letzte Änderung am 06. Juni 2003

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Für eine Neubestimmung der Rolle der Gewerkschaften

Gewerkschaftliche Autonomie zurückgewinnen

Die Agenda 2010 macht auch den gutgläubigsten sozialdemokratischen Gewerkschaftern deutlich, welch tiefe Zäsur der Nachkriegspolitik hier stattfindet, auf die seit 20 Jahren hingearbeitet wird. Es besteht kein Zweifel, dass dies unter dem Strich der bislang größte Angriff auf die Sozialsysteme ist.

Die Axt wird an zentrale Säulen der Sozialversicherungssysteme angelegt. Die entscheidenden Prämissen der neoliberalen Politikdoktrin werden fortgesetzt, nämlich alles zu tun was, der Kapitalakkumulation dienlich ist, und peu à peu alles zurückzudrängen, um- oder abzubauen, was soziale Kosten verursacht. Die Begründungen können wir bei den konservativ-liberalen Vorgängern nachlesen.

Diese Politik, betrieben von einem sozialdemokratischen Kanzler, dessen Wiederwahl die Gewerkschaften vor einem halben Jahr gefördert haben, und der Bruch zentraler Wahlversprechen zwingt die Gewerkschaften, sich politisch neu zu positionieren. Grob gesagt gibt es dabei zwei Optionen:

  1. Sie können durch Anpassung Reform- und Anschlussfähigkeit an die Regierungspolitik zeigen (Modell Schmoldt). Das wäre nur möglich, wenn wesentliche Prämissen des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses von sozialer Gerechtigkeit aufgegeben und eine Beschränkung auf Lobby- und Klientelpolitik durchgesetzt würde.
  2. Sie können sich als bewusstes Gegengewicht gegen die herrschende neoliberale Politik, als politischer Anwalt und Interessenorganisation aller Lohn- und Gehaltsempfänger, einschließlich der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und Rentner verstehen. Das würde mittelfristig eine Orientierung auf die Rolle einer außerparlamentarischen Opposition mit starker betrieblicher Verankerung bedeuten. Neue und zum Teil ungewohnte Bündnisse mit anderen Gruppen wie Attac, Kirchen, Sozialverbände usw. müssten aufgebaut und für die breite Mobilisierung und Aufbau einer Gegenbewegung erprobt werden.

Das letztere Modell bedeutet die offensive Wahrnehmung des politischen Mandats der Gewerkschaften ohne eine mehr oder weniger offene Präferenz für eine Partei. Sie müssten also genau die Rolle einnehmen, die ihnen massiv und unter Einsatz aller demagogischen Mitteln von den bürgerlich-liberalen und vermehrt auch von den sozialdemokratischen Politikern abgesprochen wird. Um diese Rolle wahrnehmen zu können, müssen auch Ausmaß und Hintergrund der aktuellen Politik diskutiert und begriffen werden. Ich nenne nur einige Punkte:

Klassenkompromiss aufgekündigt

All das führt zu dramatischen Veränderungen der sozialen Verhältnisse und der Rolle der Gewerkschaften in der Gesellschaft. Die in den Hintergrundpapieren zur Kommunikationskampagne des DGB öfters durchscheinende Hoffnung, dass Flächentarifvertrag und sozialer Friede doch auch dem Kapital soviel wert sein müssten, dass es – wenn auch auf schlechterem Niveau – wieder zu mehr sozialpartnerschaftlicher Politik zurückkehrt, ist illusionär und für den Aufbau wirkungsvoller Gegenwehr lähmend. Das Kapital hat den Klassenkompromiss der 60er und 70er Jahre längst aufgekündigt. Die aktuelle Diskussion um die Gewerkschaften als Bremser, Blockierer oder gar als Plage zeigt, dass man auf die Einbindung der Gewerkschaften keinen großen Wert mehr legt, es sei denn, sie gehen den Schmoldtschen Weg der Kapitulation und Anschlussfähigkeit an die Regierungspolitik.

Insoweit ist die Wahrnehmung des politischen Mandats der Gewerkschaften keine kurzfristige Angelegenheit, sondern erfordert eine neue Definition ihrer gesellschaftlichen Rolle und Identität.

Kapitalismuskritik und mehr

Stichwortartig sollen hier einige Grundlagen für diese etwas ungewohnte Rolle der deutschen Gewerkschaften angesprochen werden.

Letztendlich wird ein Umorientierung der Gewerkschaftspolitik ohne Änderung ihrer inneren Struktur kaum gelingen. Die Repolitisierung der Gewerkschaften erfordert die Politisierung der Mitglieder, die Öffnung für neue soziale Gruppen, Bündnisfähigkeit und die bewusste Weiterentwicklung der innergewerkschaftlichen Demokratie.

Bernd Riexinger, Stuttgart
Bernd Riexinger ist geschäftsführender Sekretär in der Bezirksverwaltung von Ver.di Stuttgart.

Der Beitrag ist erschienen in SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 vom Juni 2003

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