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Updated: 18.12.2012 15:51
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»Selber denken«

Ein Gespräch über Gewerkschaftsautonomie, alte und neue Sozialdemokratie / Teil I

»Die SPD hat sich von den Gewerkschaften verabschiedet, die Gewerkschaften aber nicht von der SPD«, soweit der gemeinsame Ausgangspunkt in der Redaktionsdiskussion. Doch welche Bedeutung haben vor diesem Hintergrund Ereignisse wie die Großdemonstration am 3. April? Welche Chancen und welche Not-wendigkeiten bestehen für eine Emanzipation der Gewerkschaften von ihrem »parlamentarischen Arm«? Braucht es eine neue »Wahlalternative«? Was würde Repolitisierung und Autonomie der Gewerkschaften unter den aktuellen sozialen und ökonomischen Bedingungen heißen? Darüber sprachen Heinz-Günter Lang (Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken), Anton Kobel (Ex-Geschäftsführer ver.di) und Kirsten Huckenbeck kurz nach dem 3. April.

Als Einstieg ein paar Stichworte zur Bilanz der Sozialdemokratie in der Regierung. Was ist seit den letzten Wahlen passiert? Im Rahmen der Steuerreform wurde der Eingangssteuersatz zwar gesenkt auf 16 Prozent, der Spitzensteuersatz jedoch auch: auf 45 Prozent. Das ALG I wurde auf zwölf Monate gekürzt, Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden ab 2005 zusammen gelegt, das daraus entstehende ALG II auf pauschal 345 Euro (West) ab 2005 gesenkt, die Zumutbarkeitsgrenzen bei der Vermittlung wurden gesenkt, d.h. es besteht nun die Möglichkeit, Leute in Mini-Jobs, Teilzeitjobs oder gemeinnützige Arbeiten ohne Qualifikations- und Entgeltbindung zu zwingen, der Kündigungsschutz gilt erst für Betriebe mit mehr als zehn Arbeitern bzw. Angestellten, die Sozialauswahl bei den Kündigung wurde enger gefasst... Vielfach wird nun gesagt, die Legitimation für diese Sorte Politik sei im Schwinden begriffen. Das drückt sich auch in den Mitgliederzahlen der SPD aus: Seit Regierungsübernahme sind es über 130000 weniger. Im Jahr 2003 traten 50000 aus, allein im ersten Quartal 2004 haben über 22000 Mitglieder die SPD verlassen. Hier gibt es eine Progression, die offensichtlich damit zu tun hat, dass die Folgen der Politik der »Neuen Mitte« immer deutlicher werden.

Was bedeutet vor diesem Hintergrund ein Ereignis wie die Demonstration am 3. April? Die taz kommentierte im Vorfeld, die Sozialdemokratie habe ihre Legitimationsbasis in den sozialen Bewegungen verloren. Sie schlussfolgerte, die sozialen Bewegungen bräuchten diese Politik auch gar nicht mehr und stellte die Unabhängigkeit der Bewegung vom 3. April gegenüber der Sozialdemokratie heraus. Dagegen gibt es eine ande-re Einschätzung, wie sie u.a. von der neu gegründeten »Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit« vertreten wird, nach der die SPD sich als politische Organisation verabschiedet hat von der Interessenvertretung der abhängig Arbeitenden und sozial Schwachen. Es bräuchte daher eine ernst zu nehmende Alternative für die nächste Bundestagswahl.

Im Unterschied zur taz steht hier offenbar die Überlegung im Hintergrund, diese Proteste und soziale Bewegung seien alleine nicht genug. Es brauche einen politischen Ersatz für die SPD, eine organisierte Form und eine parlamentarische Repräsentanz dafür. Braucht es also eine neue Links-Partei und warum? Wie wäre eure Einschätzung zum 3. April und zur These von der »neuen Unabhängigkeit« von der Sozialdemokratie, insbesondere unter GewerkschafterInnen?

AK: Aus gewerkschaftlicher Sicht würde ich die Frage, ob es eine neue Links-Partei braucht, nicht unbedingt mit Ja beantworten. Gewerkschaften brauchen eine Beziehung zu Parteien, weil Parteien über den parlamentarischen Raum wesentliche Regularien des Sozialstaates festlegen, vom Bundesurlaubsgesetz angefangen, über Renten- und Krankenversicherung etc. Keine Gewerkschaft schafft über die Tarifautonomie ein soziales System, wie es in der BRD gesetzlich geschaffen wurde. Und wenn die Gewerkschaften etwas Vergleichbares hinbekämen, wäre die Frage, für wen dies gälte. Ein Gesetz gilt für alle, ein Tarifvertrag nur für Mitglieder und Betriebe, die sich dem unterwerfen – und zwar freiwillig. Von daher würde ich erst mal unterscheiden: Brauchen die Gewerkschaften die Beziehungen zu Parteien? Da würde ich sagen Ja. Ob sie die Beziehungen zur SPD brauchen, wie sie einmal waren, bzw. ob sie diese Beziehungen jemals wieder herstellen können, da habe ich aktuell erhebliche Zweifel. Hier teile ich die Einschätzung von Bodo Zeuner, dass die SPD die Gewerkschaften verabschiedet hat – und die Gewerkschaften müssen dies zur Kenntnis nehmen. Sie müssen akzeptieren, dass die SPD mit ihnen nicht mehr das Gleiche zu tun haben will wie in der Vergangenheit. Von daher müssen die Gewerkschaften sich neu formieren. Unabhängig davon habe ich die bisherige Bindung der Gewerkschaften zur SPD ohnehin für falsch gehalten. Es gibt jetzt die Chance – mit allen Risiken, die wir auch diskutieren sollten –, dass die Gewerkschaften sich autonom gegenüber allen Parteien verhalten könnten, unabhängig auch von traditionellen und historisch bedingten Beziehungen zur SPD.

HGL: Das linke Potential in der BRD ist ja wesentlich kleiner, als man so denkt. Es gibt eine Basis dafür, aber die ist klein und nicht eine Massenbewegung. Und auch die, die jetzt alle demonstriert haben, sind keine Massenbewegung. Eine halbe Million Menschen, das ist gut. Aber das ist nicht die Masse der Bevölkerung. Und wenn Du überlegst, wer da im Einzelnen demonstriert hat, welche Gruppen und z.T. Sekten, dann weiß man auch, dass nicht alle, die demonstriert haben, eine neue Partei wollen. Dass die nichts mehr mit der SPD am Hut haben, ist etwas anderes. Aber die haben auch nichts mit den Grünen am Hut. Meine Einschätzung ist: Die haben im Moment mit dem parlamentarischen System und den Parteien insgesamt Probleme, weil nicht mehr klar ist, was daraus für abhängig Beschäftigte noch entwickelt werden kann. Und welche Möglichkeiten es noch gibt, über diesen Weg etwas zu verändern.

Hat die Protestbewegung vom 3. April mit dem parlamentarischen System Probleme oder mit der realen Politik der Sozialdemokratie im Verhältnis zu dem, für was die Sozialdemokratie steht?

HGL: Beides. Wenn etwas klar ist, dann dass es immer weniger an Beeinflussungsmöglichkeit oder Mitwirkungsmöglichkeit für die breite Masse der Bevölkerung in diesem System gibt, mit dem auch ich meine Probleme habe.

AK: ... Andererseits habe ich noch nie in den letzten 25 Jahren so viele aktive Betriebsrats-Mitglieder erlebt, die sagen, wir brauchen eine neue Partei. In welcher Form die dann mitmachen würden, ist unklar. Es kann gut sein, dass sie nur sagen würden: »Das geht so nicht, die sollen mal – wir kritisieren sie dann«, das wäre das klassische Problem der Stellvertreterpolitik. Es sind aber lauter aktive Gewerkschaftsmitglieder, keine Linksradikalen, die sagen: »Das geht so nicht«. Weil sie wissen, dass sozialstaatliche Regelungen über die Parteien bestimmt werden. Und weil sie das, was aktuell sozial passiert, ankotzt.

Eines der Argumente der »Wahlalternativen« für die Gründung einer neuen Partei war, dass das jetzige parlamentarische System keines mehr sei, weil es keine Opposition mehr kenne. Es gebe keine Differenz mehr zwischen Oppositions- und Regierungspolitik. Die Differenzierung zwischen den Parteien gerade in Bezug auf sozialpolitische Inhalte schwinde. Dann wäre das aber eher das Problem, dass eine bestimmte Politik von der SPD nicht mehr gemacht wird, die nun erneut eingefordert wird, und nicht, dass in der Protestbewegung die Notwendigkeit von Stellvertreterverfahren des parlamentarischen Parteiensystems angezweifelt und auf eigenständige politische Interessenartikulation gesetzt würde.

AK: Wie gesagt: Gewerkschaften müssen ihre Beziehungen zu Parteien abklären. Sie könnten sich entscheiden, selbst mehr Parteicharakter zu übernehmen – was auch problematisch ist –, aber es reicht nicht, einfach zu sagen, jetzt gibt es eine neue Partei, selbst wenn diese das Wohlwollen der Gewerkschaftsführungen erhält. Das wäre lediglich ein Austauschen des bisherigen Partners. Damit wäre noch keine veränderte Gewerkschaftspolitik verbunden. Ich denke, für Gewerkschaften ist es nicht so wichtig, ob es eine neue Partei gibt, sondern wie sie sich auf Parteien beziehen. Akzeptieren wir, dass wir autonom sind, dass die SPD uns nicht mehr mag? Ich denke, dass wir uns überlegen müssen, wie die Politik der Gewerkschaf-ten selbst weiter geht: Wie weit können wir mobilisieren? Wie weit können wir Druck ausüben?

Bsirske als ver.di- und Peters als IGM-Vorsitzender hatten sich gegen die Absicht einer Parteineugründung ausgesprochen, von Wohlwollen zeugt dies nicht.

HGL: Bsirske braucht dazu ohnehin nichts zu sagen, der ist ja bei den Grünen. Wenn, dann müsste er eigentlich so argumentieren, wie Anton jetzt argumentiert hat. Wir brauchen unsere eigene Position zu Parteien insgesamt und zum Parlamentarismus – als Gewerkschaften.

AK: Zumindest solange über Parlamente bestimmte Lebensbedingungen der Lohnabhängigen geregelt werden. Ich hielte es für irre, wenn wir sagen würden: »Wir verlassen uns auf die eigenen Kraft und regeln alles über Tarifverträge«. Das wäre ein Wahnsinnsanspruch der Gewerkschaften, den sie nicht realisieren können.

HGL: Was wir aktuell brauchen, ist eine Art APO. Wir brauchen außerparlamentarische Kräfte, die gegen und in die Parteien und gegen und in das Parlament wirken. Diese politische Kraft müssten Gewerkschaften eigentlich auch sein. Das Problem ist, dass sie immer noch gefangen sind in diesem System, in dieser Hoffnung auf den parlamentarischen Arm Sozialdemokratie.

Auf was gründet sich die derzeitige Distanz zur Sozialdemokratie denn inhaltlich? Ist das nur eine vorüber-gehende Distanzierung, weil punktuell die Grenzen überschritten wurden, die Richtung – Beschäftigungseffekte durch moderne Varianten der Lohnsenkung – aber eigentlich in Ordnung ist? Oder handelt es sich um eine substanziellere Loslösung von der gesamten politischen Richtung der Sozialdemokratie? Konkret: Ist das Maß voll, weil die Agenda-Reformen schlecht gemacht sind und deshalb die versprochenen Beschäftigungseffekte ausbleiben, oder weil es sich dabei um Bausteine in einer Generallinie der Lohndrückerei und des Angriffs auf die Lohnabhängigen handelt? Viele scheinen doch zu glauben, dass sie die SPD mit ein bisschen Druck wieder zur Raison bringen könnten. DGB-Chef Sommer sagt z.B., er hielte es für eine »Riesentorheit, eine neue Partei zu gründen« und warnt explizit davor, sich in solchen Initiativen zu verzetteln, statt die SPD – wie am 3. April – anders unter Druck zu setzen.

AK: Der Linken in den Gewerkschaften müsste es darum gehen zu klären, ob es sich bei der Parteineugründung um eine rein taktische Angelegenheit handelt, indem gegenüber der SPD damit gespielt wird, dass ihr etwas weggenommen werden könnte. Das ist auch erlaubt. Aber die Grundsatzdebatte für den Fall, dass die Gewerkschaften es akzeptieren würden, dass die SPD nichts mehr von ihr will – es ist ja nicht so, dass die Gewerkschaften nichts mehr von der SPD wollten –, ist die über die Risiken, die mit solch einer neuen Autonomie verbunden sind. Das würde nämlich heißen, dass man die bisherige Lobbyarbeit und die Vertretung in den Parteien, vor allen Dingen in der SPD, über die bisherigen Einflussverbindungen so nicht mehr wahrnehmen kann. Das würde wiederum bedeuten, dass man sehr viel stärker aus dem außerparlamentarischen Raum mobilisieren muss, und zwar immer wieder. Ob dazu genug Kraft, genug Bereitschaft da ist, das ist nach den vielen Jahrzehnten der Stellvertreterpolitik eine offene Frage. Wir haben es alle schon erlebt, dass wir dachten, die Verhältnisse sind so, und die Leute sind so, dass sie auf die Straße gehen, wenn wir sie nur rufen. Aber das ist nicht so einfach. Auch für den 3. April mussten wir in den Betrieben sehr, sehr viel Aufklärungsarbeit leisten, damit überhaupt diese relevanten Zahlen zustande kamen. Das ist ein politischer Prozess der Bereitschaft, sich selbst einzusetzen, das erfordert eigene Aktivitäten, Eigeninitiative, das heißt aktive Demokraten. Dieser Prozess steht erst am Anfang. Und das bedeutet für die Gewerkschaften sehr viel.

Wie ist denn der Mobilisierungsprozess in den Gewerkschaften gelaufen? Welche Motive hatten Eurer Erfahrung nach GewerkschafterInnen, auf die Straße zu gehen?

AK: Es waren viele Anhänger von linken Klein-Parteien da, die aus anderen Gründen hingegangen sind als Leute, die z.B. wegen der Praxisgebühr da waren, oder Rentner, die wegen ihren spezifischen Benachteiligungen hingegangen sind. Wenn ich mir ansehe, wer aus Mannheim alles dabei war, dann gibt es da schon einen gewaltigen Unterschied zwischen all den Leuten aus dem Handel, die wir in Betriebsversammlungen aufgeklärt haben, und dem klassischen linken Spektrum, das sich immer trifft, z.B. für eine Anti-Kriegsdemonstration mit vielleicht 100 Leuten.

HGL: Ich denke, in den Köpfen der meisten Menschen ist immer noch die Vorstellung drin, dass die Sozialdemokraten die Vertreter der Arbeitnehmer sind. Und am 3. April waren viele da, die sauer sind über den ganzen Scheiß, den die SPD macht. Ob die CDU da mitspielt oder nicht mitspielt, das ist erst Mal uninteressant. Es ist die SPD, die diese Politik macht – sie versteckt sich nur manchmal hinter den Kompromissen mit Koalitionspartner und Opposition. Viele waren genau aus diesem Grund da. In Stuttgart gab es viele, die »Schröder weg« auf ihren Transparenten hatten, und einige von denen, die eine neue Partei gründen wollen. Das ist aber, nach dem, was ich sehen konnte, nicht so angekommen. Es war nicht so, dass viele Leute drum herum gestanden und geklatscht hätten, sondern die sind denen eher ausgewichen.

AK: Auch die Wahlenthaltungszahlen, die sprechen noch nicht für das Neue. Die haben noch keine andere Beziehung zur SPD, sondern sie sind von deren Politik enttäuscht. Die niedrigen Wahlbeteiligungen könnte man auch vergleichen mit der Haltung in den Gewerkschaften, die auch gerade nicht wissen, was sie machen sollen. Das ist jedoch eine gute Situation, denn ab und zu wird einfach deutlich, dass man selber denken muss.

HGL: Unser Problem ist, dass nach wie vor die Gewerkschaften als Anhängsel der SPD gesehen werden. Das sind sie aber gar nicht. Nimm Engelen-Käfer, die ist selbst im Parteivorstand...

Bei der Frage, wie autonom die Gewerkschaften sind und wie weit die Distanzierung zur SPD reicht, ist in der Tat auf die Nähen einzugehen, die zur SPD bestehen. Die liegen doch vor allem auf der Ebene gemeinsamer wirtschaftspolitischer Vorstellungen. So wurden eine Reihe der Agenda-Projekte gemeinsam mit der SPD verhandelt, wie der Tarifvertrag für Leiharbeitskräfte der PSAen, mit dem die Gewerkschaften sich ins eigene Fleisch geschnitten haben...

HGL: Das haben Leute verhandelt, die nie Tarifverhandlungen geführt, sondern immer nur darüber geschrieben haben.

... indem sie Beschäftigungsverhältnisse in einer Situation tarifiert haben, in der die Leiharbeitnehmer ohne diesen Tarifvertrag, also auf gesetzlicher Basis, besser gefahren wären. Das lässt sich doch nur damit erklären, dass die wirtschaftspolitischen Hintergrundannahmen, Niedriglöhne, Senkung der Lohnnebenkosten und Flexibilität im Sinne der Bedürfnisse des Kapitals seien im Rahmen des internationalen Standortwettbewerbs notwendig, um Arbeitsplätze zu erhalten, geteilt werden, während zugleich darauf beharrt wird, dass es die Gewerkschaften selbst sein sollen, die dieses Lohndumping tarifieren. Zur Politik der Lohnnebenkostensenkung und Lohnzurückhaltung muss man nur einen Blick auf das letzte Jahrzehnt der Standort-sicherungsvereinbarungen und der Beteiligung an den diversen Bündnissen für Arbeit werfen. Wenn überhaupt, dann würde ich ein Distanzierungspotential gegenüber der SPD eher dort sehen, wo es um die Tarif-Autonomie, also ums ›Kerngeschäft‹ der Gewerkschaften geht. Genau an diesem Punkt gab es letzten Herbst die heftigsten Proteste, auch seitens der Gewerkschaftsvorstände, nachdem die gleichen Vorstände die Proteste gegen die Sozialpolitik der SPD und gegen Agenda 2010 im Frühsommer abgewürgt hatten.

AK: Ja, aber: Wer würde für die Tarifautonomie tatsächlich auf die Barrikaden gehen? Die Gewerkschaftsführungen und ein paar Bewusste. Ich bin mir nicht sicher, dass es selbst zum Thema Tarifautonomie aus dem Stand eine große Bewegung gäbe. Das wäre ein Mordsaufwand an Diskussionen, um den Mitgliedern klar zu machen, was die Tarifautonomie eigentlich bedeutet. Tarifautonomie ist ein klassisches Verfassungsrecht. Das heißt aber noch lange nicht, dass es in den Köpfen und Herzen der Menschen ist. Da sollten sich die Gewerkschaftsführungen keine Illusionen machen. Was derzeit – aber auch das erst nach entsprechender Aufklärung – mobilisierungsfähige Themen sind, das ist die Praxisgebühr, das ist das ALG II, und gerade beim Arbeitslosengeld müssen die Gewerkschaften, d.h. wir, uns klar machen, was das heißt: Es bedeutet die Enteignung der Arbeiterklasse – und zwar des Teils, der arbeitslos wird. Was heißt es denn, den Offenbarungseid beim Sozialamt leisten zu müssen, um diese 345 Euro zu kriegen? Du musst Dich von allem entledigen, was Dir nach dem Grundrecht auf Eigentum – auch ein Verfassungsrecht – zusteht. Das ist der Punkt, der die Leute nach meinen Erfahrungen aus Betriebsversammlungen und Diskussionen mit Mitgliedern am meisten berührt und über den sie wenig wissen. Und wenn Leute z.B. aus diesem Grund, weil sie das nicht wollen, demonstrieren gehen, sind sie dann automatisch für eine neue Partei? Ich glaube eher, dass es um das Soziale im klassischen Sinne geht: Wo ist unsere Sicherheit als unsichere Lohnabhängige im Kapitalismus? Man muss sich das mal vorstellen: Du musst bis 67 schaffen, aber wirst mit 55 arbeitslos, kriegst ein Jahr Arbeitslosengeld und dann bist Du weg, arm; ab dann wirst Du systematisch enteignet.
Da bestehen Chancen für Gewerkschaften, aber erst, wenn dieser lange Diskussionsprozess geführt wird.

HGL: Wichtig ist, auch daran zu denken, dass es innerhalb der Gewerkschaften große Unterschiede gibt. Die IG BCE-Leute sind auf den Kundgebungen mit Schildern rumgelaufen: »Modell Deutschland«. Wir brauchen das Modell Deutschland, wir wollen die »Nr. 1« sein. Und die neue Broschüre, die sie dazu herausgegeben haben, macht klar: Die IG BCE ist in der Tat ein Anhängsel der SPD. Wenn der DGB – ich übertreibe jetzt mal – sagen würde: »Wir brechen jetzt unsere Beziehungen zur SPD ab«, dann wäre die IG Chemie dagegen. Die NGG und Transnet sicher auch. Es ist ja nicht so, dass das alles eine Richtung wäre.

AK: Man muss auch die Dialektik darin sehen: Wenn die Gewerkschaften die Verabschiedung durch die SPD akzeptieren, kann das durchaus Spaltungen in den Gewerkschaften, siehe dein Beispiel IG BCE, zur Folge haben. In diesem Konflikt ginge es noch nicht mal darum, ob die Gewerkschaften noch gut sind für irgendetwas. Es ist ja nicht so, dass die SPD ohne Einfluss wäre in den Gewerkschaften und nur die Gewerkschaften in der SPD Einfluss hätten. Wenn man viele DaimlerChrysler-Betriebsräte nimmt oder Betriebsräte aus anderen Großbetrieben, dann gibt es da schon eine Wechselwirkung.

Wenn die Gewerkschaften den Schluss, den die SPD bereits vollzogen hat, nachvollziehen würden, würde dies an der gesamten Konstruktion der quasi apolitischen Einheitsgewerkschaft rütteln. Die politische Dis-kussion, die ansonsten delegiert wird über die Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaft, würde in die Gewerkschaft hinein geholt. Was hieße das an einem Beispiel wie dem Thema gesetzlicher Mindestlohn? Das ist seit der radikalen Lohnsenkung durch Hartz IV aufgrund der Quasi-Abschaffung der Entgeltbindung bei der Vermittlung von Langzeitarbeitslosen auch ein Kernthema für die Gewerkschaften. Hier ist die Frage der Tarifautonomie, der Unabhängigkeit als eigenständige politische Organisation und der Kräfteverhältnisse, also der Durchsetzbarkeit von Mindestgarantien, gleichermaßen berührt. Beim gesetzlichen Mindestlohn gibt es bislang äußerst kontroverse Positionen: Die NGG will ihn auf jeden Fall, weil sie Beschäftigte vertritt bzw. vertreten will, an die sie oft gar nicht dran kommt, die sie also auch nicht mobilisieren kann, weil der Organisationsgrad zu gering ist. Wenn sie abschließt, handelt es sich oft um Tariflöhne, für die das WSI in einer Studie vom Februar d.J. die Bezeichnung »arm trotz Vollzeitarbeit« verwendet. Die IG Metall sagt, sie brauche den Mindestlohn nicht – obwohl auch sie im Handwerks- oder Textilbereich Tarifverträge hat, von denen kein Mensch leben kann: mit Stundenlöhnen zwischen 6 und 10 Euro. Die IG BAU will ihn auf keinen Fall, weil sie auf Allgemeinverbindlichkeit setzt. Was hieße hier autonome Gewerkschaftspolitik?

HGL: Man muss beides, Mindestlohn und Allgemeinverbindlichkeit, diskutieren. Wir haben früher bei HBV gute Erfahrungen gemacht mit der Allgemeinverbindlichkeitsregelung. Die hat bedeutet, dass Unternehmer, die nicht im Arbeitgeberverband sind, und Arbeitnehmer, die nicht in den Gewerkschaften sind, auf jeden Fall Anspruch haben auf den Tariflohn. Auf der anderen Seite heißt das natürlich auch, die Beschäftigten mussten nicht in die Gewerkschaft eintreten. Wir mussten sie also davon überzeugen, dass sie trotzdem Mitglied in der Gewerkschaft werden sollen. Heute geht das, zumindest im Einzelhandel, gar nicht mehr, weil es inzwischen drei Arbeitgeberverbände sind... Die Voraussetzung für die Allgemeinverbindlichkeit ist, dass die Arbeitgeber dafür sind, dass die Gewerkschaften dafür sind, und dass die Politik will. Und dass die Gewerkschaften mindestens 50 Prozent aller Beschäftigten repräsentieren, also mindestens 50 Prozent organisiert sind. Dann muss entschieden werden vor einem Tarifausschuss beim Arbeits- und Sozialministerium. Hier könnte ich mir vorstellen, dass die Schwierigkeiten dieses Verfahrens und damit die Allgemein-verbindlichkeit vereinfacht werden.
Das Problem des gesetzlichen Mindestlohnes ist dagegen ganz anders gestellt, weil gesetzlich definiert werden muss, wie viel ein Arbeitnehmer mindestens verdienen soll.

Prof. Thomas Dieterich, der ehemalige Präsident des Bundesarbeitsgericht, meinte dazu in einem FR-Beitrag vom 11. November 2003, dass ein gesetzlicher Mindestlohn nicht verhandelt werden könne, weil das, was ein »angemessener« Lohn sei, sich nicht allgemein gültig definieren lasse. Über die Angemessenheit sei daher tariflich zu streiten. Jedes Mal neu. Umgekehrt lehnt er aber auch gesetzliche Öffnungsklauseln, wie sie von der Politik gefordert wurden, ab, da sie die Verbände überflüssig machten. Bleibt nur die Tarifautonomie?

HGL: Es gibt Länder, wie Frankreich, in denen es einen Mindestlohn, dort den SMIC, gibt. Der ist für alle gleich, den setzt die Regierung fest.

AK: Warum ist jemand eigentlich gegen einen Mindestlohn? Für mich bedeutet Mindestlohn, dass jeder arbeitende Mensch mindestens diesen Lohn bekommt. Ich finde daran nichts Verwerfliches und sehe dadurch auch die Tarifautonomie nicht gefährdet.
Mir ist es viel lieber, wir haben einen Mindesturlaub von vier Wochen nach dem Gesetz. Als Gewerkschafter kann man dann sagen: Leute, das haben wir. Wenn Ihr wollt, dass es uns besser geht, dass wir uns mehr erholen können, dann müssen wir kämpfen für mehr. Aber hinter die gesetzliche Regelung fallen wir erst mal nicht zurück. Ein Haus, das auf einem Fundament aufgebaut ist, ist stabiler als eines ohne. Die Gefährdung der Tarifautonomie kann man so konstruieren, keine Frage, aber ist das unser sozial existentielles Problem zur Zeit? Wir haben eine Gefährdung der Autonomie von der anderen Seite her: Jeder Arbeitgeber kann sich frei entscheiden, ob er im Arbeitgeberverband bleibt oder nicht, ob er in einem Verband mit oder ohne Tarifbindung Mitglied werden will. Wir haben die Deregulierung der Flächentarifverträge. Die Arbeitgeber können darüber entscheiden, ob sie eine Ausgründung machen, für die Tarifverträge nicht mehr gelten. Wer derzeit sagt, wir hätten die Tarifautonomie und die garantiere Tarifverträge, der hat keine Ahnung von der Realität.

HGL: Selbst die IGM erreicht im Bereich des Tarifvertrags Metallindustrie nur 63 Prozent der Arbeitgeber über den Arbeitgeberverband. Das ist aber die Voraussetzung für Tarifverträge – nicht unbedingt, dass die Leute in der Gewerkschaft sind. Wenn das nicht der Fall ist, musst Du streiken. Anders geht das nicht. Das ist Tarifautonomie.

AK: Warum kann in unserer Gesellschaft nicht darüber diskutiert werden, wie viel ein arbeitender Mensch mindestens zum Leben braucht, unterstellt, dass der Mindestlohn kein Hungerlohn sein soll, sondern ein Lohn zum Leben? Warum sollen wir keine gesellschaftliche Debatte darüber führen, dass unter 1500 Euro nichts geht? Ich halte das für wichtig und notwendig. Dafür kämpfen wir dann auch. In Baden-Württemberg haben wir einen gesetzlichen Mindestlohn für den Einzelhandel seit Mitte der 80er Jahre gefordert, weil wir gesagt haben, es ist moralisch und ökonomisch absolut unzumutbar, unter – damals – 1400 DM Vollzeit arbeiten zu lassen. Die Debatte, was das Mindeste für eine arbeitende menschliche Existenz ist, wäre eine hochpolitische Debatte. Daran würde deutlich, ob die Gewerkschaften für die arbeitenden Menschen da sind, oder ob die Erhaltung der eigenen Organisation das Wesentlichere ist...
Und wenn wir über Organisierung in diesem Zusammenhang diskutieren: Alle unsere Erfahrungen im Einzelhandel zeigen, dass wir auf der Basis der Allgemeinverbindlichkeit, die im Prinzip auch ein Mindestlohn ist, viel besser organisieren konnten in den Betrieben, weil wir sagen konnten: »Das haben die anderen schon geholt«. Auf der Grundlage von Rechten – ob Tarifverträgen oder Gesetz – ist es immer leichter, gewerkschaftlich aktiv zu sein als im freien Raum.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/04

Teil II folgt in der nächsten Ausgabe des express.
Der Beitrag erscheint in ausführlicher Fassung auf der Homepage des ver.di-Bezirks Mannheim: www.verdi.de/baden-wuerttemberg/mannheim


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