Gemeinsame Erklärung der Gewerkschaften und Gewerkschaftsbünde aus Deutschland und den Beneluxländern vom 05. September 1998 (Doorn/Niederlande)

EURO erzwingt lohnpolitische Kooperation 

Führende Vertreter der belgischen, deutschen, luxemburgischen und niederländischen Gewerkschaftsbünde sind am 4. und 5. September in Doorn (NL) zusammen gekommen, um sich über ihre gewerkschaftliche Tarifpolitik und deren politisch-ökonomische Rahmenbedingungen zu informieren sowie Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu finden. Die beteiligten Gewerkschaftsorganisationen sind der Auffassung, dass die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes und die Einführung der gemeinsamen Währung EURO eine solche Abstimmung über die Grenzen hinweg dringend erfordert, um negative Konkurrenz auf dem Gebiet der Entlohnung, der Arbeitsbedingungen, der Sozial- und Steuerpolitik zu vermeiden. Ein erstes Treffen dieser Art hatte im Juni 1997 in Belgien stattgefunden.

Die Konferenzteilnehmer der vier Länder haben sich jetzt in Doorn auf die folgenden Ausgangspunkte, Ziele und Forderungen verständigt:

I. Tarifliches Abschlussvolumen

Das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre hat zu wenig Ergebnisse für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Form von mehr Beschäftigung, Abbau der Arbeitslosigkeit und Verbesserung der Kaufkraft gebracht. Die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist in den beteiligten Ländern - wie in Europa insgesamt - einseitig der Kapitalseite zugute gekommen, der Anteil der abhängig Beschäftigten am Volkseinkommen (Lohnquote) ist herabgesunken. Eine Fortsetzung dieser Tendenz der gesamtwirtschaftlichen Einkommensverteilung ist gesellschaftlich und ökonomisch nicht zu verantworten. Die teilnehmenden Gewerkschaftsorganisationen setzen sich für eine Trendveränderung zu Gunsten der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ein, für ihre volle Beteiligung am wirtschaftlichen Wachstum in Form von mehr Arbeitsplätzen und Kaufkraftverbesserung:

  1. Die beteiligten Gewerkschaften streben ein tarifliches Abschlussvolumen an, das der Summe aus Preisentwicklung und Steigerung der Arbeitsproduktivität entspricht.
  2. Die teilnehmenden Gewerkschaften streben sowohl eine Stärkung der Massenkaufkraft als auch beschäftigungswirksame Maßnahmen (z. B. Arbeitszeitverkürzung) an.
  3. Die beteiligten Organisationen werden sich regelmäßig über die tarifpolitische Entwicklung informieren und konsultieren.

Die Gewerkschaften der vier Länder wollen prüfen, wie sie nötigenfalls ihren Forderungen auch grenzüberschreitend Nachdruck verleihen können.

Die Gewerkschaften sind sich der Bedeutung einer verantwortungsvollen Lohnfindung in einer europäischen Gewerkschaftsstrategie für mehr Wachstum und Beschäftigung bewusst. Die von ihnen verfolgten lohnpolitischen Ziele sind wirtschaftlich vertretbar und fördern, vor allem langfristig, eine positive Beschäftigungsentwicklung. Um diese zu erreichen, müssen auch die andern wirtschaftlichen Akteure (Staaten, Europäische Zentralbank, Arbeitgeber) ihre volle Verantwortung übernehmen.

Mit ihrer lohnpolitischen Abstimmung verfolgen die teilnehmenden Organisationen vor allem das Ziel, eine von den Arbeitgebern gewollte Unterbietungskonkurrenz bei den tarifvertraglichen Einkommen zwischen den betroffenen Ländern zu verhindern. Sie verstehen diese nachbarschaftliche Initiative als einen Schritt auf dem Wege zu einer europäischen Zusammenarbeit im Bereich der Tarifverhandlungen.

II. Beschäftigung, Weiterbildung und Humanisierung der Arbeit

  1. Mit den Arbeitgebern und ihren Verbänden sollen Vereinbarungen über beschäftigungspolitische Maßnahmen in den jeweiligen Branche und Unternehmen getroffen werden. Dabei geht es vor allem darum, für bisher chancenlosen Gruppen neue Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Formen der Umverteilung von Arbeit und Arbeitszeitverkürzung sind Teil der hier angesprochenen Politik; dieses gilt auch für Instrumente, welche die Kombination von Arbeit und familiären Betreuungspflichen erleichtern.
  2. Das Angebot von Weiterbildung für Beschäftigte und für unfreiwillig Nichterwerbstätige ist ein unabdingbares Instrument bei der Erweiterung von deren Auf- und Einstiegsmöglichkeiten. Weiterbildung ist auch ein Instrument, mit dem verhindert werden kann, daß älter werdende Arbeitnehmer frühzeitig "ausrangiert" werden. Die betroffenen Arbeitnehmerorganisationen machen es sich an möglichst vielen Orten und auf allen Ebenen zum Ziel, sich für "mehr Weiterbildung für mehr Menschen" einzusetzen. Die Arbeits- und Ausbildungspolitik soll auch dazu beitragen, daß ungewünschte Formen von Flexibilisierung (z. B. Arbeit auf Abruf) vermieden werden.
  3. Die Entwicklung der Produktionstechnik und Arbeitsorganisationen muß auf die Konsequenzen für die Arbeitsbedingungen hin überprüft werden. Die betroffenen Arbeitnehmerorganisationen werden sich in diesem Zusammenhang weiterhin gegen Arbeitsverdichtung und für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzen.

III. Regierungspolitik

Die betroffenen Arbeitnehmerorganisationen sind der Ansicht, daß den genannten Zielen durch eine unterstützende Regierungspolitik - z.B. im Rahmen eines nationalen Bündnisses für Arbeit - Nachdruck verliehen werden muß. Diese Regierungspolitik muß auf die Schaffung von Arbeit und die Gestaltung der wesentlichen Werte des Sozialstaates gerichtet sein. Im einzelnen handelt es sich hierbei um:

  1. Änderungen in der Steuerpolitik und zwar so, daß die Lasten für Arbeitnehmer gesenkt, die Beschäftigungsmöglichkeit und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung gefördert werden. Deswegen müssen nationale Initiativen durch eine europäische Steuerharmonisierung unterstützt und erleichtert werden.
  2. Eine beschäftigungsorientierte Wirtschaftspolitik, unter anderem durch Investitionen in die soziale, ökonomische und technologische Infrastruktur, muss die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen im privaten und öffentlichen Bereich (hierunter fällt der Versorgungssektor) anstoßen.
  3. Festhalten an der sozialen Sicherheit auf zumindest dem heutigen Niveau und eine gerechte Verteilung der Finanzierungslasten. Das heißt, dass die Sozialleistungen im Gleichschritt mit der Lohnentwicklung gehalten werden.
  4. Entwicklung einer flankierenden Rahmengesetzgebung zur Arbeitszeit, die beschäftigungswirksame tarifliche Arbeitszeitregelungen (z.B. Arbeitszeitverkürzung, Altersteilzeit) nicht behindert.
  5. Die Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes müssen in Europa völlige Tarifverhandlungsfreiheit haben. Danach müssen sich Löhne und andere Arbeitsbedingungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst gleichwertig mit denen in der privaten Wirtschaft entwickeln können. Die Gebietskörperschaften müssen dabei - auch in finanzieller Hinsicht - ihre Verantwortung wahrnehmen.
  6. Wahrung bzw. Schaffung eines Gesprächsklimas zwischen Regierung, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen, das eine stärkere und reelle Einbeziehung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen bei wesentlichen Beschlüssen zur sozial-ökonomischen Politik garantiert.

IV.

Die beteiligten Gewerkschaftsorganisationen haben beschlossen, sich gegenseitig intensiv über ihre tarifpolitischen Forderungen und Verhandlungsergebnisse zu informieren. Zu diesem Zweck wurde eine Koordinationsgruppe von Sachverständigen gebildet, die regelmäßig zusammenkommt, um Informationen und Erfahrungen bezüglich der Tarifverhandlungen auszutauschen. Darüber hinaus dient diese Arbeitsgruppe dem Austausch der beteiligten Organisationen über Initiativen gegenüber ihren Regierungen sowie über tarifpolitisch bedeutsame Maßnahmen der Staaten.

V.

Im Jahr 1999 werden die Gewerkschaftsbünde der vier Länder in Deutschland zu einer dritten Konferenz auf der Führungsebene zusammentreffen, um die Ergebnisse ihrer Kollektivverhandlungen zu bilanzieren und über die weitere Kooperation zu beraten. Die beteiligten Organisationen haben den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) über ihre Initiative informiert.

Verabschiedet am 5. September 1998 von den Vorsitzenden
bzw. tarifpolitich verantwortlichen Vorstandsmitgliedern
der Gewerkschaftsbünde Belgiens (ABVV, ACV)
Deutschlands (DGB, DAG), der Niederlande (CNV, FNV, MHP)
und Luxemburgs (CGT-L, LCGB)
sowie der beteiligten sektoralen Mitgliedsgewerkschaften
für die Wirtschaftsbereiche Bau, Chemie, Metall/Elektro, private und öffentliche Dienste u. a.