Es gehört bereits seit längerem zum Ritual der alljährlichen Tarifrunden, in einer nahezu pawlowschen Reflexartigkeit den drohenden Verlust nationaler Wettbewerbsfähigkeit zu beschwören und mit entsprechenden Maßhalteappellen an die Gewerkschaften zu verbinden. Nationale Tarifpolitik ist somit zu einer zentralen Referenzgröße im globalen Standortwettbewerb geworden. Dies gilt insbesondere für die hochgradig miteinander verflochtenen Volkswirtschaften Westeuropas: Schon mit der Einführung des Europäischen Binnenmarktes wurden hier die meisten wettbewerbsbeschränkenden Regelungen abgebaut. Nachdem mit der Vollendung der Europäischen Währungsunion auch der Wechselkursmechanismus als wichtigster Wettbewerbsfilter wegfällt, scheint der gesamte ökonomische Wettbewerbsdruck nun der Tarifpolitik aufgebürdet zu werden.
Die rasant zunehmende "Europäisierung" der Ökonomie hat bislang jedoch keineswegs eine entsprechende "Europäisierung" der Tarifpolitik nach sich gezogen, sondern ganz im Gegenteil eher die Krise überbetrieblicher Flächentarifverträge und den Trend hin zu einer Dezentralisierung und Verbetrieblichung der Tarifpolitik verstärkt. Was auf den ersten Blick paradox erscheinen mag, verweist auf die machtpolitische Dimension ökonomischer Internationalisierungsprozesse: Verfügen doch transnational agierende Unternehmen in wachsendem Maße über die Möglichkeit aus nationalen Solidaritätsbindungen - wie z.B. Flächentarifverträgen - "auszusteigen" bzw. die Androhung eines "Ausstiegs" zur Durchsetzung sozialer Konzessionen und zum Abbau nationaler Regelungen zu nutzen. Noch dramatischer sieht es in Branchen wie der europäischen Bauindustrie aus, die mittlerweile eigenständige europäische Arbeitsmärkte herausgebildet haben, in denen ohne die Hilfe europaweiter Regelungen wie der Entsenderichtlinie die Gefahr besteht, daß die existierenden nationalen Tarifvertragsbestimmungen vollkommen zerstört werden.
Sieht man von wenigen Spezialbereichen wie beispielsweise dem grenzüberschreitenden Tarifvertrag beim deutsch-französischen Fernsehkanal ARTE einmal ab, so bleibt Tarifpolitik in Europa bis zum heutigen Tage in mindestens dreifacher Hinsicht im nationalstaatlichen Rahmen verhaftet: Erstens vollzieht sich Tarifpolitik auf der Folie eines historisch gewachsenen Institutionensystems, das national recht unterschiedliche Tarifvertragsformen hervorgebracht hat und daß von Gewerkschaften und Arbeitgebern getragen wird, die in ihren organisatorischen Kapazitäten und politischen Selbstverständnis bisweilen große Divergenzen aufweisen. Zweitens ist die nationale Tarifpolitik in jeweils spezifischer Weise in das gesamte nationalstaatliche Wirtschafts- und Sozialsystem eingebunden und erfüllt dabei teilweise sehr verschiedene Regelungsfunktionen. Letzteres betrifft vor allem das nationalstaatlich recht unterschiedlich austarierte Verhältnis von staatlichen und tarifvertraglichen Regelungen und dem Grad der Tarifautonomie. Schließlich reflektiert drittens die nationale Tarifpolitik in ihren Ergebnissen das jeweilige ökonomische Leistungs- und Produktivitätsniveau der einzelnen Staaten, das innerhalb Europas nach wie erhebliche Entwicklungsunterschiede aufweist.
Jenseits aller institutionellen und politischen Unterschiede in den nationalen Tarifvertragssystemen läßt sich innerhalb Westeuropas jedoch gleichzeitig eine erstaunliche Gleichförmigkeit in den tarifpolitischen Entwicklungstrends konstatieren. Demnach vollzieht sich in den 80er Jahren in fast allen europäischen Ländern ein tarifpolitischer Paradigmawechsel, der als Übergang von einer produktivitäts- zu einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik bezeichnet werden kann (Schulten 1999a). War die Tarifpolitik noch bis in die 70er Jahre hinein durch eine enge Koppelung von Lohn- und Produktivitätsentwicklung gekennzeichnet, so ist es den europäischen Gewerkschaften seither kaum mehr gelungen, den durch die nationale Inflationsrate und das gesamtwirtschaftliche Produktivitätswachstum vorgegebenen, sogenannten "kostenniveauneutralen", Verteilungsspielraum auszuschöpfen. Im Ergebnis kam es fast überall in Westeuropa zu einer massiven Umverteilung von Arbeitnehmer- zu Kapitaleinkommen: So sank in den 80er Jahren die gesamtwirtschaftliche Lohnquote im EU-Durchschnitt um 2,4 Prozentpunkte. Mit einem weiteren Rückgang von 3,1 Prozentpunkten hat sich der Prozeß der negativen Umverteilung in den 90er Jahren sogar noch beschleunigt (vgl. Tabelle 1).
Verteilungspolitisch befindet sich Westeuropa demnach bereits seit den 80er Jahren in einem nationalem Absenkungswettlauf, dem sich kaum ein Land entziehen konnte. Der anhaltende Prozeß negativer Umverteilung belegt dabei einmal mehr, daß nationale Tarifpolitik zusehends den Imperativen nationaler Wettbewerbs- und Standortlogiken untergeordnet wurde und die meisten europäischen Gewerkschaften in eine strukturelle tarifpolitische Defensivposition gerieten. Hinzu kommt, daß in den 80er und 90er Jahren in zahlreichen europäischen Ländern mit dem Abschluß nationaler Sozialpakte das Prinzip der wettbewerbsorientierten Tarifpolitik gleichsam zum Programm erhoben wurde. Damit hat sich unter Einbindung der Gewerkschaften eine neue Form des nationalen "Wettbewerbskorporatismus" herausgebildet, dessen Zentrum "Vereinbarungen der Sozialpartner (stehen), die zum Ziel haben, den Reallohnzuwachs auf einen Wert unterhalb des Produktivitätszuwachses abzusenken oder den Reallohnzuwachs im Vergleich mit Lohnsteigerungen der wichtigsten Handelspartner zu mäßigen" (Europäische Kommission 1997, S. 16). Der nationale Wettbewerbskorporatismus beruht demnach auf einer mehr oder weniger offen ausgesprochenen "Beggar-my-Neighbour-Logik", nach der durch eine nachhaltig "moderate" Tarifpolitik nationale Wettbewerbsvorteile auf Kosten der europäischen Nachbarländer erzielt werden sollen (s.a. den Beitrag von Bieling/Deppe in diesem Band).
Die Anreize für eine wettbewerbsorientierte Tarifpolitik dürften sich mit der Einführung des Euro sogar noch erhöhen, da eine Politik der forcierten Lohnzurückhaltung nicht mehr durch eine entsprechende Aufwertung der nationalen Währungen konterkariert werden kann. Damit fällt auch ein neues Licht auf die viel diskutierte Frage des "Lohn- und Tarifdumping". Die Dumping-Gefahr geht demnach nicht in erster Linie von den klassischen europäischen Niedriglohnländer aus, sondern vielmehr von all denjenigen Ländern, die in ihren Tarifabschlüssen hinter der nationalen ökonomischen Leistungsfähigkeit zurückbleiben. In diesem Sinne haben in den letzten Jahren vor allem reichere Länder wie die Bundesrepublik Deutschland de facto Tarifdumping betrieben.
Die mittlerweile von den meisten europäischen Gewerkschaften zumindest programmatisch erhobene Forderung nach einer "Europäisierung" der Tarifpolitik reflektiert zum einen, die realistische Gefahr eines andauernden tarifpolitischen Unterbietungswettlaufs, zum anderen deutet sei darauf hin, daß eine Überwindung ihrer tarifpolitschen Defensivposition allein im nationalen Rahmen immer weniger möglich wird. "Europäisierung" der Tarifpolitik bedeutet dabei zunächst nichts geringeres, als die originäre Funktion von Gewerkschaften, nämlich den Wettbewerb um Lohn- und Arbeitskosten zu begrenzen, auf europäischer Ebene neu zu rekonstruieren. Im Kern geht es also um eine politische Begrenzung nationaler Lohn- und Tarifkonkurrenzen.
Der auf den ersten Blick scheinbar naheliegende Weg hierzu wäre der Aufbau eines supranationalen Tarifvertragssystem auf europäischer Ebene, in dem "europäische Tarifverträge" europaweit gültige Mindeststandards definieren. In der Praxis wird dieser Ansatz jedoch wegen einer Vielzahl von politischen und strukturellen Gründen auf absehbare Zeit blockiert bleiben. Politisch steht diesem Weg insbesondere die Arbeitgeberseite entgegen, für die die europäische Integration primär ein neoliberales Deregulierungsprojekt darstellt, das ihnen gerade bedeutsame Hebel in die Hand gibt, um die "institutionellen Rigiditäten" nationaler Tarifvertragsbeziehungen weiter einzuschränken und die damit einhergehende Machtverschiebung zu ihren Gunsten zu stabilisieren (Streeck 1998). Demnach spricht derzeit auch wenig für die zuweilen in Gewerkschaftskreisen geäußerte Hoffnung, daß sich aus den bereits existierenden Formen des "sozialen Dialoges" auf europäischer Ebene allmähliche europäische Tarifvertragsbeziehungen entwickeln könnten (Keller 1999). Darüber hinaus bleibt jedoch auch aus strukturellen Gründen unklar, wie angesichts der institutionellen Vielfalt nationaler Tarifvertragssysteme sowie der unterschiedlichen ökonomischen Ausgangsbedingungen in den einzelnen europäischen Staaten ein einheitliches europäisches Tarifvertragssystem aussehen könnte.
Schließlich hat die gewerkschaftliche Forderung nach einer europaweiten Festlegung von sozialen Mindeststandards zwar bezogen auf bestimmte essentielle Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechte durchaus seine Berechtigung, für eine Begrenzung nationaler Tarifkonkurrenzen scheint das Mindeststandardkonzept hingegen nur wenig tauglich. Das Problem entsteht bereits bei der Bestimmung der Referenzwerte: Orientieren sich die Mindeststandards an den Ländern mit dem jeweils niedrigsten Niveaus, so bleiben sie im günstigsten Fall für alle übrigen Länder ohne praktische Bedeutung, im ungünstigsten Fall könnte von Ihnen sogar ein Druck für die Absenkung bestimmter Standards im Sinne einer "Harmonisierung nach unten" ausgehen. Orientieren sie sich dagegen an den Standards höher entwickelter Länder, so wären einige Länder ökonomisch schlichtweg überfordert, diese Standards umzusetzen.
Eine realistische Konzeption für eine Europäisierung der Tarifpolitik steht heute vor der Aufgabe, eine Strategie zu entwickeln, die auf eine Begrenzung nationaler Lohn- und Tarifkonkurrenzen abzielt ohne dabei von vornherein auf ein supranationales Tarifvertragssystem bauen zu können. Eine solche alternative Strategie wird mittlerweile in Teilen der europäischen Gewerkschaften als "Koordinierungsansatz" diskutiert, bei dem nicht mehr der Abschluß "europäischer Tarifverträge" sondern die europaweite Koordinierung nationaler Tarifpolitik im Mittelpunkt steht (Schulten 1999b). Der Koordinierungsansatz löst sich damit von der Vorstellung einer europäischen Harmonisierung tarifpolitischer Institutionen und geht statt dessen davon aus, daß in absehbarer Zeit Tarifauseinandersetzungen weiterhin primär im nationalen Rahmen stattfinden werden und damit auch die unterschiedlichen nationalen Tarifsysteme weiter bestehen bleiben. Gleichzeitig sollen durch europaweite Kooperationen der Gewerkschaften die unterschiedlichen nationalen Tarifauseinandersetzungen jedoch so miteinander verknüpft werden, daß nationales Tarifdumping und europaweite Absenkungswettläufe vermieden werden.
Die Umsetzung des Koordinierungsansatzes ist auf gewerkschaftlicher Seite jedoch an mindestens zwei höchst anspruchsvolle Voraussetzungen gebunden. Zum einen müssen die europäischen Gewerkschaften sich inhaltlich auf politische Kriterien und Richtlinien für eine "solidarische Tarifpolitik" in Europa verständigen. Zum anderen müssen sie wirksame politische Institutionen aufbauen, mit deren Hilfe eine europaweite tarifpolitische Zusammenarbeit in der Praxis umgesetzt werden kann. Es ist dabei unschwer zu erkennen, daß die europäischen Gewerkschaften derzeit weder über ein umfassendes Konzept für eine solidarische Tarifpolitik in Europa verfügen, noch entsprechend handlungsfähige Strukturen für eine europäische Tarifkooperation entwickelt haben. In jüngster Zeit haben sich gleichwohl insbesondere im Umfeld des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes (EMB) einige interessante Ansätze entwickelt, die neue inhaltliche und institutionelle Perspektiven für eine europäische Koordinierung nationaler Tarifpolitik eröffnen.
Die erste und wichtigste Voraussetzung des Koordinierungsansatzes liegt darin, daß es den europäischen Gewerkschaften gelingt, sich mit gemeinsame Positionen auf ein tarifpolitisches Projekt zu verständigen, daß der neoliberalen Logik nationaler Standortkonkurrenzen entgegensteht. Dem vorherrschenden und im Kern zutiefst nationalistischen Konzept einer wettbewerbsorientierten Tarifpolitik muß demnach bewußt das Leitbild einer solidarischen Tarifpolitik in Europa entgegengestellt werden. In diesem Sinne einigten sich im September 1998 die belgischen, deutschen, luxemburgischen und niederländischen Gewerkschaften im Rahmen der sogenannten "Erklärung von Doorn" darauf, in allen beteiligten Ländern ein tarifliches Abschlußvolumen anzustreben, "das der Summe aus Preisentwicklung und Steigerung der Arbeitsproduktivität entspricht" (Kreimer-de Fries 1999). Dem Dokument gebührt insofern eine "historische Qualität", als daß sich erstmals überhaupt Gewerkschaften über nationale Grenzen hinweg auf eine tarifpolitische Orientierungsformel verständigen, mit deren Hilfe eine tarifpolitische Konkurrenz begrenzt werden soll. In die gleiche Richtung zielt die im Dezember 1998 vom EMB verabschiedete "neue europäische Koordinationsregel", die sich explizit gegen eine "weitere Umverteilung der Einkommen zugunsten der Kapitalgewinne" richtet und deshalb für eine Tarifpolitik plädiert, die neben dem Ausgleich der Inflationsrate "eine gleichgewichtige Beteiligung der Arbeitnehmereinkommen an den Produktivitätsfortschritt" sicherstellt (EMB 1998).
Den inhaltlichen Kern sowohl bei der Initiative von Doorn als auch bei der EMB-Koordinierungsregel bildet demnach die Forderung nach einer Rückkehr zur produktivitätsorientierten Tarifpolitik, bei der die jeweils nationalen Verteilungspielräume aus Preis- und Produktivitätsentwicklung voll ausgeschöpft werden sollen. Es geht demnach im ersten Schritt nicht um eine europaweite Harmonisierung von Löhnen und Arbeitsbedingungen, sondern um eine Tarifpolitik, die den nationalen Begebenheiten Rechnung trägt und der nationalen ökonomischen Leistungsfähigkeit entspricht. Durch die volle Ausschöpfung des Produktivitätsfortschritts soll dabei sich gestellt werden, daß die tarifpolitschen Ergebnisse eines Landes sich gegenüber den anderen Ländern zumindest "wettbewerbsneutral" verhalten und auf diese Weise bewußt auf nationale Tarifdumpingstrategien verzichtet wird. Damit wird implizit auch die wettbewerbskorporatistische Einbindung der Tarifpolitik im Rahmen nationaler Sozialpakte kritisiert, die sich als wichtige Barriere einer europäischen Koordinierung nationaler Tarifpolitiken herausstellen könnte.
Angesichts der derzeit vorherrschenden tarifpolitschen Realitäten in Europa würde die Rückkehr zu einer produktivitätsorientierten Tarifpolitik nichts geringeres als eine erneute grundlegende Trendwende in der Tarifpolitik bedeuten. Die Formel vom "Ende der Bescheidenheit" (Klaus Zwickel) hat somit auch eine eminent europapolitische Bedeutung, da nur sie einen Weg hin zu einer solidarischen Tarifpolitik in Europa eröffnet. Ohne eine erneute tarifpolitische Wende in Europa droht dagegen jede Kooperation der europäischen Gewerkschaften an den harten Konkurrenzverhältnissen zu zerbrechen. Erst die Durchsetzung einer produktivitätsorientierten Tarifpolitik wird den europäischen Gewerkschaften auch den nötigen Spielraum verschaffen über eine rein defensive Abwehr nationaler Tarifkonkurrenzen hinaus ein gemeinsames tarifpolitisches Reformprogramm zur zukünftigen Gestaltung der europäischen Arbeitsgesellschaft zu entwickeln.
Gegenüber der supranationalen Variante einer Europäisierung der Tarifpolitik weist der Koordinierungsansatz eine Reihe von strategischen Vorteilen auf. Der Koordinierungsansatz geht erstens von den bestehenden, national divergierenden Tarifpolitiken aus und verzichtet auf einen kompletten institutionellen Neu- und Umbau europäischer Tarifvertragsstrukturen. Darüber hinaus versucht er zweites eine dichotome Sichtweise von europäischer und nationaler Tarifpolitik zu überwinden, indem er die Europäisierung gewerkschaftlichen Tarifvertragspolitik nicht primär als Verlust nationaler Souveränität begreift, sondern auf die Verknüpfung beider Ebene zu einem komplementäres "Win-Win-Game" abzielt, bei der sich die Restabilisierung nationaler Tarifvertragssysteme und deren europäischer Koordinierung gegenseitig stützen. Damit bewahrt er die europäischen Gewerkschaften zugleich vor der möglichen Illusion, durch eine bloße Übertragung tarifpolitischer Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene, die nationalen Schwächen der Gewerkschaften kompensieren zu können.
Drittens befreit der Koordinierungsansatz die Gewerkschaften von einer tendenziell handlungslähmenden, institutionalistischen Fixierung auf supranationale Tarifverträge und löst die Abhängigkeit von einer fehlenden europäischen Tarifvertragspartei auf Arbeitgeberseite. Alle bisherigen Erfahrungen "europäischer Sozialdialoge" haben nur allzu deutlich gezeigt, daß sich die europäischen Arbeitgeberverbände solange jeglichen europäischen Tarifvereinbarungen verweigern werden, solange ihnen auf europäischer Ebene keine konfliktfähigen politischen und gewerkschaftlichen Akteure gegenüberstehen. Der Koordiniereungsansatz betont damit viertens die Notwendigkeit des Aufbaus neuer autonomer Gewerkschaftsstrukturen in Europa und der Herausbildung autonom handlungsfähigen europäischen Gewerkschaftsbewegung.
Dies bislang existierenden Gewerkschaftsstrukturen in Europa erfüllen die zuletzt genannten Voraussetzungen lediglich in Ansätzen. So sind der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) und die branchenbezogenen Europäischen Industrieföderationen eng in das europäische Institutionen- und Lobbygeflecht eingebunden und sind insbesondere in finanzieller Hinsicht in hohen Maße von der Europäischen Kommission abhängig (Martin/Ross 1998). Insofern ist es auch wenig erstaunlich, "daß sich die europäischen Gewerkschaften auf der europäischen Aktionsebene hauptsächlich als 'verantwortungsbewußte Partner' verhalten, so als sei ihnen nur daran gelegen, von der Gegenseite geachtet an der Führung der Geschäfte mitzuwirken, wozu sie sich einer maßvollen Lobby-Tätigkeit befleißigen und im übrigen an die von Jacques Delors entwickelten, als Dialog betitelten Verkehrsformen halten" (Bourdieu 1999).
Die Gewerkschaften existieren bislang auf europäischer Ebene zwar als Institution, nicht jedoch als wirkliche soziale Bewegung, in der nationale (Tarif-)-Auseinandersetzungen miteinander verknüpft werden. Der Koordinierungsansatz zielt nun jedoch genau auf jene autonome Verknüpfung nationaler Gewerkschafts- und Tarifpolitiken und plädiert damit auch für ein neues Selbstverständnis europäischer Gewerkschaftspolitik. Zur Umsetzung des Koordinierungsansatzes sind dabei sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene institutionelle Innovationen notwendig.
Im Zentrum einer europäischen Koordinierung nationaler Tarifpolitik werden die branchenbezogenen europäischen Gewerkschaftsverbände wie z.B. der EMB stehen. Diese müssen geeignete tarifpolitische Arbeitsstrukturen schaffen, in denen gemeinsame tarifpolitische Positionen erarbeitet werden und politische Umsetzungsstrategien entwickelt werden können. Der EMB hat z.B. in den letzten Jahren eine Reihe von neuen tarifpolitschen Institutionen geschaffen, die insgesamt eine wichtige Infrastruktur für die tarifpolitische Zusammenarbeit bilden (Schulten 1999b). Andere europäische Gewerkschaftsausschüsse stehen dagegen in dieser Hinsicht noch ganz am Anfang: von insgesamt 14 existierenden europäischen Branchenverbände verfügen derzeit lediglich vier oder fünf über eine Art "Tarifpolitischen Ausschuß", der zumindest einen regelmäßigen Austausch von Tarifinformationen sicherstellt.
Neben dem Ausbau originär europäischer Gewerkschaftsorganisationen sind jedoch auch auf nationaler Ebene Erneuerungen notwendig, die in der Lage sind, die europäische Dimension auch in den alltäglichen nationalen Tarifauseinandersetzungen institutionell zu verankern. In die zuletzt genannte Richtung zielt das im Rahmen des EMB-Koordinierungsansatzes insbesondere von der IG Metall vorangetriebene Konzept grenzüberschreitender Tarifpartnerschaften (Gollbach/Schulten 1999). Demnach hat die IG Metall in jüngster Zeit damit begonnen, in all ihren regionalen Bezirksorganisationen feste Tarifpartnerschaften mit Metallgewerkschaften der Anrainerstaaten aufzubauen (Tabelle 2). Das Ziel dieser Initiativen besteht in der Entwicklung eines grenzüberschreitenden Tarifnetzwerke, das vielfältige Formen gemeinsamer Kontakte und Beziehungen umfaßt und in dessen Zentrum der gegenseitige Austausch von gewerkschaftlichen Beobachtern während der aktuelle laufenden Tarifauseinandersetzungen steht. Der vom EMB anvisierte flächendeckende Ausbau grenzüberschreitender Tarifpartnerschaften in Europa würde gleichsam einen breiten institutionellen Unterbau für eine europäische Koordinierung nationaler Tarifpolitik bilden, der - zusammen mit den europäischen Betriebsräten - nicht zuletzt auch die Keimzelle für grenzüberschreitende Aktionen und Konflikte bilden könnte.
Die Europäisierung der Tarifpolitik muß insgesamt vor allem als ein politisches Projekt der europäischen Gewerkschaften verstanden werden. Dabei bietet die Notwendigkeit zur Verständigung auf eine Konzept solidarischer Tarifpolitik, das der nationalen Wettbewerbslogik entgegensteht, nicht zuletzt auch eine Chance für eine Re-Politisierung nationaler Tarifauseinandersetzungen. Hinzu kommt notwendige Ausbau europäischer Gewerkschaftsstrukturen und ein erneuertes Verständnis europäischer Gewerkschaftsarbeit, daß sich zuvorderst daran orientiert, die aus den europäischen Gewerkschaften eine "wirkliche Sozialbewegung auf europäischer Ebene" wird. (Bourdieu 1999)
* Dieser Artikel erscheint demnächst in: Horst Schmitthenner/Hans-Jürgen Urban (Hg.): Sozialstaat als Reformprojekt. Option für eine andere Politik. 352 S., DM 39,80, ISBN: 3-87975-738-0 im VSA-Verlag, auf dessen Homepage das Buch auch per e-mail bestellt werden kann und dem wir für die Vorabdruckgenehmigung danken!
Bourdieu, Pierre (1999): Das soziale Europa, in: Le Monde Diplomatique (deutsche Ausgabe) vom 11 Juni 1999.
Europäischer Metallgewerkschaftsbund (EMB 1998): Tarifpolitik mit dem Euro. Entschließung der 3. Tarifpolitschen Konferenz des EMB, Frankfurt a.M. 9./10. Dezember 1998, dokumentiert in: Schulten/Bispinck (1999), S. 253-259.
Gollbach, Jochen/Schulten, Thorsten (1999): Grenzüberschreitende Tarifpartnerschaften in Europa. Neue Ansätze zur europäischen Koordinierung nationaler Tarifpolitik in der Metallindustrie, in: WSI-Mitteilungen 7/99, S. 456-464.
Keller, Berndt (1999): Supranationale Regulierung von Arbeitsverhältnissen - Das Beispiel der EU, in: WSI-Mitteilungen 2/99, S. 109-118.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Gemeinsamer Bericht zur Beschäftigung 1997 (Rev. 8), Brüssel, 30 September 1997, S. 16.
Kreimer-de Fries, Joachim (1999): Tarifkooperation der Gewerkschaftsbünde BeNeLux-Deutschland: Die "Erklärung von Doorn", in: Schulten/Bispinck (1999), S. 185-196.
Martin, Andrew/Ross, Gerorg (1998): European Integration and the Europeanisation of Labour, in: Gabaglio, Emilio/Hoffmann, Reiner (eds.), The ETUC in the Mirror of Industrial Relations Research, European Trade Union Institute, Brüssel, S. 247-294.
Schulten, Thorsten (1999a): Auf dem Weg in die Abwärtsspirale? Tarifpolitik unter den Bedingungen der Europäischen Währungsunion, in: Schulten/Bispinck (1999), S. 16-37.
Schulten, Thorsten (1999b): Europäisierung der Tarifpolitik - Der Koordinierungsansatz des Europäischen Metallgewerkschaftsbundes (EMB), in: Schulten/Bispinck (1999), S. 197-226.
Schulten, Thorsten/Bispinck, Reinhard (Hrsg.) (1999): Tarifpolitik unter dem Euro. Perspektiven einer europäischen Koordinierung: das Beispiel Metallindustrie, Hamburg.
Streeck, Wolfgang (1998): Vom Binnenmarkt zum Bundesstaat?, in: Stephan Leibfried/Paul Pierson (Hrsg.), Standort Europa. Europäische Sozialpolitik, Frankfurt a.M., S. 369-421.