. Negt). Bei diesen Führungsmitgliedern, oft bis auf die Orts-und Betriebebene, hat sich auf der Grundlage ihres Mitbestimmungsbewußtseins und oft aus Minderwertigkeitsgefühlen heraus eine Imitation von Lebensstilen von Politikern, Bankern, Managern entwickelt, "eine Art Spießertum, das sich auch im gewerkschaftlichen Bereich durchsetzte."

War der tiefe Fall von Franz Steinkühler ein Einzelfall? Daß er kein Unrechtsbewußtsein hatte, braucht uns doch ebenso wenig zu verwundern wie die verkrampften Bemühungen damals seitens vieler oberer Gewerkschaftsfunktionäre, ihn "aus Solidarität" in seiner Funktion zu retten.

Jetzt mehr Mitsprache der Mitglieder in den Gewerkschaften zu fordern und systematisch zu organisieren, auch mit der Zielrichtung von mehr Streitkultur und von mehr demokratischer Kontrolle durch die Basis, wird oft zu einem verbissenen Abwehrkampf der Betroffenen zur Sicherung ihrer Jobs, ihrer Macht und ihrer Lebensstile führen.

  • Soziale, ökologische wie politisch progressive Bewegungen müssen wir als Chance zur Stärkung auch der Gewerkschaftsbewegung unterstützen.
  • Alle Möglichkeiten betrieblicher, branchenbezogener und die Zuliefererbelegschaften einbeziehender, wie über die Einzelgewerkschaften hinausgreifender, lokaler, regionaler wie internationaler Vernetzung müssen wir nutzen zum Erfahrungsaustausch wie zur Organisation gemeinsamer Aktionen.

3. Die Zukunft der Gewerkschaften ist international. Den veränderten ökonomischen Bedingungen kann nur eine Gewerkschaftsstrategie gerecht werden, die nicht auf nationale oder regionale - z.B. europazentrierte - Absicherung der Unternehmerwirtschaft setzt.

Praktisch bedeutet das für uns zum Beispiel:

  • Es müssen systematisch Schritte zu internationalem Zusammenschluß der Gewerkschaften im Sinne einer Weltgewerkschaftsbewegung in Gang gesetzt werden. Das kann nur als Internationalismus der Basis angestrebt werden. Zum Bsp.:
    • durch breite Information über gewerkschaftliche Kämpfe in anderen Ländern und deren praktische Unterstützung durch Solidaritätsaktionen,
    • durch Austausch von Erfahrungen und programmatischen Überlegungen unter Einbeziehung möglichst vieler Mitglieder, und damit durch den Versuch, sich punktuell auf gemeinsame Forderungen und Aktionen zu einigen.
    • "Global denken - lokal handeln" muß ebenso zum Prinzip werden wie umgekehrt der Versuch, global zu handeln, in international abgesprochenen Aktionen für gemeinsame Interessen, um lokal Erfolg zu haben.

4. Die global sichtbaren Bedrohungen von Massenarbeitslosigkeit, sozialer Verelendung, Kriegen und ökologischen Katastrophen zwingen uns mehr denn je dazu, in unseren Gewerkschaften und Belegschaften die breite Debatte um gesellschaftliche Alternativen zur kapitalistischen Privatwirtschaft einzufordern und voranzutreiben. Diese Debatte muß inhaltlicher Bestandteil unseres Ausbaus von Vernetzung sein.

Fragen für die Perspektivendebatte sind zum Beispiel:
  • Wo zeigen sich die Widersprüche zwischen vergesellschafteter Produktion und privater Aneignung heute am deutlichsten, sozusagen als breit erkennbare und von uns zu nutzende Bruchpunkte der Entwicklung. Ist mit einer neuen Stufe der globalen Vergesellschaftung der Arbeit auch eine neue Chance geplanter Produktion mit dem Ziel der möglichst besten Bedürfnisbefriedigung aller ermöglicht? Mit einer neudefinierten Vorstellung von "Wachstum": "ökologisch vernünftig, möglichst global zukunftssicher, global emanzipativ, massendienlich...?
  • Wie ist solch ein System von Produktion und Verteilung auf der Grundlage heutiger Technologie, Produktion und Verteilung und ihrer globalen Vernetzung vorstellbar?
  • Welche Bedeutung käme dabei den Großregionen, Ländern, Kommunen zu?
  • Wie ist die Enteignung und Entmachtung der Kapitaleigner und ihrer politischen Vertretung auf globalem Niveau vorstellbar?
  • Welche Organisationsformen für demokratische Gegenmacht und perspektivischer Organisation einer von Kapitalzwängen befreiten globalen Gesellschaft sind vorstellbar?
  • Wie weit sind globale Reformbewegungen -z.B. für Frieden, ökologische Forderungen, gegen Rassismus und Sexismus, für soziale und politische Forderungen- gerade von uns als GewerkschafterInnen mit voranzutreiben und mit Hilfe welcher Organisationen (Nicht-Regierungs-Organisationen? ILO? Rolle von UN-Organisationen? etc), und wo liegen ihre Grenzen? -

"Ein globaler (oder auch nur makro-regionaler) Sozialstaat, d.h. aber auch das Projekt eines globalen Reformismus, ist ebenso utopisch wie die Weltrevolution." (E.Altvater, in "Operationsfeld Weltmarkt oder: Vom souveränen Nationalstaat zum nationalen Wettbewerbsstaat", PROKLA 97, Dez.94, S.525) Andererseits E. Altvater: "In gewissem Sinne gibt es die Institutionalisierung globaler Staatlichkeit tatsächlich: in Gestalt von Weltbank, IWF, GATT/WTO, UNO... Aber ... ohne die Regelungskompetenzen von Nationalstaaten tatsächlich zu ersetzen." (a.a.O S.537 f.) Und: "Auch auf dem Detroiter Gipfel der G7 im März 1994 wurde zum erstenmal...Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik thematisiert, - ein Indiz dafür, daß sich jenseits des Keynesianismus, aber auch jenseits des neoklassischen Marktliberalismus ein neues politisches Projekt staatlicher Regulation und Koordinierung von Wettbewerbspolitik herausschält. Dies zielt offensichtlich auf die Erhaltung eines beschäftigungspolitischen Minimalkonsenses, an dem alle Staaten, gleichgültig wie sehr sie gegeneinander konkurrieren, doch interessiert sind." (in: "Beschäftigungspolitik jenseits von Nationalstaat und 'Arbeitszentriertheit'", WSI-Mitteilungen 6/94,S.350)

Solch eine widersprüchliche Hoffnung auf ein "neues politisches Projekt" globaler Regulation scheint sich heute zu verbreiten. (vgl auch J.Brecher, T.Costello, "Global Village or global Pillage", Boston 1994). Hoffnungsträchtiger mehr Menschen sich in der Auseinandersetzung um unsere Alltagskonflikte wie um unsere Zukunft in Bewegung setzen. Und das hängt eben auch von uns ab.

Ist unsere Zukunftsperspektive allerdings, wenn wir uns all den angesprochenen grundsätzlichen Fragen des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems stellen und darauf setzen, daß wir uns den Lösungen am ehesten nähern, je mehr Menschen sich in der Auseinandersetzung um unsere Alltagskonflikte wie um unsere Zukunft in Bewegung setzen. Und das hängt eben auch von uns ab.


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