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Updated: 18.12.2012 15:51
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Der lange Abschied

Die Zukunft der Gewerkschaften ist transnational

Bis heute agieren Gewerkschaften vornehmlich in nationalem Rahmen. Zwar arbeiteten sie schon früh über Grenzen hinweg, letztlich war ihnen die Nation jedoch meist näher als die GenossInnen im Ausland. Nun aber erfordert die ökonomische Globalisierung von der Gewerkschaftsbewegung eine Ausrichtung, die ihr in der Vergangenheit fehlte.

von Marcel van der Linden

Die internationale Gewerkschaftsbewegung befindet sich in einer mehrfachen Krise, die als Folge einer historischen Übergangsphase der Bewegung gewertet werden sollte. Sie sieht sich seit einiger Zeit mit großen Herausforderungen und Problemen konfrontiert, sowohl »von oben« (d.h. von Staaten und dem Kapital), als auch »von unten« (d.h. von ArbeiterInnen und ihren Organisationen).

Erstens steht sie einem eindrucksvollen Wachstum der transnationalen Unternehmen und des Foreign Direct Investment innerhalb des Kerns und der Semiperipherie gegenüber. Als Antwort auf diese Entwicklung entstanden seit Mitte der 1960er Jahre so genannte Weltkonzernräte, vor allem in der chemischen und der Automobilindustrie. Viele Gewerkschaftsaktivisten haben große Erwartungen an diese neuen Organe geknüpft, doch ist deren Effektivität durch Interessengegensätze der ArbeiterInnen in verschiedenen Ländern unzureichend.

Die Bildung von Handelsblöcken macht zweitens den Aufbau von transnationalen Gewerkschaftsstrukturen innerhalb dieser Blöcke notwendig. Innerhalb der NAFTA (USA, Kanada, Mexiko) entwickelte sich diese Zusammenarbeit aber nicht primär auf dem Spitzenniveau nationaler Gewerkschaftsföderationen, sondern auf dem subnationalen Niveau oder auf Branchenebene. Oft sind auch Nicht-Gewerkschaften (z.B. religiöse und Menschenrechtsorganisationen) in diese Art von Projekten einbezogen. Beispiele sind u.a. die in den 1980er Jahren gegründete Coalition for Justice in den Maquiladores, das Comité Fronterizo de Obreras und La Mujer Obrera. Hierzu gehört auch das von den United Auto Workers gegründete Council of Ford Workers.

Drittens entstanden neue übernationale Institutionen, die die Dynamik des »neuen« Kapitalismus zu regulieren versuchten. Das wichtigste Beispiel ist die 1993 gegründete Welthandelsorganisation WTO. Gewerkschaften fühlten sich genötigt, bei oder in derlei Institutionen Lobbyarbeit zu betreiben und/oder ihren Protest zu artikulieren. Auf der anderen Seite entstanden infolge der sozialen und ökonomischen Veränderungen in der Semiperipherie und der Peripherie neue, oft sehr kämpferische Arbeiterbewegungen – u.a. in Brasilien, Südafrika, den Philippinen, Taiwan und Südkorea.

Zwar sind diese Entwicklungen in ihrer Dynamik und Weite relativ neu, hat doch die so genannte Globalisierung frühere Organisations- und Machtstrukturen massiv verändert. Auf der anderen Seite gibt es durchaus eine Vorgeschichte in der internationalen Gewerkschaftsbewegung, die sich vergleichbaren Bedingungen und Entwicklungen ausgesetzt sah.

Von der Klasse zur Nation

Die Ursprünge der internationalen Gewerkschaftsaktivitäten liegen in den 1820er und 1830er Jahren, als sich in verschiedenen Ländern Europas hoch qualifizierte Arbeitergruppen mit starkem Selbstbewusstsein entwickelten. Diese Gruppen grenzten sich in dreierlei Weise ab: vom Kleinbürgertum, vom Lumpenproletariat und von den Sklaven. Alle diese drei Markierungen waren immer auch geschlechtsbezogen: Der Kern der »Arbeiterklasse« bestand im Prinzip zunächst aus männlichen Ernährern. Typisch war z.B. das von Marx verfasste Kommunistische Manifest (1848), das »die modernen Arbeiter, die Proletarier« abgrenzte von allen anderen »Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen«, wie die Mittelständigen, die Bauern, und »das Lumpenproleriat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft«.
Dieses Stereotyp beherrschte die Vorstellung von der Arbeiterbewegung fast anderthalb Jahrhunderte lang. Zwar war aufmerksamen Beobachtern schon sehr früh klar, dass die real existierenden Arbeiterbewegungen nicht oder nur zum Teil aus »reinen Arbeitern« im Sinne des Kommunistischen Manifests bestanden, hieraus wurde lange Zeit aber keinerlei Konsequenz gezogen. Die aufkommenden Arbeiterbewegungen Europas hatten ein Selbstbild entwickelt, das zwar den inneren Zusammenhalt förderte, gleichzeitig aber große Teile des Proletariats ausschloss. Dieses Selbstbild sollte bis weit ins 20. Jahrhundert dominieren.

Die ersten bedeutenden Äußerungen des organisierten Internationalismus kamen aus dem Zentrum des damaligen Hegemon des Weltkapitalismus (London) während der langen Periode ökonomischen Wachstums von den späten 1840er bis zu den frühen 1870er Jahren. Schon in den 1830er Jahren hatten britische Gruppen von Facharbeitern ihr Interesse an Entwicklungen im Ausland gezeigt. Nach den Revolutionen von 1848 intensivierte sich dieses Interesse und es entstanden auch kleine Organisationen mit einer multinationalen Mitgliedschaft. Parallel hierzu begannen internationale Hilfsleistungen bei Streiks, vor allem zwischen England und dem europäischen Kontinent. Es ging hierbei meist um zwei Formen: Um finanzielle Unterstützung für Streiks im Ausland, die sowohl »inner-beruflich« sein konnte, in dem Sinne, dass Mitglieder derselben Berufsgruppen einander unterstützten, oder weiter ausgreifend. Und zweitens um den Widerstand gegen Streikbrecher: Bei verschiedenen Streiks versuchten britische Arbeitgeber Streikbrecher vom Kontinent zu importieren. Manchmal gelang es, den Einsatz von Streikbrechern zu verhindern. Die Londoner Schriftgießer, die 1850 streikten, appellierten an die Pariser Gesellschaft, die sich damit einverstanden erklärte, die Rekrutierung von Männern zu stoppen, und informierte alle Schriftgießereien in Frankreich, Deutschland, Belgien, den Niederlanden und der Schweiz hierüber.

Die Gründung der Ersten Internationale (IAA) war teilweise ein Ergebnis dieser Entwicklung. Die 1864 gegründete Organisation war z.B. aktiv einbezogen bei der Bekämpfung zahlreicher Versuche zum Streikbruch. Alle grenzüberschreitende Solidarität in diesen Fällen war sub-national. Nationale Gewerkschaften gab es noch nicht, so dass jeder internationale Kontakt zwischen lokalen Organisationen stattfand. Diese Form kollektiver Aktion geriet zu Beginn der 1870er Jahre zunehmend in Schwierigkeiten. Erstens gelang es Gewerkschaften, sich allmählich auch auf nationaler Ebene zu konsolidieren. Es fing 1868 in Großbritannien mit der Gründung des Trades’ Union Council (TUC) an. Auch in anderen nordatlantischen Ländern setzte sich der Prozess nationaler Konsolidierung mit einiger Verzögerung durch. Zweitens schlug in den frühen 1870er Jahren die Entwicklung des Kapitalismus um; das Wirtschaftswachstum begann sich zu verzögern. Drittens wurde nach dem französisch-preußischen Krieg 1870-71 die Arbeiterklasse mehr und mehr durch Schulunterricht, Militärdienst, öffentliche Zeremonien, die Massenproduktion öffentlicher Monumente usw. in die Nationalstaaten integriert.

Der nationale Internationalismus

Diese Faktoren führten dazu, dass der sub-nationale Internationalismus untergraben wurde, wie mit dem Dahinschwinden der Ersten Internationale nach 1872 deutlich wurde. Es entstand eine erste Übergangsperiode, in der die alte Form des Internationalismus wegbrach, während eine neue Form des Internationalismus erst im Keim sichtbar war. Als die Konsolidierung von Gewerkschaftsbewegungen in der nordatlantischen Region um die Jahrhundertwende weit fortgeschritten war, wurde eine neue Phase möglich: der nationale Internationalismus. Zuerst entstanden die Internationalen Gewerkschaftssekretariate: Verbände zur Zusammenarbeit von nationalen Gewerkschaften einer bestimmten Berufsgruppe (z.B. der Typographen oder Tabakarbeiter). Die den Gewerkschaftssekretariaten angeschlossenen Gewerkschaften stammten anfangs fast ohne Ausnahme aus Europa, und in geringerem Umfang aus Nordamerika. Als die Gründung der internationalen Gewerkschaftssekretariate gelungen war, begann auch die Zusammenarbeit zwischen nationalen Gewerkschaftsverbänden in Gang zu kommen. 1903 wurde das Internationale Sekretariat der Nationalen Gewerkschaftsverbände (ISNGV) aus der Taufe gehoben.

Die kurze Periode zwischen 1889 und 1903 war außerordentlich wichtig für den allmählichen Aufstieg der internationalen Gewerkschaftsbewegung. Der Lauf der Ereignisse vor einem Jahrhundert hat ihr eine duale Struktur gegeben: Internationale Gewerkschaftssekretariate auf der einen und internationale Konföderationen (mit wechselnden Namen) auf der anderen Seite.
Das zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts konsolidierte Grundmuster war während vieler Jahrzehnte keiner strukturellen Änderung ausgesetzt, es kam lediglich zu einigen wichtigen Verschiebungen. 1913 noch hatten 17 der 28 Gewerkschaftssekretariate ihren Hauptsitz in Deutschland. Nach 1918 dominierten Großbritannien und die USA. Während die deutsche Gewerkschaftsbewegung während der Periode ihrer Dominanz noch mehr oder weniger »außerhalb« des eigenen Staates gestanden hatte, nahmen die TUC und die American Federation of Labor (AFL) nach dem Ersten Weltkriege eine enge Zusammenarbeit mit den eigenen Staaten auf.

Blick in den Süden

Im Lauf der »nationalen« Phase des Internationalismus hat die Anzahl Internationaler Gewerkschaftssekretariate durch die Einrichtung besonderer Verbindungsorganisationen zugenommen. Der sozialreformistische Mainstream des IGB und sein Nachfolger nach 1949, der IBFG, bekamen im Lauf der Zeit mehrere Konkurrenten. Dazu gehörten nicht nur die syndikalistische Internationale, die sich ebenso wie die Erste Internationale IAA nannte (seit 1922), sondern auch die kommunistische Rote Gewerkschaftsinternationale (RGI, 1921-1937) und später der Weltgewerkschaftsbund (WGB) und der Internationale Bund Christlicher Gewerkschaften (später Weltverband der Arbeit).

Das Interesse an den Gewerkschaftsbewegungen in den peripheren und semiperipheren Ländern nahm seit der Zwischenkriegszeit zu, natürlich insbesondere dort, wo sich neue Arbeiterbewegungen entwickelten. Die RGI versuchte fast von seiner Gründung 1921 an, in diesen Ländern Wurzeln zu fassen. Der IGB folgte seit 1928, teils als Reaktion auf die RGI. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete die christliche Internationale eine recht erfolgreiche Regionalorganisation in Lateinamerika (1954) und erwarb Unterstützung in Vietnam und Teilen Afrikas. Da die »freien« Gewerkschaften (IBFG) von der britischen TUC und der US-amerikanischen AFL(-CIO) dominiert wurden, hatten sie es bei dieser Ausbreitung auf die Dritte Welt oft am schwersten, weil sie als Instrumente von Kolonialismus und Neokolonialismus angesehen wurden.
Seit den 1960er Jahren wurden die Fundamente des »nationalen Internationalismus« immer deutlicher untergraben: durch Entkolonisierungsprozesse, Verschiebungen in der internationalen Arbeitsteilung, der Implosion des osteuropäischen »Sozialismus«, das weltweite Entstehen von Frauenbewegungen und vieles mehr. Außerhalb der etablierten Wege entwickelten sich seit den 1970er Jahren neue Formen der Gewerkschaftsarbeit mit internationalen Verbindungen auf Betriebsebene, vorbei an den internationalen Sekretariaten. Ein bekanntes Beispiel ist der Transnational Information Exchange (TIE), dem viele Dutzend Untersuchungs- und Aktivisten-Arbeitsgruppen angeschlossen sind, um Informationen über die transnationalen Unternehmen auszutauschen.

Gewerkschaften derselben Branche (z.B. Bergarbeiter) in verschiedenen Ländern führen seit mindestens zehn Jahren gemeinsame Aktionen gegen transnationale Unternehmen. Als z.B. der französische Automobilhersteller Renault in Februar 1997 die Schließung seiner belgischen Niederlassung in Vilvoorde bekannt gab, wurden in Frankreich, Spanien, Portugal und Slowenien Solidaritätsstreiks und -kundgebungen durchgeführt – damit war der Begriff »Euro-Streik« entstanden.

Die ungleichmäßige Entwicklung von Gewerkschaften im Kern und in der Peripherie veranlasst internationale Gewerkschaftssekretariate, Mitglieder direkt in peripheren Staaten zu rekrutieren (siehe z.B. die Aktivitäten von Union Network International [UNI] im IT-Sektor Indiens). Andererseits übernehmen immer häufiger Nichtregierungsorganisationen Aufgaben, die eigentlich von der internationalen Gewerkschaftsbewegung ausgeführt werden müssten, so z.B. den Kampf für die Regulierung und Abschaffung von Kinderarbeit.

Die internationale Gewerkschaftsbewegung befindet sich nun in einer zweiten Übergangsperiode. Die sich verändernde Zusammensetzung der Arbeiterklasse macht die Schwäche der Gewerkschaftsbewegung besonders sichtbar. Momentan haben der IBFG und der Weltverband der Arbeit zusammen etwa 150 Millionen Mitglieder (IBFG ca. 125 Millionen, WVA ca. 25 Millionen). Das sind vier bis fünf Prozent der abhängig Beschäftigten der Welt. In anderen Worten: Die große Mehrheit der Lohnempfänger wird von der traditionellen Gewerkschaftsbewegung nicht erreicht. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Menschen überhaupt nicht über Interessenorganisationen verfügen (es gibt hier und dort alternative organisatorische Modelle), aber es verdeutlicht sehr wohl das Unbefriedigende der heutigen Lage.

Was bedeutet dies aus einer globalhistorischen Perspektive? Wenn wir die gegenwärtige Übergangsphase im Licht der Entwicklung der letzten anderthalb Jahrhunderte betrachten, so befindet sich die internationale Gewerkschaftsbewegung offensichtlich in Vorbereitung auf ein völlig neues Stadium. Die neuen globalen Rahmenbedingungen und die eigenen Veränderungen lassen den Schluss zu, dass es sich dabei nur um einen transnationalen Internationalismus handeln kann.


Marcel van der Linden ist Forschungsdirektor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte und Professor für die Geschichte der sozialen Bewegungen in Amsterdam.

Der Beitrag ist erschienen in Nr.278/279 vom August/September 2004
www.iz3w.org externer Link

Literatur:

– The Modern World-System. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century. New York, Academic Press, 1974

– The Modern World System II: Mercantilism and the Consolidation of the European World-Economy. New York, Academic Press, 1980

– The Modern World-System III: The Second Era of Great Expansion of the Capitalist World-Economy, 1730-1840. San Diego, Academic Press, 1988

- Alle drei Bände sind auf deutsch bei Promedia unter »Das moderne Welt-System I-III« erschienen (Band 3 im Oktober 2004)


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