Home > Diskussion > Gewerkschaftsstrategien > (intern.) Erfahrungen > Kampfform > timmermann | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Keine vorübergehende Krise Rüdiger Timmermann über alternative Arbeitskampfformen Die neuen Mitgliederzahlen des DGB liegen vor: Demnach haben die DGB-Gewerkschaften auch in 2005 wieder einen Mitgliederrückgang zu verzeichnen. Mit minus 234399 bzw. 3,3 Prozent liegt er zwar unter den Zahlen für 2004 (350000 bzw. 4,8 Prozent), doch von einer Umkehr des Trends lässt sich nicht reden, schon gar nicht bei ver.di: Angetreten als größte Einzelgewerkschaft der Welt (2001: 2,8 Mio. Mitglieder) hat ver.di seit Gründung rund 500000 Mitglieder verloren, liegt mittlerweile mit rund 2,36 Mio. Mitgliedern wieder hinter der IGM und hatte im vergangenen Jahr mit einem Rückgang um 4,3 Prozent die deutlichsten Einbußen aller Gewerkschaften. Ob diese Zahlen als Symptom oder Ursache der Schwäche der Gewerkschaften interpretiert werden, entscheidet über die Reaktionen auf die Krise. Zu konstatieren ist jedenfalls eine Öffnung gegenüber neuen Wegen aus selbiger, wenngleich noch nicht klar ist, welche Wege denn nun in welcher Perspektive beschritten werden sollen. Einerseits experimentiert ver.di mit einem neu aufgelegten »Organizing«-Projekt in Hamburg, andererseits werden in rasantem Tempo neue »Kampagnen« angekündigt. Wenn Kampagnen als »Chance für die Gewerkschaften« begriffen werden sollen, wie es auf der diesbezüglichen Tagung im November letzten Jahres (s. express, Nr. 1/06) hieß, dann ist damit mehr gemeint als der kurzsichtige Blick auf den Mitgliederrückgang als Symptom der gewerkschaftlichen Schwäche. Rüdiger Timmermann, Landesbezirksleiter in ver.di Nord, machte in seinem Beitrag zu der Tagung, den wir hier als gekürzten Vorabzug zur in Kürze erscheinenden Tagungsdokumentation veröffentlichen, deutlich, dass und wie die Entwicklung neuer Arbeitskampfformen und eine politische Debatte über die Ursachen der gewerkschaftlichen Krise zusammen hängen. (...) Offensichtlich ist zunächst, dass, wenn man sich mit Kampagnen und mit der Methodik von Kampagnen befasst, sofort alle ganz optimistisch sagen, das ist etwas, das machen wir zukünftig, weil es offensichtlich Erfolg bringt. Also stellt sich die Frage, warum es doch schwieriger ist, in der Organisation solche Methoden zu etablieren. Hier muss man Antworten finden, um zu wissen, wie man weiter arbeiten soll. Viele Kolleginnen und Kollegen fragen uns: Warum macht Ihr das nicht wie die Gewerkschaften in Frankreich oder in Italien? Warum traut ihr Euch das nicht? Die Menschen gehen doch auf die Straße, auch in Deutschland. Das Problem liegt ein bisschen tiefer. Wir erleben seit 25 Jahren, wie hier heute festgestellt worden ist, den Neoliberalismus. Wir erleben Angriffe auf Arbeitnehmerrechte, wir erleben Angriffe auf Menschenrechte, wir erleben Angriffe auf demokratische Rechte, und wir erleben eine deutliche Schwächung der Gewerkschaftsbewegung insgesamt. Wir haben als Gewerkschaft im Dienstleistungsbereich versucht darauf strukturell zu reagieren, haben jedoch wenig Energie aufgewandt, um die politische Debatte zu führen, dass wir möglicherweise über die gesellschaftliche in eine politische Krise geraten sind. Wenn überhaupt, wurde diese Debatte in kleinen Bereichen, aber nicht in der Gesamtorganisation geführt. Wir sehen die Auswirkungen dieser Politik im Alltag: Wir haben eine massenhafte Entrechtung der Menschen, Vernichtung von Arbeitsplätzen, Privatisierungen ohne Ende, Tarifflucht, wir haben eine Absenkung der Arbeitsbedingungen und damit auch der Lebensbedingungen. Das alles hätte man sich vor 20 Jahren nicht vorstellen können. Viele von Euch ackern jeden Tag bis zum Umfallen und versuchen aufzuhalten, was aufzuhalten ist, aber trotzdem ist der Trend insgesamt so, dass sich die Kapitalstrategien Schritt für Schritt, Jahr für Jahr durchsetzen. Wer sich das BDI/BDA-Papier von 1980, an dem Graf Lambsdorff beteiligt war, anschaut, der kann vieles von dem nachlesen, was damals bereits geplant und bis heute politisch entschieden und umgesetzt wurde. Dagegen haben wir in Deutschland eine Gewerkschaftsbewegung, die darauf nicht eingestellt ist. Sie ist, nach 1945, aus einer Kultur entstanden, die die Form des so genannten Rheinischen Kapitalismus geprägt hat. Wir haben die soziale Marktwirtschaft organisiert, d.h. wir haben versucht dem Kapitalismus ein menschliches Antlitz zu geben, ihn sozial zu gestalten, und das ist im Wesentlichen durch die Mitbestimmung und über die Betriebsverfassung als Teil der Mitbestimmung erfolgt. Übrigens vergessen wir immer wieder, dass im Bereich der Betriebsverfassung schon die Spaltung angelegt ist; es gibt keine betriebliche Interessenvertretung der Gewerkschaften, sondern es gibt die Betriebsräte, die relativ unabhängig von den Gewerkschaften sind, und wir müssen jeden Tag wieder ackern, um Betriebsräte und Gewerkschaften zusammen zu führen. Das gleiche gilt für die Mitbestimmung in den Unternehmen, also die aufsichtsratsmitbestimmten Tatbestände. Dort sitzen wir zwar oft in Unternehmen, in denen wir Gegenmacht haben, aber diese Gegenmacht haben wir nicht, weil wir im Aufsichtsrat sitzen, sondern weil die Belegschaften organisiert sind. Wir sind aber auch in Aufsichtsräten von Unternehmen vertreten, in denen wir überhaupt keine Macht haben. In denen dürfen wir teilhaben an der Politik, die dort gestaltet wird, und uns verhaften lassen, wenn sie schief geht. Ich glaube zudem nicht, dass die derzeitige Debatte um die Eingrenzung der Mitbestimmung bereits beendet ist, im Gegenteil: Wir werden sie noch verstärkt bekommen. Neben der Mitbestimmung ist die Tarifautonomie eine wesentliche Säule der Gestaltung von Arbeits- und Lebensbedingungen, und auch hier erleben wir schwere Angriffe: Wir hatten einen sauberen Arbeitskampf im Druckbereich, der auch ein gutes Ergebnis hatte. Das hat allerdings dazu geführt, dass nach der Unterschrift die großen Konzerne alle aus dem Verband ausgetreten sind und wir heute wieder Betrieb für Betrieb, Unternehmen für Unternehmen in die Tarifbindung zurückholen müssen. Es gibt zudem den Bereich der sozialen Sicherungssysteme. Sie sollen schützen, wenn die Existenz bedroht ist, durch Krankheit, Arbeit, Alter. Diese Systeme werden heftig angegriffen. Das alles führt im Ergebnis zu unserer Schwächung. Wir wissen auch, dass die Bindung der Menschen an die Gewerkschaften immer schwächer wird, und überall da, wo Gewerkschaften aus dem Betrieb rausgedrängt werden, erpresst werden, wo die Tarifbindungen verloren gehen, überall dort treten die Menschen aus den Gewerkschaften aus oder nicht mehr ein. Markt ohne Menschenrechte? Warum erzähle ich das alles? Weil ich glaube, dass das Teil unserer Kultur ist. Wir sind Teil dieses Systems. Wir haben über viele Jahre eine Form der Stellvertreterpolitik gemacht und dieses System politisch mitgestaltet, und zwar immer politisch gewollt. Als ab 1990 der sog. Systemkampf beendet wurde und das Kapital nicht mehr nachweisen musste, dass die Demokratie und ihre soziale Gestaltung ein besseres System seien als der Sozialismus oder der Kommunismus, sind wir in eine Situation gekommen, in der das Kapital eigentlich weder Menschenrechte braucht noch demokratische Rechte, sondern eigentlich nur noch einen Markt. Insofern die Frage des Marktes mittlerweile die ganz entscheidende geworden ist, lässt sich auch nachvollziehen, warum das passiert, was alles passiert. Wir hatten mal geglaubt, nach der französischen Revolution seien gesellschaftlich anerkannte Grundrechte durchgesetzt worden. Möglicherweise gibt es dieses Einvernehmen, diese Vereinbarung in der Gesellschaft nicht mehr. Die Kapitalseite braucht keine demokratischen Strukturen - wir brauchen sie. Sie brauchen den Markt. Sie können in China wunderbar verkaufen, ohne dass es dazu demokratischer Rechte bedürfte. Das gilt auch für Europa. Auch in Europa braucht man eigentlich nur den Markt und keine demokratischen Rechte. Deswegen glaube ich, dass wir zukünftig Kampagnen sehen werden, die um demokratische Rechte kämpfen. Das, was wir mal als gesellschaftlich anerkannte, politisch legitimierte Grundlage dieses Systems unterstellt haben, wird aus meiner Sicht mittlerweile komplett in Frage gestellt. Es gibt zwar immer noch die Stellvertreterpolitik über die Personalräte, über unsere Hauptamtlichen, über unsere Führungen, die auch immer noch teilweise Erfolg hat, aber dieser Bereich wird immer schwächer. Die Tatsache, dass die Tarifgemeinschaft der Länder keinen Tarifvertrag mehr will oder diktiert, welchen sie noch unterschreiben wird, und der Hessische Ministerpräsident Koch sagt, entweder ihr unterschreibt diesen, oder ihr kriegt gar keinen, zeigt, dass die gesellschaftlichen Normen aufgekündigt wurden, die Partnerschaft der Gewerkschaften im System, und vom Prinzip her das gesamte gesellschaftliche System. Ich glaube, dass der deutsche Gewerkschaftsbund damit nicht klar kommt und dass dies ein wesentlicher Grund für seine politische Krise ist. (...) Das muss Ursachen haben, denn es ist doch nicht so, dass die Menschen, die das machen, nicht wüssten, was sie da tun. Warum also machen sie das? Warum gibt es Formen der Beteiligung, der Demokratisierung, des Kampfes - und es kommt immer wieder zu dem Punkt, an dem unsere Führung sagt: Jetzt müssen wir aber aufpassen, jetzt sind wir weit genug gegangen, jetzt müssen wir zurück zur Partnerschaft, zur Stellvertreterpolitik, zum Korporatismus? Arbeitsplätze und Gerechtigkeit - verdrehte Logik Und dann haben wir als Gewerkschaften noch das Problem, dass uns zumindest ab 1999 offensichtlich die parlamentarische Seite abhanden gekommen ist. Bis jetzt war es immer so, dass es auf der einen Seite die Gewerkschaften gab und auf der anderen Seite im Wesentlichen die Sozialdemokratie, die im parlamentarischen System unsere Interessen wahrgenommen hat. Seit 1999, spätestens seit der Agenda 2010, ist offensichtlich, dass es keine an den Gewerkschaftsinteressen orientierte Politik der Partei auf parlamentarischer Ebene mehr gibt. Es gibt zwei Kernaussagen, die wir uns bewusst machen müssen, weil über sie die politische Legitimation der derzeitigen Politik erfolgt. Die eine Aussage lautet: Alles, was wir tun, dient dazu, Arbeitsplätze zu schaffen. Die, die sich gegen diese Politik stellen, sind verantwortlich dafür, dass keine Arbeitsplätze geschaffen werden können - und das sind im Kern die Gewerkschaften. Es ist doch völlig klar: Wenn man Arbeitszeit verlängert und Arbeitsplätze vernichtet, dann macht man das, um damit Arbeitsplätze zu schaffen. Logik ist hier der Schlüssel... Wenn man die Einkommen absenkt, dann macht man das, um Arbeitsplätze zu schaffen. Wenn man weiß, dass der Kern der ökonomischen Schwäche die Binnennachfrage ist, dann muss man die Binnennachfrage weiter schwächen, und das führt im Ergebnis dazu, dass man Arbeitsplätze schafft. So der Tenor der Legitimation derzeitiger Politik und entsprechender Veröffentlichungen, und es ist schwer, diese Logik wieder aus den Köpfen raus zu kriegen. Bei der derzeitigen Arbeitszeitdebatte bemüht die neue Bundesregierung zudem den Begriff »Gerechtigkeit« und argumentiert, die Beamten müssten auch schon länger arbeiten, deswegen müssten die Angestellten genau so lange arbeiten. Gerechtigkeit wird insofern neu definiert, als es offenbar erst allen richtig dreckig gehen muss - erst dann sei die Welt wieder gerecht. Auch hier lautet die Begründung: Wir müssen das machen, um Arbeitsplätze zu schaffen, während gleichzeitig öffentlich erklärt wird, es müssten 8000 Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst entfallen, um die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren. Wir erleben Konzerne, die auf ihrer Aufsichtsratskonferenz oder Aktionärsversammlung von Riesengewinnen berichten und drei Tage später erklären, sie müssten außerdem noch 5000 Arbeitsplätze vernichten, weil sie zukunftsfähig werden wollen. Damit sind wir beim zweiten Hauptargument: Wir müssen wegen der Globalisierung auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig bleiben oder es werden - eines von beiden findet sich immer als Argument. (...) Arbeitsplätze und Wettbewerbsfähigkeit schaffen, damit es den Menschen gut geht, so das Credo. Bei den Menschen kommt das allerdings anders an, sie werden existenziell bedroht, ihre Arbeitsplätze vernichtet, ihre Einkommen werden abgesenkt, ihr Lebensstandard wird verschlechtert, sie werden entrechtet, sie werden entwürdigt, und - ich sage das, als jemand, der auch für Gewerkschaftsmitglieder im Osten zuständig ist: Im Osten stellen sich all diese Probleme noch mal schärfer als im Westen. Es gibt dort - von uns unterschriebene - Tarifverträge, die bei knapp über vier Euro liegen, und solche Tarife schließen wir ab in Konkurrenz zu anderen DGB-Organisationen, die noch besser sind als wir im Absenkungswettbewerb nach unten. Die Frage ist: Können wir mit diesen Problemen noch umgehen im Rahmen der Stellvertreterpolitik, also innerhalb des alten Systems, innerhalb der alten Formen politischer Arbeit? Oder müssen wir nicht erweitern, erneuern und eine andere politische Orientierung suchen? Wenn es richtig ist, dass wir Interessenarbeiter sind und dass wir das Interesse der Beschäftigten und der nicht mehr und noch nicht Beschäftigten vertreten, dann müssen wir dies besser können, als wir es heute machen. Das ist zwingend, es sei denn, wir haben uns mit diesem System abgefunden, nach dem Motto: Die Welt ist halt, wie sie ist, und wer weiß, was in zehn Jahren kommt, da wird es schon wieder besser werden. Wir haben eine politische Debatte zu führen, auch in ver.di. Mein Eindruck ist, dass es in dieser Organisation wesentliche Teile gibt, die immer noch daran glauben, dass es zwar eine leichte Krise gibt, die aber vorüber gehen wird. Irgendwann werde man sie schon wieder einladen zum Oberbürgermeister, zum Minister oder Staatssekretär oder wer immer der Wunschpartner dann sein wird. Dann trinkt man ein schönes Gläschen Rotwein, redet, und dann wird das schon wieder gut werden... Dann gibt es die anderen KollegInnen aus der anderen politischen Ecke, die relativ interessenorientiert arbeiten und für die klar war, dass sich nur mit Gegenmacht politisch etwas gestalten lässt. Dafür ist die betriebliche Ebene bis heute entscheidend, und es wäre völlig falsch, davon auszugehen, dass die betriebliche Ebene bedeutungslos geworden wäre. Die betriebliche Ebene sichert, dort wo wir organisiert sind, die Arbeitskampffähigkeit, und aus dem Arbeitskampf entsteht letztendlich Gegenmacht. Nur so werden wir letztlich auch am Verhandlungstisch Ernst genommen und bekommen Ergebnisse, die wir auch nach außen vertreten können. Doch das allein reicht heute offensichtlich nicht mehr aus, ebenso wie die eingangs erwähnte Teilhabe an der Macht in den Aufsichtsräten. Wenn man das alles analysiert, dann stellt sich die Frage, welche Gewerkschaften wir brauchen, damit die Menschen sich wieder mit den Gewerkschaften identifizieren können, damit sie politisch wieder mächtiger werden, als sie es heute sind, und sich ihr Einfluss wieder vergrößert. Beteiligung statt Stellvertretung Ich glaube, die erste Erkenntnis ist, dass wir von der Stellvertreterpolitik auf eine Beteiligungspolitik umstellen müssen. Wir müssen im Alltag unsere Arbeit so anlegen, dass wir nicht für die Menschen, sondern mit ihnen kämpfen. Übrigens ist das auch viel demokratischer und eine ganz andere Form der Arbeit, als wir sie aus der Tradition der Gewerkschaften kennen. Dort, wo wir das machen, erleben wir auch, dass Gewerkschaften wieder wachsen. Wir müssen die Themen der Menschen aufgreifen, statt unsere Themen zu setzen, d.h. zu sagen, erstens wissen wir, dass es Dir schlecht geht, zweitens wissen wir, warum es Dir schlecht geht, und drittens haben wir auch schon eine Lösung, damit es Dir wieder gut geht. Es geht darum, die Menschen zu fragen, was ist los bei Dir? Welche Probleme gibt es im Betrieb? - und auf Grundlage dieser Themen klare interessenorientierte Arbeit im Betrieb zu machen. Es geht auch darum, konfliktorientiert zu arbeiten und daraus eine Gegenmacht zu entwickeln, um zu verändern, was hier zur Zeit an Negativem passiert. Das ist für mich die politische Legitimation dafür, dass Kampagnenarbeit zwingend notwendig für die Gewerkschaft ist. Ich glaube, dass sie darüber einen erheblichen Machtzuwachs erhält. Es gibt ja GewerkschafterInnen, die der Auffassung sind, wenn man eine Kampagne mache, würde man entmachtet. Man könne auf den Prozess und auf das Ergebnis nicht mehr den Einfluss nehmen, den man gerne hätte. Ich denke, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Stellt Euch vor, wir würden es in der Lidl-Kampagne schaffen, Lidl, einen großen Handelskonzern, ökonomisch so unter Druck zu setzen, dass er gezwungen wäre, mit uns § 3-Tarifverträge für größere BR-Gremien abzuschließen, Gewerkschaften im Betrieb und betriebliche Interessenvertretungen zu akzeptieren. Welcher politische Machtzuwachs wäre das! In Lidl haben wir eine Struktur, wie auch woanders, bei der wir mit der betrieblichen Arbeit nicht weiter kommen. Wenn man so viele tausend Filialen hat, kann man Gegenmacht nicht über den einzelnen kleinen Betrieb entwickeln, sondern braucht dafür andere Formen. Dafür ist Kampagnenarbeit genial. (...) Deswegen ist es so wichtig, dass wir in den derzeit laufenden Kampagnen nicht die drei Punkte kritisieren, die nicht gut laufen, sondern die sieben Punkte, die gut laufen, unterstützen; dass wir die Menschen, die das machen, bestärken, so dass sie es mit viel Kraft und Energie weiter machen können. Kampagnen sind übrigens auch demokratische Prozesse. Wenn ich die Verbrauchermacht einbeziehen will, dann brauche ich die Beteiligung der Verbraucher. Das heißt, ich muss die Menschen davon überzeugen, dass es für sie ein wichtiges Thema ist, was in so einem Laden passiert, dass das eine Schweinerei ist und dass es wichtig ist, dort im Moment nicht einkaufen zu gehen. Wir haben es dabei mit zwei zentralen Themen zu tun: den Menschenrechten und den demokratischen Rechten. Beides sind Themen, die die Grundwerte von Gewerkschaften berühren. Wenn wir uns um solche Themen kümmern, kehren wir damit zu unserem alten Wertesystem aus der französischen Revolution zurück. Es geht dabei um die Würde des Menschen in der Gesellschaft und im Betrieb. Was könnte besser sein, als sich zu den eigenen Werten zu bekennen und sie stolz und offensiv zu vertreten, statt sich wegzuducken? Kampagnen sind angelegt auf Konflikt, sie handeln von Menschenrechten und demokratischen Rechten. Es kann keine politischen Kampagnen geben, in denen wir erklären: »... und außerdem sind wir dafür, dass Telekom auf dem Weltmarkt die Nummer 1 wird«. Ein Teil unserer alltäglichen Arbeit besteht immer darin, die Unternehmen in der Konkurrenz zu stärken. Wenn wir uns die Mitbestimmung und unsere anderen Handlungsebenen anschauen, stellen wir fest, dass wir selbst auf dem Wege sind, uns auf die betriebswirtschaftliche Logik einzulassen, die da lautet: Geht's dem Unternehmen gut, geht's den Menschen auch gut, also muss man dafür sorgen, dass es den Unternehmen in der Konkurrenz gut geht. Das heißt, wir müssen partiell ohnehin immer Unternehmensinteressen bedienen. Auf diesen Weg haben wir uns jedoch auch ideologisch, in unserem Denken schon begeben. Wer sich das Blair/Schröder-Papier oder das Papier zur Mitbestimmung von der Bertelsmann/Böckler-Stiftung anschaut, der wird dort lesen, dass es in der Sozialdemokratie und auch innerhalb der Gewerkschaften Kräfte gibt, die den Gewerkschaften die Funktion zuweisen, die Unternehmen auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu machen. Insofern muss man sich nicht wundern, dass man richtig Stress bekommt, wenn man mit solchen KollegInnen über politische Kampagnen diskutiert. Hier prallen unterschiedliche Positionen aufeinander, und das ist eine der Ursachen, warum diese Art der Arbeit auch nur schwer durchzusetzen ist. Man kann eine politische Kampagne über Menschenrechte und Menschenwürde nur machen, wenn man sie klar und konfliktorientiert anlegt. Man kann solche Kampagnen nicht in Partnerschaft mit Herrn Schwarz von Lidl führen. (...) Es gibt dabei noch einen Punkt, an dem ich völlig anderer Meinung bin als viele, die über Kampagnen reden. Ich bin der Auffassung, dass der Boykott als mögliche Handlungsebene in Betracht gezogen werden muss, weil ein Boykott letztendlich auf die Ökonomie abzielt. Wenn wir also Imagekampagnen machen und das Image von Unternehmen schädigen wollen, dann zielen wir damit auf die Ökonomie. Wenn wir zum Boykott aufrufen, dann wollen wir das Unternehmen ökonomisch unter Druck setzen, indem wir dessen Umsätze so weit zurückfahren, dass es gezwungen ist, mit uns zu verhandeln. Wenn das nicht politisch gewollt ist, dann dürften wir auch nicht streiken, denn auch ein Arbeitskampf, ein Streik zielt auf die ökonomische Wirkung - es sei denn, es geht nicht darum, eine wirkliche Auseinandersetzung zu führen, sondern nur eine für die Galerie. Wenn wir eine Auseinandersetzung z.B. um die Standortfrage führen und deswegen in den Arbeitskampf gehen, dann müssen wir das Unternehmen ökonomisch treffen können, weil wir nur dann in eine Verhandlungsposition kommen, in der wir Einfluss auf die Ergebnisse erhalten. Man muss dies immer gründlich mit den Belegschaften diskutieren, aber ich halte es für völlig falsch, einen Boykott auszuschließen mit dem Argument, dass man dabei die Kontrolle verliere und zudem Arbeitsplätze gefährde. Es gibt aus meiner Sicht noch zwei weitere Themen, die die Frage unserer Handlungsfähigkeit betreffen: Betriebsbesetzungen und politische Streiks. Eine zentrale Erfahrung für meine Sozialisation war eine Betriebsbesetzung in Baden-Württemberg. Dort galt die alte Philosophie: Gemeinsam mit dem Unternehmer schaffen wir das. Die Erfahrung war dann: Wir sitzen alle in einem Boot, der Kapitän lebt, die Mannschaft ist tot. Denn zum Schluss wurde der Betrieb geschlossen, und der einzige, der überlebte, war der Kapitaleigner. Alle anderen haben ihre Existenzgrundlage verloren - und nicht nur ihren Job. Wir müssen also nicht nur Betriebsbesetzung neu diskutieren, sondern daran die Frage der Aneignung von Produktionsmitteln. Wir müssen in die Öffentlichkeit damit, und wir müssen darüber politisch Druck aufbauen. Die Kapitalseite muss Angst davor bekommen, dass wir so etwas tatsächlich machen. (...) Wie kann es sein, dass Betriebe verlegt werden, die gesund sind, die Rendite machen und die trotzdem Tausende von Arbeitsplätzen vernichten, weil sie irgendwo hin verlagert werden, wo man noch mal ein paar Euro mehr an Gewinn machen kann? Ich denke, dass es in dieser Gesellschaft eine politische Legitimation gibt, solche Auseinandersetzungen zu führen. Es geht übrigens auch hierbei um die Erweiterung demokratischer Rechte, und ich bin dafür, dass Unternehmen, die Gewinne machen, nicht mehr kündigen oder Betriebe verlagern dürfen. Das sind alte Debatten, aber die sind viele Jahre nicht geführt worden. Wir müssen aus der Defensive rauskommen und diese Debatten wieder anfangen zu führen. Obwohl ich kein Vertreter der Linkspartei bin, setze ich darauf, dass sie über die parlamentarische Auseinandersetzung diese Themen wieder in die Öffentlichkeit bringt und diskussionsfähig macht - genau das erwarte ich von der Linkspartei. Und der zweite Punkt: Wir sollten uns das Recht herausnehmen, politische Streiks zu führen. Wenn wir zu-ständig sind für die Lebensbedingungen der Menschen, dann heißt das, dass wir auch zuständig sind für die Schule und für die Straße und für das Krankenhaus und für den Kindergarten und für die Erziehung. Das bedeutet, dass wir, wenn es dort einen gravierenden Mangel gibt, auch die Frage des politischen Streiks wieder aufgreifen müssen und nicht einfach nur fasziniert nach Italien oder Frankreich blicken. (...) Ich hoffe sehr, dass diese Tagung dazu führt, dass die Kampagnenarbeit gestärkt wird, dass die politische Auseinandersetzung darüber wächst, und dass wir gemeinsam vielleicht im nächsten Jahr wieder zusammen kommen, dann vielleicht ein paar mehr sind und es im Alltag, und darauf kommt es an, geschafft haben, an der einen oder anderen Stelle diesen verdammten, traurigen, unmenschlichen Alltag ein Stück verändert zu haben - und dass wir wieder Lust haben zu kämpfen. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/06 |