letzte Änderung am 22. Oktober 2003

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Realitätsverändernde Kraft des Phraseologischen

Die nächsten Gewerkschaftstage stehen vor der Tür, klare Worte der Vorstände von IGM, ver.di oder etwa DGB in Richtung Sozialdemokratie und Agenda 2010 dürften auch dort nicht zu erwarten sein. Die Gewerkschaften schwimmen in Bezug auf ihre »Schwesterorganisation«. Anlass genug, sich in vieler Hinsicht immer noch wahrer Worte des ehemaligen Vorsitzenden der AFA (nein, nicht »American Family Association«) und damaligen Vizevorsitzenden der SPD-Fraktion zu erinnern – wir dokumentieren dessen Rede auf dem HBV-Gewerkschaftstag in Bremen am 28. Oktober 1998. Rudolf Dreßler ist heute Botschafter in Tel Aviv und »kann die Kreise von Kanzler Schröder nicht mehr stören« (Lexikon Sozialpolitik, Uni Gießen). Noch schlechter als umgekehrt.

 

(...) Vor vier Wochen ist in der deutschen Demokratie etwas geschehen, was bisher ohne Beispiel war. Eine amtierende politische Mehrheit ist durch Wählerentscheid durch eine neue Mehrheit ersetzt worden. Noch mehr als der vom Wähler herbeigeführte Wechsel – in anderen Demokratien längst üblich – war aber das Ausmaß, die Deutlichkeit, mit der der Wechsel vollzogen wurde, die eigentliche Überraschung.

Den geübten Interpretationsklempnern der Bonner Politszene jedenfalls hat es die Sprache verschlagen, denn dieses Wahlergebnis ist weder interpretationsbedürftig noch interpretationsfähig: Das war kein einfacher Austausch von Köpfen, gewählt wurde vielmehr ein Politikwechsel. Deshalb kommt es jetzt nicht nur darauf an, dass wir vieles besser, sondern vor allem eine ganze Menge anders machen. Alle Analysen des Wahlergebnisses zeigen, dass der Wunsch nach einer wieder stärkeren sozialstaatlichen Ausrichtung unseres Gemeinwesens die eigentliche Ursache für diese eindeutige Veränderung der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse gewesen ist. Rente und Gesundheit haben dabei in besonderem Maße im Vordergrund gestanden, es waren eben nicht – wie manche meinen – jene ebenso mundgerechten wie oberflächlichen Floskeln der so genannten Modernisierungsdiskussion, die uns den entscheidenden Stimmendurchbruch gebracht haben. Die Erwartungen der Menschen an eine veränderte Sozialpolitik sind also groß. Lasst mich daher zwei Vorbemerkungen machen, die gleichsam Voraussetzung dafür sind, dass ein Politikwechsel, ein gesellschaftspolitisches Umsteuern möglich wird.

Zunächst muss ich an das erinnern, was ich bereits im Wahlkampf wieder und wieder betont habe. Ohne einen spürbaren Rückgang der Massenarbeitslosigkeit wird keines unserer Systeme in der sozialen Sicherung – weder die Renten-, noch die Pflege-, Kranken- oder Arbeitslosenversicherung – langfristig zu halten sein. Massenarbeitslosigkeit gefährdet diese Systeme in ihrer Existenz. Und dieser bedrohlichen Entwicklung wird man nicht gerecht, wenn man ihr einfach bei Sozialleistungen hinterkürzt. Oberstes Ziel ist also die Wiedergewinnung arbeitsmarktpolitischer Stabilität auf möglichst hohem Niveau. Ich bin mir bewusst, dass dies nicht von heute auf morgen gelingen kann. Dennoch gilt: Wir brauchen Beitragszahler in die Systeme statt Subventionen für die Systeme oder gar Zertrümmerung der Systeme.

Wenn richtig ist, was uns Ökonomen vorrechnen, dass nämlich die arbeitsmarktwirksame Schwelle des Wirtschaftswachstums in Deutschland bei 2,5 Prozent liegt, dann ist angesichts der heute noch erzielbaren wirtschaftlichen Wachstumsraten auch richtig, dass es – würden wir uns ausschließlich auf Wachstumsförderung beschränken – in den nächsten Jahren allenfalls gelingen kann, die aus der anhaltenden Rationalisierung und Produktivitätssteigerung resultierenden Arbeitsplatzverluste aufzufangen, so bitter das auch sein mag. Die entscheidende Frage, die wir beantworten müssen, liegt also darin, ob diese Gesellschaft bei einem weitgehend konstant bleibenden Arbeitsvolumen bereit ist, eine neue Verteilung von Arbeit zuzulassen. An der Antwort auf diese Frage entscheidet sich die Zukunft des Arbeitsmarktes und nicht an arbeitsmarktpolitischer Folklore wie Ladenschluss oder ähnlich grandiosen Errungenschaften neoliberaler Wirtschaftspolitik.

Abbau von Überstunden: Ja! Arbeitszeitverkürzung: Ja – alles vernünftig. Aber sind wir darüber hinaus bereit, unsere Gesellschaft mit der Frage zu konfrontieren, ob etwa in einer Familie, in der beide Erwachsenen arbeiten, jeder von ihnen bereit ist, einen Teil seiner Arbeit abzugeben, damit in einer anderen Familie, in der niemand Arbeit hat, zukünftig zumindest einer Arbeit findet? (...)

Die zweite Vorbemerkung bezieht sich unmittelbar auf die Finanzierung unseres Sozialstaates. Viele – übrigens auch in meiner Partei – diagnostizieren eine Verteuerung des Sozialstaates. Diese Diagnose ist sicherlich interessant, hat aber leider einen Nachteil. Sie hat mit den Fakten nichts zu tun. Die Sozialleistungsquote in Deutschland (West) hat sich von 1982 bis 1997 von 33,1 Prozent auf 31,7 Prozent des Volkseinkommens verringert – und das bei dramatisch gestiegener Arbeitslosigkeit. Legte man heute die Arbeitslosenquote von 1982 zugrunde, läge die Sozialleistungsquote gar bei nur 29,1 Prozent.

Die Sozialleistungen für das Alter sind von 12,8 Prozent auf 11,6 Prozent des Volkseinkommens zurückgegangen – trotz einer steigenden Anzahl von Menschen über 60. Und die Ausgaben für Gesundheit verharren – trotz teurem medizinischen Fortschritt – seit fast zwei Jahrzehnten nahezu konstant bei 10 Prozent. Wo, bitte, hat sich also der Sozialstaat verteuert? Richtig ist doch das exakte Gegenteil. Trotz gestiegener Anforderungen an die Sozialsysteme wird im Verhältnis weniger für Soziales ausgegeben. Ich will ja niemanden aus der berufsmäßigen Modernisierungsabteilung der Politik durch Fakten erschrecken, aber Tatsache ist: Unsere soziale Sicherung hat ein Einnahmeproblem, kein Ausgabeproblem.

Das Problem liegt also auf einer völlig anderen Ebene. Wie in jedem anderen hochentwickelten Industrieland verschieben sich auch in Deutschland die Einsatzverhältnisse der Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit. Der Einsatz von Kapital bei der Erwirtschaftung des Volkseinkommens steigt relativ, der Einsatz von Arbeit geht relativ zurück. Die Finanzierung der sozialstaatlichen Systeme ist aber nahezu ausschließlich an den Faktor Arbeit, also an den schrumpfenden Teil geknüpft. Ein stetig wachsender Teil des Volkseinkommens steht somit zur Finanzierung der Sozialsysteme überhaupt nicht mehr zur Verfügung, während auf den stetig sinkenden Teil eine relativ wachsende Finanzierungslast entfällt. Hier und nirgendwo anders liegen die wahren strukturellen Ursachen für den Druck in den beitragsfinanzierten Systemen. Die Frage, wie die Kapitalseite der Volkswirtschaft an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligt werden kann, hat diese Gesellschaft übrigens schon einmal diskutiert. Aber darf man heute das dazu gehörende Stichwort »Wertschöpfungsabgabe« noch laut aussprechen, ohne in den intellektuellen Schuldturm neoliberaler Ideologen gesteckt zu werden?

Die Ausdünnung oder gar die Zertrümmerung unserer Systeme jedenfalls können die Lösung nicht sein, denn sie verlagern von Schritt zu Schritt das Problem nur auf die nächst niedere Ebene – bis es nichts mehr zu zertrümmern oder auszudünnen gibt. Man kann eben ein Einnahmeproblem nicht durch Hinterherkürzen bei den Ausgaben überwinden. Das ist deshalb keine Lösung, weil so die einnahmebedingten Ursachen der Finanzmisere nicht ausgeräumt werden. Jede Kürzungsrunde trägt die Notwendigkeit der nächsten schon in sich. Kellertreppeneffekt nennt man das Ergebnis eines solchen Handeins. Irgendwann ist man eben unten und dann gibt es nichts mehr zu kürzen. (...)

Wer Realitäten verändern will, muss sie zunächst einmal akzeptieren. Und das hat zur Voraussetzung, dass er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt. Es gibt keine faktenersetzende Kraft der schönen Worte und Formeln; und eine realitätsverändernde Kraft des Phraseologischen, die gibt es auch nicht!

Apropos – da fällt mit ein Buch ein, das vor wenigen Tagen erschienen ist. Als ich dazu eine Art von Zusammenfassung in der vorletzten Ausgabe des Spiegel las, dachte ich zunächst, das könnte zum Teil aus der Feder von Guido Westerwelle stammen. Aber ich hatte mich vertan. Es war zur Gänze von Bodo Hombach (im Jahr 2003 problemlos zu ersetzen durch Olaf Scholz, die Redaktion). Was ich da gelesen habe, was da als sozialdemokratisches Zukunftsprojekt beschrieben wurde – mein lieber Stollmann. Das hätte eine ins neoliberale gewendete SPD als Ziel. Das kann doch wohl nicht sein. Wir haben doch nicht 16 Jahre gegen diese ökonomische Irrlehre mit ihren verheerenden Folgen, mit Massenarbeitslosigkeit und riesigen Schuldenbergen, mit finanziell ausgemergelten Sozialsystemen und einer ökonomisch entmündigten Arbeitnehmerschaft angekämpft, um mit diesem Quatsch jetzt nach dem Regierungswechsel weiter zu machen. (...)

Im übrigen: Wer das will, der muss einen anderen Koalitionsvertrag schließen, als SPD und Bündnisgrüne ihn gerade geschlossen haben. Dieser nämlich schließt derartige Tendenzen aus. Er skizziert vielmehr verlässliche sozialstaatliche Politik für die nächsten vier Jahre! Es lohnt sich für die dort vereinbarten Inhalte zu werben und zu streiten! Gerade mit Blick auf die Sozialversicherung haben ja in der Vergangenheit vor allem zwei oberflächliche Formeln Konjunktur gehabt. »Mehr Eigenverantwortung« und »mehr Wettbewerb« seien erforderlich, hieß es da immer wieder.

Mehr Eigenverantwortung? Wenn ich einen ganz normalen Sozialversicherten angesichts seiner jährlichen Beitragszahlung von bis zu 11000 DM für die Krankenversicherung, ca. 20000 DM für die Rentenversicherung, von über 3000 DM für die Arbeitslosenversicherung und von rund 600 DM für die Pflegeversicherung mit der Forderung konfrontiere, er möge endlich mehr Eigenverantwortung für seine soziale Sicherung Übernehmen, dann ernte ich – wenn dieser Mensch höflich ist – bestenfalls Unverständnis. Und wenn er unhöflich ist, greift er zu seinem Telefon und holt das große weiße Auto mit den starken Männern und ihren seltsamen Kitteln! Nein, die Forderung nach mehr Eigenverantwortung ist aufgrund der Tatsachen nicht nur absurd, sie ist eine schlichte Unverschämtheit.

Auch die Forderung nach mehr Wettbewerb muss verwundern. Wer die Kohlepolitik, wer die Energiewirtschaftspolitik, die Werftenpolitik oder die Landwirtschaftspolitik in Deutschland in den Blick nimmt, dem wird sicherlich viel einfallen, nur eines nicht: Wettbewerb! Das sind vielmehr weitgehend wettbewerbsfreie Zonen, die ich gar nicht kritisiere, sondern deren politische Notwendigkeit ich durchaus nachvollziehen kann. Ich erlaube mir nur nach der Glaubwürdigkeit der politischen Argumentation zu fragen, einerseits wettbewerbsfreie Refugien zuzulassen und zu verteidigen und andererseits in anderen Systemen mehr Wettbewerb einzufordern. Könnte es also nicht sein, dass die gesellschaftliche und ökonomische Gemengelage etwas differenziertere Antworten erfordert als die platte Feststellung »mehr Wettbewerb«?

In einer der letzten vorbereitenden Sitzungen der sozialdemokratischen Seite der Koalitionsrunde setzte sich Herr Stollmann, der uns ja nun wieder abhanden gekommen ist, neben mich und wir haben uns unterhalten. Es war ein recht zwangloses und freundliches Gespräch, das wir führten. Aber dieses Gespräch hatte Folgen, für die Herr Stollmann selbst eigentlich gar nichts konnte. In der folgenden Nacht hatte ich nämlich einen Alptraum. Und in dem erschien mir Stollmann ständig im Schlaf mit den Worten: »Herr Dreßler, werden Sie endlich ein Modernisierer«. (...)

Als ich am nächsten Morgen völlig gerädert aufwachte, in Schweiß gebadet ins Bad wankte und mich selbst im Spiegel sah, habe ich mir – allein um nur solche Nächte zukünftig zu ersparen – dann wirklich die Frage gestellt: »Rudolf, taugst Du zum Modernisierer?« (...) Und dann hab’ ich mich an der Frage abgearbeitet, was es für mich bedeutet, wenn ich mich plötzlich als Modernisierer outen würde:

Mir wurde bewusst, dass das ein aussichtsloses Unterfangen wäre. Und so sagte ich mir: Du hast eben einen Begriff von Moderne, der sich mit dem Zeitgeist kaum in Einklang bringen lässt. Was modern ist, leitest du von den Inhalten ab, das ist dein eigentliches Handikap. So habe ich denn beschlossen, mit dem als Vorwurf gedachten Etikett » Traditionalist« weiterzuleben. Ich denke, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der SPD haben eine Verpflichtung. Und jetzt in der Regierungsverantwortung noch mehr als in der Opposition. Wir müssen unserer Sozialdemokratie helfen, Kurs zu halten.

Die Aufgabe,

Diese Aufgabe ist noch nicht erfüllt. (...) Deshalb gilt:

Das ist unser Auftrag, und meine Bitte und Einladung ist: Macht alle dabei mit!

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9/03

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