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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Warum, wozu, wie? Zauberformel Organizing? Vor dem Hintergrund einer Fülle von nebeneinanderher stattfindenden Modellversuchen, Projekten und Ansätzen, von denen manche explizit, viele implizit als »Organizing« oder »Kampagne« laufen, skizziert Werner Sauerborn* in seinem Beitrag zunächst die Situation zwischen »NGOisierung der Gewerkschaften« und »Task Force für Exotisches«. Ohne eine Verständigung über die Ziele des Organizing und eine entsprechende strategische Weiterentwicklung wird dieses zum beliebigen Instrument, das keinen Weg aus der Krise der Gewerkschaften herausweise. Ein Vorschlag zur Debatte: Organizing lässt sich umschreiben als ein mit hohen Erwartungen und Ansprüchen in die gewerkschaftspolitische Diskussion eingeführtes organisationspolitisches Umstrukturierungskonzept, das den gewerkschaftlichen Handlungsschwerpunkt von Apparatstrukturen in die betrieblichen Handlungs- und Konfliktfelder verlagern will. Es sollen Ressourcen aus den Bereichen, aus denen die Beiträge überwiegend stammen, stärker in neu zu erschließende Bereiche verlagert werden. Hierzu werden speziell qualifizierte OrganizerInnen eingesetzt, die – meist am Rande der hauptamtlichen Apparate angesiedelt – strategisch angelegte bereichs- oder unternehmensspezifische Kampagnen organisieren und sich dabei zivilgesellschaftliche Bündnisse, Kundenstrukturen, wirtschaftliche Abhängigkeiten sowie Medienwirkungen und Reputationsabhängigkeiten zunutze machen. Stellvertreterpolitik der Apparate und das komplementäre Selbstverständnis der Beschäftigten als KundInnen sollen durch Empowerment und selbständige Handlungsfähigkeit der ArbeitnehmerInnen ersetzt werden. Innergewerkschaftlich ist Organizing nicht unumstritten, findet sich jedoch deutlich im Aufwind. Eher pragmatisch orientierte Teile der Gewerkschaftlinken sehen in Organizing eine Antwort auf die Krise der Gewerkschaften. Ernst genommen läuft der Organizingansatz allerdings auf eine tiefgreifende Ummodelung der deutschen Gewerkschaften hinaus. So weitgreifend die Perspektiven und so ausgeprägt die Euphorie beim Stichwort Organizing inzwischen sind, so unklar sind noch Konzeptionen, Begriffe, Implikationen und Auswirkungen, auch Risiken. Vielleicht abgesehen von der Bildung der LINKEN ist die engagiert geführte Diskussion um Organizing die erste nennenswerte strategische Reaktion aus den deutschen Gewerkschaften heraus auf ihre existenzielle Krise und damit auf den langen Zustand der Apathie angesichts dramatischer Mitgliederverluste, tariflicher und politischer Positionseinbußen. Produktive Anstöße und Grenzen des Pragmatismus Organizing ist zunächst eine pragmatische Reaktion - zum einen auf die Umstrukturierungen der Arbeitswelt (Posttaylorismus) mit schnellen betrieblichen Reorganisationen und Umbrüchen, dem wachsenden Anteil des Dienstleistungssektors, neuen Formen von Arbeit (Zeitarbeit, Scheinselbständigkeit, prekäre Arbeit...) sowie neuen personalen Zusammensetzungen der Belegschaften (à la H&M: jung, weiblich, stylisch, hoher MigrantInnenanteil) - zum anderen auf die Schrumpfprozesse der gewerkschaftlichen Organisation (abnehmende Ressourcen für Mitgliederbetreuung, Lücken/Überforderungen in der Tarifarbeit angesichts der Erosion der Tariflandschaft und Rückzug aus der Fläche) Die Strategie des Organizing ist in vielen Bereichen unter diesen Umständen naheliegend. Sie ergibt sich fast zwangsläufig aus den Sackgassen der herkömmlichen Formen von Rekrutierung und Erschließung neuer Bereiche und Beschäftigtengruppen. Organizing ist der Versuch, mit neuen, angemesseneren Mitteln mit geänderten Realitäten umzugehen. Organizing ist eine notwendige Anpassungsstrategie an geänderte Bedingungen, aber damit noch keine Auswegstrategie aus der Krise der Gewerkschaften. Oft stürzen sich die Protagonisten des Organizings ziemlich voraussetzungslos auf die praktischen betrieblichen Alltagsprobleme und versuchen auf intelligentere Weise mit diesen umzugehen. Es fehlt an einer grundsätzlichen Erklärung für den dramatischen Verlust gewerkschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit, die eben nicht allein auf der Handlungsebene zu suchen ist, und dementsprechend an einer Strategie, die auf einem solchen Verständnis aufzubauen hätte. Wenn das ultimative Druckmittel Streik an Wirksamkeit verliert, wird nicht nach den Ursachen gefragt, sondern eine Ausweichstrategie auf andere Handlungsformen und Druckmittel entwickelt. Zugespitzt formuliert, läuft ein nicht weiter reflektiertes Organizing auf die NGOisierung von Gewerkschaften hinaus. Das Besondere des Lohnarbeitsverhältnisses im Vergleich zu allen anderen gesellschaftlichen Konfliktbereichen ist die dort – zumindest theoretisch – bestehende Möglichkeit der Druckentfaltung im Zentrum der Ökonomie mit ihren weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Folgen. Dieses Spezifikum von Gewerkschaften droht aus dem Auge zu geraten. Es bleibt unklar, ob und wie sich die neuen Handlungsansätze in Bezug auf diese wesentliche Bestimmung von Gewerkschaften ausrichten. Soll Streik als Auslaufmodell akzeptiert werden? Ist Organizing eine optionale, ergänzende Strategie? Oder soll es der Wiederinkraftsetzung des Streiks als originäres gewerkschaftliches Druckmittel dienen? Natürlich ist unbestritten, dass angesichts der heutigen ökonomischen und politischen Verhältnisse Beschäftigteninteressen oft nur noch im Bündnis mit anderen Akteuren durchsetzbar sind. Dennoch kann dies letztlich nur eine Ergänzungsstrategie darstellen, die die Wiederherstellung des eigentlichen gewerkschaftlichen Durchsetzungsmittels, nämlich des branchenweiten kollektiven Entzugs der Arbeitskraft nicht erübrigt und auch nicht von dieser Herausforderung wegführen darf. Des Weiteren ist unbestritten, dass Business-Unionism, Standortlogik und die Umdeutung der Gewerkschaften zu Serviceunternehmen für »Kunden« in eine Sackgasse geführt haben. Mitglieder sind nicht in erster Linie KundInnen, sondern ArbeitnehmerInnen, die sich Gewerkschaften als ihre kollektiven Durchsetzungsinstrumente geschaffen haben und sich auch wieder »aneignen«, neu aufstellen müssen, soweit sie diese Funktion nicht mehr wahrnehmen. Die Lohnabhängigen im weitesten Sinne müssen wieder stärker zu AkteurInnen werden und sollen das Heft wieder in die Hand nehmen. Im globalen Kapitalismus brauchen sie mehr denn je handlungsfähige Organisationen als Ausdruck von betriebs- und unternehmensübergreifender Solidarität. Organizing steht hier jedoch in der Gefahr, organisierte Gewerkschaftlichkeit wegen ihrer aktuellen Erfolglosigkeit, ihrer Ineffizienz oder Überforderung abzuschreiben, wo die Gewerkschaften dringend auf eine neue Durchsetzungsfähigkeit unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus hin reorganisiert werden müssten. Einerseits ist die Wiedergewinnung dezentraler, betrieblicher Handlungsfähigkeit erforderlich, andererseits ist die Herausbildung und Wiederaneignung überbetrieblicher Gewerkschaftsstrukturen innerhalb (oftmals globaler) Branchenstrukturen erforderlich, um über die Anpassung an geänderte Bedingungen hinaus eine wirksame Gegenmachtperspektive entwickeln zu können. Praktische Risiken und Begründungsanforderungen des Organizing-Ansatzes Eine ernsthafte Ausrichtung der Gewerkschaften auf Organizing-Politik impliziert eine spürbare Ressourcenverlagerung (Geld und Arbeitskraft) in die neu zu erschließenden Bereiche, in denen noch keine Mitgliederstrukturen bestehen und daher keine nennenswerten Beiträge fließen. Erfahrungsgemäß muss dies ein nachhaltiger Prozess sein, impliziert also eine mittelfristige oder gar dauerhafte Ressourcenverlagerung, ggf. verbunden mit Reorganisationsmaßnahmen, die zu Verlagerungen von Verantwortung und Zuständigkeiten führen. Denn einerseits zeigen verschiedene Erfahrungen, dass kurzfristige Engagements nur Strohfeuereffekte auslösen. Erst eine nachhaltige Betreuung ermöglicht die Entwicklung von überlebensfähigen betrieblichen Gewerkschaftsstrukturen. Andererseits ist leider überhaupt nicht ausgemacht, dass mit dem Organizing-Zugang mehr oder weniger automatisch eine positive Mitgliederentwicklung eintritt. Immerhin ist die Mitgliederentwicklung eines der Hauptmotive für Organizing, in vordergründigen Organizing-Vorstellungen ist Organizing gar nur eine neue Mitgliedergewinnungsstrategie. Denkbar ist eben auch, dass durch die Verlagerung auf betriebliche Prozesse, auf das ehrenamtliche Empowerment zwar handlungsfähige betriebliche Strukturen entstehen, die aber nicht zwingend zu gewerkschaftlichen Mitgliedschaften und zu einer Wiederaneignung gewerkschaftlicher Organisation führen, sondern sich erst einmal selbst genügen. Dies könnte münden in einen Entwicklungspfad Richtung »französischer Verhältnisse«, wo Mobilisierungen und Radikalität nicht im Widerspruch zu organisatorischer Schwäche und geringen Organisationsgraden der Gewerkschaften zu stehen scheinen. Die Verlagerung von Ressourcen aus hoch organisierten in kaum organisierte Bereiche ist ein innerorganisatorisch komplizierter und riskanter Prozess und keinesfalls mit einer spektakulären Entscheidung top down zu erledigen. Gut organisierte Bereiche, meist großbetriebliche Strukturen, sind auch keine Selbstläufer. Auch hier haben die Herausforderungen infolge von Umstrukturierungen zugenommen, auch hier besteht weiterhin großer, oft zunehmender Betreuungsbedarf. Dies ist meist verbunden mit einer ausgeprägten Betreuungserwartung, die sich gerade und zunächst sehr plausibel auf den hohen Organisationsgrad und den entsprechenden Anteil an den Mitgliedseinnahmen beruft. Widerstände gegen geplante Umstrukturierungsprozesse dürfen daher nicht vordergründig und ausschließlich auf Modernisierungsblockaden und Veränderungsängste zurückgeführt werden, eine Ressourcenverlagerung muss sich unter diesen Bedingungen vielmehr gut und umfassend begründen können und um Akzeptanz und demokratische Legitimation in den Bereichen bemühen, aus denen Ressourcen abgezogen bzw. auf ehrenamtliche Strukturen verlagert werden sollen. Eine solche Legitimation ist nur herstellbar, wenn begründbar ist, dass die Stärkung gewerkschaftlich schwacher Sektoren auch den bisher starken Sektoren perspektivisch nützt. Es gibt also mindestens zwei Gründe für eine stärkere strategische Ausrichtung von Organizing: Zum einen muss den neu zu gewinnenden betrieblichen AkteurInnen vermittelt werden können, warum es zur längerfristigen Selbstbehauptung einer überbetrieblichen Struktur, einer Gewerkschaft bedarf. Zum anderen muss innerorganisatorisch zur Legitimation der Ressourcenverlagerung von den hoch in die schwach organisierten Bereiche eine strategische Perspektive geboten werden. Plädoyer für strategisches Organizing Wird in Organizing nur eine neue Variante zur Mitgliederwerbung gesehen, reicht das Merkmal »weißer Fleck« und vielleicht die Aussicht auf Mitgliederzuwachs ebendort bereits aus, um knappe Organisationsressourcen hier zu bündeln. Da es an weißen Flecken nicht mangelt – eine eher willkürliche Entscheidung. Weiße Flecken unterscheiden sich jedoch ganz erheblich in ihrer strategischen Bedeutung für die Wiedergewinnung gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit. Allein die Tarifkonflikte der letzten Jahren strotzen nur so vor Beispielen, die zeigen, wie sehr die gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit leidet, wenn innerhalb einer Branche gut organisierte Bereiche unter den Wettbewerbsdruck schlecht organisierter Bereiche mit niedrigen Lohn- und Sozialstandards geraten. (Die angesichts positiver konjunktureller und fiskalischer Rahmenbedingungen guten Abschlüsse in der Stahlindustrie und im Öffentlichen Dienst 2008 verdecken eher das fortbestehende strukturelle Problem, als dass sie als Gegenbeispiele taugen.) Trotz oft beeindruckender Mobilisierung endeten die Tarifkonflikte im Öffentlichen Dienst im Frühjahr 2006 und bei Telekom im Frühsommer 2007 quantitativ gesehen in Niederlagen. Hauptgrund in beiden und vielen anderen Fällen (wie derzeit dem Konflikt um die Tarifstandards in der Briefzustellung) ist letztlich das ungelöste Problem der Tarifkonkurrenz. Ob bei der Gepäckabfertigung am Flughafen, bei der kommunalen Abfallentsorgung, der Briefzustellung oder bei IT-Dienstleistern – überall konkurrieren ganz unmittelbar Privatfirmen mit niedrigen Tarifstandards gegen die gut oder besser organisierten Teile der gleichen Branche und demoralisieren bzw. schwächen fundamental die gewerkschaftliche Kampfkraft. Letztlich zieht auch bei den streikbereiten Beschäftigten das Argument eines Arbeitgebers, er würde Marktanteile verlieren und dann Standorte oder Arbeitsplätze abbauen, wenn er wegen schlechterer Arbeits- und Sozialbedingungen der Konkurrenz von ihr preislich unterboten werden könne. Strategisches Organizing berücksichtigt diesen Zusammenhang und konzentriert die Ressourcen auf entsprechend gewerkschaftsstrategisch entscheidende Bereiche mit dem Ziel, die Tarifkonkurrenz einzufangen – und diskutiert und legitimiert Organizing- Entscheidungen und Ressourcenverlagerung auch so. Implizit, selten explizit, greifen schon laufende Organizing-Ansätze diese Überlegungen auf: Der Versuch, bei der PIN-Group Berlin und bundesweit oder etwa bei Schwabenpost in Stuttgart Fuß zu fassen, stärkt mittelbar die Position der gut organisierten Belegschaften bei der Post AG. Die gewerkschafts- und tarifpolitischen Perspektiven müssen jedoch noch viel stärker integriert werden im Sinne der Herausbildung eines gemeinsamen Interesses aller Beschäftigten dieser Branche. Eine ähnliche Strategie verfolgt ver.di in Baden-Württemberg im Bereich der IT-Branche. Die Aufarbeitung des Telekomstreiks hatte gezeigt, dass der Dumpingdruck der Telekomkonkurrenten Oracle, Vodafon etc. die Durchsetzungsfähigkeit gegen den Telekom-Arbeitgeber ganz entscheidend geschwächt hatte. Als Schlussfolgerung daraus wurde ein Organizing-Projekt zur gewerkschaftlichen Organisierung der Belegschaften bei eben diesen Wettbewerbern der Telekom aufgelegt. Ganz ausdrücklicher Bestandteil dieses von Organizing-Experten unterstützten Projekts ist die Sicherstellung von Akzeptanz für dieses Vorhaben in den Organisationsbereichen, aus denen Ressourcen abgezogen werden müssen. Die Verknüpfung und Be-gründung dieses Vorhabens mit den schmerzhaften Erfahrungen aus dem Streik bei Telekom wird genau diese erforderliche Legitimation und Akzeptanz herstellen. Organizing integrieren Organizing ist also ein wichtiger Impuls für die Gewerkschaften. Es ist eine notwendige pragmatische Reaktion auf ein geändertes Umfeld, und es bietet die Chance einer strategischen Weiterentwicklung, die die Gewerkschaften stärker in die Auseinandersetzung mit den strukturellen Defiziten ihrer Aufstellung in einer radikal geänderten globalen Ökonomie hineinführen kann. Deswegen müssen die Organizing-Ansätze die ganze gewerkschaftliche Diskussion erfassen und dürfen nicht als ›task force für Exotisches‹ in ein Schattendasein am Rande des ansonsten ungestört weiterlaufenden gewerkschaftlichen Normalbetriebs abgedrängt werden. Die Idee, dem Organizing in ver.di oder im DGB in Form einer Organzing-Akademie ein Zentrum zu geben, ist ein richtiger Einstieg, letztlich müssen Organizing-Ansätze aber integraler Bestandteil der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit und der Aus- und Weiterbildung aller GewerkschaftssekretärInnen werden. Und natürlich dürfen die jungen OrganizerInnen, wie derzeit bei ver.di, nicht in gewerkschaftlichen Subunternehmen auf einer quasi zweiten Tarifebene mit deutlich niedrigeren Löhnen und seriell befristen Arbeitsverträgen beschäftigt werden. Diese Missstände sollten schnell bereinigt werden, weil sie so gar nicht zu der Organizing-Idee passen und weil sie den hoffentlich falschen Eindruck vermitteln, die Gewerkschaften wollten das Thema vor der Tür halten.
* Werner Sauerborn ist Gewerkschaftssekretär beim ver.di-Landesbezirk Baden-Württemberg in Stuttgart. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/08 |