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Updated: 18.12.2012 15:51
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Neues im Anti-Dumping-Kampf: Der Europäische Verband der Wanderarbeiter ist am Ende

Mitgliederwerbung heißt jetzt Organizing. Angesichts rückläufiger Einnahmen holen deutsche Gewerkschaften sich immer öfter Rat bei krisenerfahrenen Campaignern aus den USA. Fast jeder Apparat experimentiert inzwischen mit mindestens einem Organizing-Projekt. Bei der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt ist nun gerade eines gescheitert. Warum der "Europäische Verband der Wanderarbeiter" (EVW), der auch in der Linken mit mancher Sympathie begleitet worden ist, von der Baugewerkschaft ad acta gelegt wurde, untersuchen Rainer Berger und Malte Meyer. Beide haben als Jugendbildungsreferent bzw. Teamer längere Zeit bei der IG BAU gearbeitet.

Unter der Überschrift "Neues im Anti-Dumpingkampf" meldete der IG-BAU-Geschäftsbericht 2005 die Gründung des EVW. Drei Jahre später wird dieses Kapitel geschlossen. Ende letzten Jahres hatten bereits vereinzelte Gerüchte die Runde gemacht, der Europäische Verband der Wanderarbeiter habe faktisch seine Arbeit eingestellt. Im Frühsommer 2008 hat die IG BAU nun auf ihrer Website diese Vermutung indirekt bestätigt und mitgeteilt, "wegen zurückhaltender Mitgliederentwicklung" werde die "operative Tätigkeit" des EVW fortan von der Baugewerkschaft übernommen. Welche Schlüsse können daraus gezogen werden? War die European Migrant Workers Union, so der englische Name des Verbands, nicht ein zukunftsweisender Gewerkschaftsversuch, den Herausforderungen des internationalisierten Bauarbeitsmarktes zu begegnen? Und vor allem: was war der Europäische Verband der Wanderarbeiter e.V. überhaupt für ein Verein?

Kurzer Rückblick: Anfang 2004 hatte die IG BAU das Münchener Marktforschungsinstitut Polis beauftragt, sich bei Entsendearbeitern, die auf deutschen Baustellen beschäftigt waren, nach deren Interessenlage zu erkundigen. Für die Gewerkschaft war das eine Premiere. Denn in den Jahren zuvor hatte sie ohne größeren Erfolg versucht, das auf den Baustellen grassierende Lohndumping durch die Einschränkung der internationalen Arbeitnehmerfreizügigkeit zu bekämpfen. Damit hatte sich die Gewerkschaft vor allem bei osteuropäischen Bauarbeitern alles andere als beliebt gemacht. Aus der Unlust der polnischen Bauarbeiter, einer deutschen Gewerkschaft beizutreten, zogen IG-BAU-Funktionäre den Schluss: "Sie brauchen einen eigenen Verband. Wir haben ihn gegründet."

Wanderarbeiterverband ohne WanderarbeiterInnen

Ob diejenigen, die den Verband angeblich brauchten, ihn auch tatsächlich wollten, ließ sich anhand der Gründungsmodalitäten noch nicht unbedingt erkennen. Ein Wanderarbeiter war nämlich nicht unter den Delegierten, als der EVW auf dem außerordentlichen Gewerkschaftstag der IG BAU aus der Taufe gehoben wurde. Dafür wurde aus Matthias Kirchner, dem süddeutschen Geschäftsführer eines IG-BAU-Bezirksverbandes, am 4. September 2004 der "Generalsekretär" eines "Europäischen Verbands der Wanderarbeiter". Die IG BAU schoss 1,5 Mio. Euro vor und spekulierte darauf, dass sich der Verein mit dieser Anschubfinanzierung innerhalb von zwei Jahren selbst tragen würde. Kirchner und sein kleines Team sollten in diesem Zeitraum nicht nur den Beitritt von 10.000 vor allem osteuropäischen Entsendearbeitern organisieren. Das offizielle Ziel des Verbandes bestand darüber hinaus in nichts Geringerem als der Streikfähigkeit. "Wir wollen irgendwann so groß sein, dass wir auch Tarifkämpfe führen können", gab Kirchner in einem Interview mit der jungen Welt zu Protokoll. Außerdem ließ er in der SoZ verkünden: "Die IG Bauen-Agrar-Umwelt nimmt nun als Gründerorganisation des Europäischen Verbandes der Wanderarbeiter e.V. für sich in Anspruch, auf die Globalisierungsanforderungen eine innovative Antwort zu geben und damit für die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaft unter den geänderten Voraussetzungen zu sorgen."

In bestimmter Hinsicht innovativ war der Wanderarbeiterverband tatsächlich: Unter Verweis auf ihn hat die IG BAU erfolgreich den Anschein erweckt, auf den Kurs einer stärker "inklusiven Solidarität" umgeschwenkt zu sein. Harte Kritik hatte in der Vergangenheit beispielsweise die Kampagne "Ohne Regeln geht es nicht!" hervorgerufen, mit der Bauarbeiter aufgefordert wurden, "verdächtige Billiglöhner" bei einer Hotline zu denunzieren. (Vgl. ak 486) Gegebenenfalls organisierte die Baugewerkschaft dann zusammen mit dem Zoll eine Baustellenrazzia, um so genannte "Illegale" aufzuspüren. "Unglücklicherweise" trafen derartige Razzien vor allem Bauarbeiter aus Osteuropa, die untertariflich auf deutschen Baustellen schufteten. Die protektionistisch motivierte Anrufung des Staates suggerierte, dass die Bedrohung von Arbeitsplätzen und Lohnstandards in erster Linie von Arbeitskräften aus dem Ausland ausginge.

Razzien und internationalistische Rhetorik

Vor allem die Zeit und der Spiegel berichteten wohlwollend. Auch von Seiten der Gewerkschaftslinken gab es Anerkennung, denn nicht immer dürften die Auftritte des EVW so unglücklich ausgefallen sein wie auf dem Hamburger Kongress "Die Kosten rebellieren II" im Mai 2006. Damals hatte sich EVW-Chef Kirchner nicht nur der Zusammenarbeit mit dem Zoll gerühmt, sondern zum Beispiel auch von den "Fünfeuropolen" gesprochen, die "unseren Leuten die Tarife kaputtmachen". Bei dieser Gelegenheit konnte allerdings schon der Verdacht aufkommen, dass der EVW und sein Generalsekretär mit den Interessen europäischer Wanderarbeiter möglicherweise gar nicht so viel zu schaffen hatten. Dafür aber umso mehr mit der Organisationswirklichkeit der IG BAU: Nach eigenen Angaben hatte sie Ende 2007 noch knapp 352.000 Mitglieder - weniger als halb so viele wie noch 1996. Diese Mitgliederverluste sind auch, aber längst nicht nur dem Stellenabbau im Baugewerbe geschuldet. Angesichts des bestenfalls stagnierenden Lohnniveaus mögen sich viele Mitglieder auch gedacht haben, dass sie zum Verzichten keine Gewerkschaft brauchen.

Demgegenüber fällt einer Gewerkschaft der Verzicht auf ihre BeitragszahlerInnen nicht ganz so leicht. Bei konstanten Beitragssätzen ist eine Halbierung der Mitgliederzahl gleich bedeutend mit einer drastischen Senkung der Einnahmen. Und wie in jedem anderen Unternehmen führen rückläufige Einnahmen auch bei einer Gewerkschaft unweigerlich zu einem gesteigerten Kostendruck. Die Durchsetzung entsprechender Einsparmaßnahmen passte nun aber überhaupt nicht zu der partizipativen Rhetorik einer "Mitmachgewerkschaft". Immerhin ist mit der Auslagerung ganzer Betriebsteile so etwas wie ein Gewerkschaftsprekariat entstanden, das mit den Gewerkschaftsbeamten von einst noch vieles gemein haben mag, aber eines ganz sicher nicht mehr: die faktische Beschäftigungsgarantie. Wer von den mehr als 100 Hauptamtlichen, um die der Apparat bis Ende 2008 weiter verkleinert werden soll, nicht in Altersteilzeitregelungen eingewilligt hat, muss mit einer betriebsbedingten Kündigung rechnen. Gewerkschaftsfunktionäre in Ausbildung können sich schon länger nicht mehr auf eine Übernahmegarantie verlassen und beginnen ihre Laufbahn im besten Fall mit niedrigeren Einstiegsgehältern.

Auf der einen Seite führt der Imperativ der Effizienzsteigerung (kostengünstigere Mitgliederwerbung), der die gesamte Organisationsentwicklung dominiert, zu einem nicht zu unterschätzenden Demokratieabbau. Andererseits aber erreicht der Sparkurs trotz alledem eher das Gegenteil von dem, was damit gewollt ist. Billig kommt teuer, ist man versucht zu sagen, Dauerstress drückt auf die Motivation. Das eigentliche Motiv für die Gründung des Wanderarbeiterverbands 2004 ist daher eine strohfeuerpolitische Betriebsamkeit gewesen und eben nicht die solidarische Diskussion in herrschaftsfreier Atmosphäre über die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Erneuerung. Die Gewerkschaftsspitze musste Handlungsfähigkeit simulieren, über die sie außerhalb der eigenen vier Wände kaum mehr verfügt. Unschöne Personalquerelen waren halbwegs geräuscharm zu bereinigen. Und vor allem: Die mit einem eher ungünstigen Image kämpfende IG BAU brauchte endlich mal wieder eine knackige Story. Zusammen mit den von einer Dauerkrise geschüttelten Organisationsroutinen ergaben derlei Überlegungen einen Verband, der wahrscheinlich nur deshalb nicht als Organizing-Projekt bezeichnet wurde, weil das Schlagwort damals noch nicht so stark in Mode war.

Auf dem Mannheimer Gewerkschaftstag konnten immerhin schon einmal etliche Dutzend "Fördermitglieder" für den von vorne herein unterfinanzierten Verein gewonnen werden. Der Status "Fördermitglied" übrigens mag plausibel klingen, wenn es um die Solidaritätsbekundung von Leuten geht, die nicht direkt betroffen sind. Dubios aber wird die Angelegenheit, wenn man bedenkt, dass selbst ein waschechter europäischer Wanderarbeiter im EVW lediglich stimmrechtsloses Fördermitglied werden konnte. Für die Vollmitglieder mit Stimmrecht im EVW reichte nach Mitteilung des Düsseldorfer WSI-Experten Heiner Dribbusch eine Fahrstuhlkabine in der Frankfurter IG-BAU-Zentrale völlig aus: Es handelte sich bei ihnen um Klaus Wiesehügel und zwei weitere Vorstände der "Mitmachgewerkschaft" IG BAU.

Lehrstück in Sachen Organizing

Immerhin: Nach eigenen Angaben haben der EVW und seine Rechtsanwälte säumige Baufirmen auf zumeist außergerichtlichem Wege dazu bewogen, angeblich insgesamt rund 500 Entsendearbeitern ausstehende Löhne auszuzahlen. Die gesamte Klagesumme hätte sich bis Oktober 2007 auf gut eine Mio. Euro belaufen. In vielen Fällen sind betroffene Arbeiter bei dieser Gelegenheit dem EVW beigetreten. Das selbst gesteckte Ziel des EVW, binnen zwei Jahren 10.000 Mitglieder zu gewinnen, ist allerdings verfehlt worden - von der Streikfähigkeit ganz zu schweigen. Nach eigenen Angaben gehörten dem Verband am Schluss 2.000 Mitglieder an. Selbst wohlmeinende BeobachterInnen geben indes zu, dass es zu keinem Zeitpunkt jemals auch nur halb so viele waren, unter ihnen eine unbekannt hohe Zahl von haupt- und ehrenamtlichen "Wanderarbeitern" der IG BAU. Unterdessen hat die Baugewerkschaft ihre Kooperation mit Zoll und Polizeigewerkschaft nicht etwa eingestellt, sondern inklusive der Baustellenrazzien bekräftigt und fortgeführt. Die Hotline ermuntert nach wie vor zur gebührenfreien Denunziation und die Freizügigkeit osteuropäischer ArbeiterInnen ist den nationalen Grenzschützern auch weiterhin ein Dorn im Auge. In der Tat waren EVW und rassistische Denunziationen für die IG niemals ein Gegensatz. Schon im September 2004 hieß es in der Gewerkschaftszeitung Grundstein : "Neben Baustellenkontrollen und der Kampagne ,Ohne Regeln geht es nicht` ist die neue Migrantengewerkschaft ein weiterer wichtiger Baustein, um das Dumpingproblem in den Griff zu bekommen".

Lässt das Fiasko des Europäischen Verbands der Wanderarbeiter nicht vielleicht auch die Organizing-Initiativen der übrigen Gewerkschaften in einem etwas anderen Licht erscheinen? Gerade bei optimistischen BeobachterInnen dieser Taktik dürfte die Versuchung groß sein, das EVW-Scheitern mit branchentypischen Defiziten der IG BAU zu erklären. Organizing habe schließlich mit Handlungsfähigkeit, Partizipation und Gewerkschaftserneuerung zu tun, Elementen also, nach denen man beim EVW vergeblich suche. Doch selbst wenn das tatsächlich ein realistischer Begriff von Organizing wäre, bliebe immer noch zu erklären, wie die IG BAU dann mit ihrem Projekt in der gewerkschaftslinken Öffentlichkeit so wohlwollend und unkritisch aufgenommen wurde. Spielte die internationalistische und basisorientierte Rhetorik hier nicht doch eine Rolle? Diejenigen, die auf Grund solcher Hoffnungen in den letzten Jahren den Quereinstieg in die Gewerkschaften versucht haben, werden nicht zuletzt anhand der Prekarität ihrer eigenen Stellung selbst beurteilen können, ob die Binnenstruktur des Organizing im EVW tatsächlich nur eine bedauerliche Ausnahme darstellt.

Artikel von Rainer Berger, Malte Meyer, zuerst erschienen in ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 531 / 31.9.2008. Wir danken dem Verlag und den Autoren für die Freigabe!


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