Für eine Neubestimmung der Rolle der Gewerkschaften
Gewerkschaftliche Autonomie zurückgewinnen
Die Agenda 2010 macht auch den gutgläubigsten sozialdemokratischen Gewerkschaftern
deutlich, welch tiefe Zäsur der Nachkriegspolitik hier stattfindet, auf
die seit 20 Jahren hingearbeitet wird. Es besteht kein Zweifel, dass dies unter
dem Strich der bislang größte Angriff auf die Sozialsysteme ist.
Die Axt wird an zentrale Säulen der Sozialversicherungssysteme angelegt.
Die entscheidenden Prämissen der neoliberalen Politikdoktrin werden fortgesetzt,
nämlich alles zu tun was, der Kapitalakkumulation dienlich ist, und peu
à peu alles zurückzudrängen, um- oder abzubauen, was soziale
Kosten verursacht. Die Begründungen können wir bei den konservativ-liberalen
Vorgängern nachlesen.
Diese Politik, betrieben von einem sozialdemokratischen Kanzler, dessen Wiederwahl
die Gewerkschaften vor einem halben Jahr gefördert haben, und der Bruch
zentraler Wahlversprechen zwingt die Gewerkschaften, sich politisch neu zu positionieren.
Grob gesagt gibt es dabei zwei Optionen:
- Sie können durch Anpassung Reform- und Anschlussfähigkeit an die
Regierungspolitik zeigen (Modell Schmoldt). Das wäre nur möglich,
wenn wesentliche Prämissen des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses
von sozialer Gerechtigkeit aufgegeben und eine Beschränkung auf Lobby-
und Klientelpolitik durchgesetzt würde.
- Sie können sich als bewusstes Gegengewicht gegen die herrschende neoliberale
Politik, als politischer Anwalt und Interessenorganisation aller Lohn- und
Gehaltsempfänger, einschließlich der Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger
und Rentner verstehen. Das würde mittelfristig eine Orientierung auf
die Rolle einer außerparlamentarischen Opposition mit starker betrieblicher
Verankerung bedeuten. Neue und zum Teil ungewohnte Bündnisse mit anderen
Gruppen wie Attac, Kirchen, Sozialverbände usw. müssten aufgebaut
und für die breite Mobilisierung und Aufbau einer Gegenbewegung erprobt
werden.
Das letztere Modell bedeutet die offensive Wahrnehmung des politischen Mandats
der Gewerkschaften ohne eine mehr oder weniger offene Präferenz für
eine Partei. Sie müssten also genau die Rolle einnehmen, die ihnen massiv
und unter Einsatz aller demagogischen Mitteln von den bürgerlich-liberalen
und vermehrt auch von den sozialdemokratischen Politikern abgesprochen wird.
Um diese Rolle wahrnehmen zu können, müssen auch Ausmaß und
Hintergrund der aktuellen Politik diskutiert und begriffen werden. Ich nenne
nur einige Punkte:
Klassenkompromiss aufgekündigt
- Die Hegemonie der neoliberalen Politik ist weltweit so groß, dass
sie nicht eine vorübergehende Erscheinung bleiben wird. Zwar ist diese
Politik objektiv gescheitert und hat auch nirgendwo zu einem dauerhaften Aufschwung
geführt, auch besteht nirgendwo ein so großer Unterschied zwischen
propagierter Ideologie und der Wirklichkeit, aber ihre Profiteure, insbesondere
die transnationalen Konzerne, werden alle ihnen zur Verfügung stehenden
Mittel einsetzen, damit diese Politik fortgeführt wird.
- Die Tiefe der ökonomischen Krise darf nicht unterschätzt werden.
Die Reichtumsanhäufung des Kapitals und der Vermögenden geschieht
seit Jahren nicht mehr durch Wachstum und Einsatz neuer Technologie, sondern
durch Umverteilung. Die aktuelle Politik, die diese Umverteilung fördert
und sich voll den Bedürfnissen der Kapitalverwertung unterordnet, wird
die Krise noch weiter verschärfen, vor allen Dingen wird sie die soziale
Polarisierung verstärken. Die Hoffnung, dass in absehbarer Zeit ein sich
selbst tragender Aufschwung kommen wird, der die Position der Gewerkschaften
stärkt, dürfte so schnell kaum in Erfüllung gehen. Auch die
Hoffnung, dass die Krise durch eine keynesianische Nachfragepolitik, so wichtig
sie wäre, gelöst werden kann, dürfte letztendlich zu kurz greifen.
All das führt zu dramatischen Veränderungen der sozialen Verhältnisse
und der Rolle der Gewerkschaften in der Gesellschaft. Die in den Hintergrundpapieren
zur Kommunikationskampagne des DGB öfters durchscheinende Hoffnung, dass
Flächentarifvertrag und sozialer Friede doch auch dem Kapital soviel wert
sein müssten, dass es wenn auch auf schlechterem Niveau wieder
zu mehr sozialpartnerschaftlicher Politik zurückkehrt, ist illusionär
und für den Aufbau wirkungsvoller Gegenwehr lähmend. Das Kapital hat
den Klassenkompromiss der 60er und 70er Jahre längst aufgekündigt.
Die aktuelle Diskussion um die Gewerkschaften als Bremser, Blockierer oder gar
als Plage zeigt, dass man auf die Einbindung der Gewerkschaften keinen großen
Wert mehr legt, es sei denn, sie gehen den Schmoldtschen Weg der Kapitulation
und Anschlussfähigkeit an die Regierungspolitik.
Insoweit ist die Wahrnehmung des politischen Mandats der Gewerkschaften keine
kurzfristige Angelegenheit, sondern erfordert eine neue Definition ihrer gesellschaftlichen
Rolle und Identität.
Kapitalismuskritik und mehr
Stichwortartig sollen hier einige Grundlagen für diese etwas ungewohnte
Rolle der deutschen Gewerkschaften angesprochen werden.
- Alle sozialreformerischen Forderungen, wie ein Investitionsprogramm für
die Kommunen, aktive Arbeitsmarktpolitik, Arbeitszeitverkürzung, Einnahmeverbesserungen
für die Sozialversicherungen usw. können nur verankert werden, wenn
sie mit der Verteilungsfrage von Reichtum und Vermögen verbunden und
wenn für diese Forderungen auch soziale Kämpfe organisiert werden.
- Wir müssen uns bewusst sein, dass auch die Gewerkschaftslinke ein im
Wesentlichen sozialreformistisches Konzept hat und der verstorbene Helmut
Schauer hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Reformismus in seiner
größten Krise ist. Insofern werden wir auch Positionen entwickeln
müssen, die über die kapitalistische Waren-, Konkurrenz- und Marktlogik
hinausgehen. Kurzum: Kapitalismuskritik und das Ringen um eine andere Weltwirtschaftsordnung
müssen wieder stärker entwickelt werden.
- Weil die Voraussetzungen für die wirkungsvolle Wahrnehmung des politischen
Mandats weder in der gewerkschaftlichen Führung noch an der gewerkschaftlichen
Basis vorhanden sind, müssen diese in einem nicht einfachen und mit einigen
Rückschlägen verbundenen Prozess erst geschaffen werden. Dazu gehört,
dass in einer Eskalationsstrategie von regionalen, landesweiten bis hin zu
bundesweiten Demonstrationen (wo möglich auch innerhalb der Arbeitszeit)
entschiedene Gegenwehr gegen den Sozialabbau aufgebaut wird. Die Gewerkschaften
dürfen sich hierbei nicht auf die SPD-Linke verlassen, so wichtig deren
Gegenwehr ist. Sie müssen ihren eigenen Beitrag zur Gegenwehr leisten,
sonst können sie schnell zum Bestandteil der zu erwartenden Niederlage
der SPD-internen Kritiker der Agenda 2010 werden.
- Zur Gegenwehr gegen Sozialabbau gehört auch der Widerstand gegen den
Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge durch Ausgliederung und Privatisierung
öffentlicher Dienstleistungen.
- Hier treffen sich gemeinsame Interessen von Beschäftigten, Bürgerinnen
und Bürgern, Globalisierungskritikern. In den nächsten Jahren wird
sich entscheiden, ob öffentliche Güter (Wasser, Erziehung, Bildung,
ÖPNV, Gesundheitsversorgung usw.) der Kapitalakkumulation zugeführt
werden oder als Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge erhalten
werden können.
- Ohne eine stärkere internationale Orientierung und Vernetzung werden
die überwiegend national operierenden Gewerkschaften dem zunehmend globalisierten
Kapital kaum etwas entgegensetzen können.
- Die Gewerkschaften alleine werden kaum Träger einer solchen Politik
sein können. Sie müssen sich am Aufbau sozialer Netze auf regionaler,
nationaler und internationaler Ebene beteiligen, wie das vielerorts oder beim
Weltsozialforum und beim Europäischen Sozialforum in Ansätzen schon
geschieht.
Letztendlich wird ein Umorientierung der Gewerkschaftspolitik ohne Änderung
ihrer inneren Struktur kaum gelingen. Die Repolitisierung der Gewerkschaften
erfordert die Politisierung der Mitglieder, die Öffnung für neue soziale
Gruppen, Bündnisfähigkeit und die bewusste Weiterentwicklung der innergewerkschaftlichen
Demokratie.
Bernd Riexinger, Stuttgart
Bernd Riexinger ist geschäftsführender Sekretär in der Bezirksverwaltung
von Ver.di Stuttgart.
Der Beitrag ist erschienen in SoZ - Sozialistische Zeitung Nr. 6 vom Juni
2003