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Updated: 18.12.2012 15:51 |
TIE Bildungsreise: Selbstorganisation von MigrantInnen im Niedriglohnbereich Der Ansatz der Workers Center in New York 12.-19. November 2005 In der deutschen Debatte um (Selbst-)Organisationsansätze von niedrig entlohnten und prekär Beschäftigten hat sich jüngster Zeit die Aufmerksamkeit verstärkt auf das Modell der Workers Center in den USA als einem von MigrantInnen ohne und mit Aufenthaltsstatus getragenen neuem Ansatz gerichtet. Deren Zahl wird USA-weit mittlerweile auf an die 200 geschätzt. Ganz überwiegend aus ethnic communities heraus entstanden und nur zum Teil von einzelnen Gewerkschaften oder auch linken religiösen Organisationen gefördert, verstehen sich Workers Center als eine Selbstorganisation von prekär Beschäftigten in jenen Bereichen, die von den Gewerkschaften über ihren betrieblichen Zugang nicht erreicht und die von diesen nicht vertreten werden. In der Folge sind u.a. ein US-weites Netz der Tagelöhner, eine neue Gewerkschaft selbstständiger Taxifahrer und lokale Selbstorganisationsstrukturen von Haushaltsangestellten entstanden, die individuelle und kollektive Konflikte mit Arbeitgebern aufgreifen, arbeitsrechtliche Initiativen für die jeweilige Berufsgruppe starten und sich in landesweiten Kampagnen zur Legalisierung von illegalisierten MigrantInnen engagieren. TIE Internationales Bildungswerk e.V. und die Programmorganisation durch die Zeitschrift Labor Notes /USA (www.labornotes.org ) ermöglichten im November 2005 mit der Unterstützung der Stiftung Menschenwürde & Arbeitswelt , Berlin, einer Gruppe von Interessierten (MitarbeiterInnen in sozialen Zentren und Beratungseinrichtungen von und für MigrantInnen, Betriebsrätinnen und GewerkschafterInnen) den Besuch von mehreren Workers Centers und Gewerkschaften in New York City, um sich einen Einblick in die Entwicklung und Vorgehensweise dieser Organisierungsansätze zu verschaffen. Bevor der nachfolgende Bericht auf einzelne Initiativen im Detail zu sprechen kommt, einige Eindrücke vorweg, die den Unterschied zur deutschen Situation markieren: NYC ist eine Stadt der Einwanderer. Die von unserer, deutschen, Seiten stets wiederholte Frage nach der Rolle von MigrantInnen, speziell auch von MigrantInnen ohne Papieren, wurde von allen GesprächspartnerInnen als geradezu absurd empfunden, da die Zentren ihren Ursprung in den Problemstrukturen der ethnic communities (Arbeitsbedingungen als ein Konfliktfeld neben Mieterproblemen, Wohnraumverdrängung, etc.) und in Arbeitsbereichen haben, in denen fast ausschließlich MigrantInnen arbeiten. Eine Unterscheidung zwischen ,legalen' und ,illegalen' MigrantInnen wird nicht gemacht; auch die etablierten Gewerkschaften, mit denen wir sprachen, organisieren Illegalisierte und empfanden die durch unsere Fragen nahe gelegte Differenzierung als abwegig. Zum Zweiten fällt die andere Rechtslage ins Gewicht: Pro forma können Kollektivvereinbarungen immer nur über den, im Vergleich zur deutschen Situation, Umweg eines 50% gewerkschaftlichen Organisationsanteils der Beschäftigten gegenüber einem Unternehmen durchgesetzt werden. Sich an einem einzigen Arbeitgeber abzuarbeiten - und sei es ein Familienhaushalt als Arbeitgeber einer Haushaltsangestellten oder Gärtners - hat folglich eine Tradition, die uns eher fremd ist. Zum Dritten richten sich die Workers Center an Arbeitende, deren Tätigkeit und Status nicht rechtlich im Sinne einer sozialversicherungspflichtigen oder geringfügigen Beschäftigung fixiert ist. Auch wenn jemand legal arbeitet, gilt für Tagelöhner und Haushaltsangestellte etwa das geltende Arbeitsrecht nicht - dieses auf einzelstaatlicher Ebene durchzusetzen, ist in mehreren Fällen eines der Ziele. Wie sich bei einer Vorbesprechung mit TIE North America und Labor Notes herausstellte, nahm die weiße US-amerikanische Gewerkschaftslinke die mittlerweile zwanzigjährige Entwicklungsgeschichte von Workers Centers lange Zeit nicht wahr. Die Verbindungslinien sind auch heute noch in der Alltagspraxis gering. Allerdings gehen die ersten Koordinierungstreffen der Zentren im Rahmen von Labor Notes-Konferenzen auf die Initiative von Labor Notes zurück. Der Unterschied wurde bei den Gesprächen mit vier, für sich genommen sehr verschiedenen, Zentren deutlich. Darüber hinaus besuchten wir zwei traditionelle Gewerkschaften, die mit diesen Kooperationsbeziehungen unterhalten. Um den Begriff des Zentrums vorab zu klären - in allen Fällen handelte es sich um eine kleine Büroetage mit Raum für Gruppentermine, individuelle Beratungsgespräche und Schulungen. Getränke, Essen oder Konzerte o.ä. werden dort nicht angeboten. Die Finanzierung erfolgt über geringe Mitgliedsbeiträge, Spenden, Flohmarktaktionen u.ä., in zwei Fällen durch Zuschüsse von Gewerkschaftsseite. In allen vier Fällen wurde das Zentrum von einem Gremium geleitet, das sich aus prekär beschäftigten MigrantInnen zusammensetzte, die für die Aufgabe gewählt und durch das Zentrum selbst hierfür geschult worden waren (,leadership training'). Die offizielle Leitung oder Geschäftsführung lag jeweils bei einer sozial und politisch super-aktiven, professionell qualifizierten Migrantin aus der community, die das Zentrum mit aus dem Boden gestampft hatte. In allen Fällen herrschte die Regel, dass potentielle Mitglieder offensiv auf der Straße angesprochen und mit dem Angebot der Unterstützung bei Arbeitskonflikten geworben wurden, die Unterstützung inklusive der individuellen Beratungsgespräche aber nur gewährt wurde, wenn sich jede/r schriftlich verpflichtete, an einigen Gruppengesprächen, Schulungen und gemeinsamen Aktivitäten teilzunehmen. Nachfolgend in aller Kürze einige Informationen zu den Organisationen, mit deren Verantwortlichen wir jeweils über mehrere Stunden zusammen saßen. Domestic Workers United Die Zahl der in NYC arbeitenden, aus Asien, Afrika und der Karibik stammenden Haushaltsangestellten und Tagesmütter wird auf rund 600.000 geschätzt. Überwiegend übernachten sie während der Woche in den Häusern ihrer Arbeitgeber und sind folglich auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Der Lohn variiert von 50 cent die Stunde bis zu einer Höhe über dem Mindestlohn (bis zu 10$ ). Die Gründung von Domestic Workers United im Jahr 2000 geht auf die Initiative philippinischer Haushaltsangestellter zurück: Als Dachorganisation umfasst sie heute vier Gruppen; wir sprachen mit der Vertreterin der chinesischen und koreanischen Frauen von CAAV Organizing Asian Communities. 600 Frauen sind Mitglieder. Die beiden in NYC existierenden kleinen Zentren beraten und vertreten einzelne Frauen gegenüber ihren jeweiligen Arbeitgebern (Organisierung öffentlicher Unterstützungsaktionen), sie bieten politische und berufliche Bildungsseminare an (u.a. zusammen mit einem College) - die Teilnahme an politischen Schulungen ist verpflichtend - und sind mit öffentlichen Aktionen/Demos auf der Straße, um Arbeitsrechte für Hausangestellte beim Staat New York durchzusetzen. Die sozialen und arbeitsrechtlichen Forderungen wurden auf mehreren Versammlungen mit zweihundert Teilnehmerinnen diskutiert und verabschiedet. Die Bill of Rights fordert einen Stundenlohn von 14$, Krankenversicherung, bezahlten Urlaubsanspruch, bezahlte Krankentage und Bezahlung im Fall von Ausfall wegen Menstruationsbeschwerden, eine Abfindung bei Entlassungen, Schutz vor ungerechtfertiger Entlassung, Schutz vor sexuellem Missbrauch und rassistischer Diskriminierung. Die Domestic Workers verstehen sich als soziale Bewegung und planen eine US-weite Vernetzung mit ähnlichen Organisationen. Work Place Project 91 N. Franklin Street, Hampstead, Long Island Das Work Place Project wurde 1992 von einer puertoricanischen Community-Organisation in einer Kleinstadt im Umland von New York gegründet. Zunächst ausschließlich auf die Einzelfallhilfe bei Einwanderungsfragen orientiert, konzentriert sich das Zentrum mittlerweile auf die Unterstützung und Selbstorganisation von Haushaltsangestellten, GebäudereinigerInnen, Tagelöhnern und in Kleinbetrieben beschäftigten IndustriearbeiterInnen. Das Projekt hat heute 500 Mitglieder, jährlich werden rund 400 Leute beraten. Der Schwerpunkt liegt bei der individuellen Unterstützung im Fall von Lohnbetrug u.a. (Beratung, Protestaktionen gegen die Arbeitgeber, Prozessunterstützung) sowie bei dem Ziel, den Schwierigkeiten der individuellen Arbeitssuche (Leute gehen von Tür zu Tür oder warten an Straßenecken darauf, angesprochen zu werden) durch den Aufbau von Arbeitsvermittlungsstellen für Tagelöhner bzw. einer Kooperative für Haushaltsangestellte entgegenzuwirken. Die Gründung mehrerer Arbeitsvermittlungsstellen von Tagelöhnern (in Baucontainern) wurden mit massiven Kampagnen und Unterstützung von sozialen Gruppen gegen ein rassistisches Umfeld durchgesetzt. Die Einrichtung derartiger Arbeitsvermittlungsstellen ist Ziel aller lokalen Initiativen des USA-weiten Networks of Day-Laborers , zu dem sich auch das Work Place Project zählt. Auch das Work Place Project fordert die Teilnahme an Schulungskursen und bietet darüber hinaus Qualifizierungsseminare an. Die individuellen Problemkonstellationen haben zur Folge, dass über eine kurzzeitige Beteiligung an Kampagnen hinaus eine langfristige aktive Teilnahme im Verein eher untypisch ist. Dem wird im Fall der Hausangestellten durch den Aufbau einer Kooperative entgegengewirkt, die zunächst die Beschaffung von Arbeitsstellen und den arbeitsrechtlichen Schutz sichern soll. Gehälter fließen in die Kooperative nicht ein, sondern werden nach wie vor an die Frauen direkt ausgezahlt. Restaurant Workers Opportunities Center Das ROC ist in einer Büroetage in Downtown Manhattan untergebracht. Die Gründung geht auf eine Initiative der Gewerkschaft HERE zurück, die u.a. Hotel- und Gaststättenbeschäftigte vertritt und wird heute von einem gewählten Gremium von Restaurantbeschäftigten (MigrantInnen aus X verschiedenen Herkunftsländern) und einer indisch-amerikanischen Rechtsanwältin geleitet. Zusammen mit HERE wurde eine Untersuchung über die Arbeitsstrukturen und Lohnverhältnisse im Restaurantsektor in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse fließen in eine Kampagne gegen mehrere Betreiber hochpreisiger Restaurants ein (u.a. den Konzern Sodexho), die zugleich Öffentlichkeitsarbeit über die Ausbeutungsverhältnisse und die Möglichkeiten der gewerkschaftlichen Organisierung leisten soll. Herzensangelegenheit des Zentrums ist daneben die geplante Gründung eines teuren Restaurants als Kollektivbetrieb, in dem 50 Leute arbeiten sollen. Darüber hinaus finden auch hier Einzelfallberatung, Schulungen und Qualifizierungen statt. NY Taxi Workers Alliance 37 East 28th St., Suite 302 http://socialjustice.ccnmtl.columbia.edu/index.php/Taxi_Workers_Alliance Eine Selbstorganisation von erzwungenermaßen Selbstständigen - nach einer Veränderung der Rechtslage unter Nixon arbeiten Taxifahrer nicht mehr als abhängig Beschäftigte, sondern sind über ein komplexes System von der Stadt New York (Lizenzen) und überwiegend auch von den Besitzerfirmen der Wagen abhängig. Ausbeutung und Todesrate durch Mord sind enorm hoch. Arbeits- oder Krankenschutz existieren nicht. Die erfolgreichste Selbstorganisation, die wir besuchten - die NY Taxi Workers Alliance wurde 1998 u.a. durch eine super aktive, junge Migrantin aus einer Taxifahrerfamilie gegründet, versteht sich als Gewerkschaft und hat heute in NYC 6.700 Mitglieder. Jährlich hat sie bislang rund 1.000 neue Mitglieder hinzugewonnen - überwiegend aus asiatischen und lateinamerikanischen Herkunftsländern. Nach einem ersten Streik von 7.000 Fahrern gegenüber der Stadt (Einsatz der Nationalgarde) hält aufgrund ständiger Kampagnen ihr Mobilisierungserfolg weiter an. Mittlerweile hat sie sich einen Verhandlungsstatus gegenüber der Stadt erkämpft und setzt Schritt für Schritt konkrete Verbesserungen durch. Für 2007 ist die Durchsetzung eines medizinischen Zentrums und die Gründung eines Fonds für Kranke geplant. Das Beispiel macht gerade USA-weit Schule und hat entsprechende Gründungen in anderen Städten zur Folge. Laborers Eastern Region Organizing Fund 520 8 th Ave. Suite 679 Die Bauarbeitergewerkschaft ist eine der Säulen traditioneller Gewerkschaftsmacht in NYC, der jedoch durch outsourcing, subcontracting und die Beschäftigung von Migrantinnen die Basis bröckelt. Die taktische Reaktion schließt ein: a) die Gründung eines Fonds zur Finanzierung von Kampagnen für Arbeitskämpfe und Mitgliedergewinnung; b) Kollektivvereinbarungen, die Unternehmen zum Vertragsabschluss mit gewerkschaftlich organisierten Subunternehmen zwingen; c) die Organisierung auch von Illegalisierten; d) die punktuelle Kooperation mit Workers Centers bei Arbeitskämpfen und Kampagnen. Bei dem Besuch von Baustellen zu Organisierungszwecken wird nicht mit der Polizei kooperiert. Besitzt ein Bauarbeiter keinen Sozialversicherungsausweis (Voraussetzung der Gewerkschaftsmitgliedschaft), wird eine mehrwöchige Karenzzeit eingeräumt, um diesen zu beschaffen, was wohl mit Arbeitsvertrag, aber auch ohne Aufenthaltspapiere möglich ist. Die Gewerkschaft beteiligt sich an der US-weiten Legalisierungskampagne. Service International Employees Union Die SEIU ist durch ihre Arbeitskämpfe der GebäudereinigerInnen und Hausmeister und Organisierungserfolge im Dienstleistungsbereich auch in Deutschland bekannt geworden. Während des Gesprächstermins wurde ausführlich das Kampagnenkonzept zur Durchsetzung von Haustarifverträgen erläutert, zu dem eine strategische Recherche über Schwachstellen des jeweiligen Unternehmens durch eine gewerkschaftsinterne Rechercheabteilung, taktische (nur bis zum Abschluss des Vertrages verfolgte) lokale Bündnisse mit Workers Centers und sozialen/ökologischen Gruppen sowie Mitgliedergewinnungskampagnen (auch im Hinblick auf Illegalisierte) zählen. Anzumerken ist, dass die abgeschlossenen Haustarifverträge einen Passus enthalten, in dem festgelegt wird, dass Beschäftigte nicht aufgrund fehlender Papiere entlassen werden sollen oder aber ihnen eine Karenzzeit von 90-100 Tagen gewährt wird, ihren Aufenthaltsstatus irgendwie zu formalisieren. Fazit Als in sich heterogene Gruppe waren wir damit überfordert, die Masse der überwiegend völlig neuen Eindrücke so zu verarbeiten, dass wir hätten gemeinsame Schlussfolgerungen ziehen können. Als tiefgreifendste Eindrücke blieben aber mehrere Einblicke hängen: zum einen die Dynamik und das Engagement, mit dem sich in der Stadt der Einwanderer in den niedrigentlohntesten und rechtlich am stärksten ausgegrenzten Arbeitsfeldern neue Initiativen entwickelt haben, die mit Mitteln und Wegen, die an das 19. Jh. erinnerten, auf die Durchsetzung fundamentalste soziale Grund- und ArbeiterInnenrechte zielen, zum zweiten die starke, oft leitende Rolle von Frauen, zum dritten die organisatorische Verbindung von politischer Arbeit, Sozialarbeit (Beratung) und politischer sowie beruflicher Bildung, zum vierten die Notwendigkeit der Organisierung, Ansprache und Präsenz auf der Straße sowie ständig neuer Kampagnen; schließlich das organisatorische Prinzip Unterstützung nur bereitzustellen, wenn die Gegenleistung aktiver Teilnahme an einzelnen Schulungen oder Kampagnen verbindlich zugesichert wird. Birgit Beese |