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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Never work alone Andreas Bachmann über gewerkschaftspolitische Inspirationen aus den USA Ein schlichter, aber ungemein praktischer Ausgangspunkt aller Überlegungen zum Organizing sind die Mitgliederbilanzen der Gewerkschaften, die ein Indiz und Messpunkt für die gesellschaftliche Relevanz und Durchsetzungsfähigkeit sind. In vielen Ländern erodiert die gewerkschaftliche Mitgliederbasis. Wer macht das Licht aus? In dem einleitenden Beitrag von Bremme, Fürniß und Meinecke wird ein Zeitfenster von gut vier Jahren (2007-2011) ausgemacht, in dem der rasante Schrumpfungspozess (noch) aufgehalten und umgekehrt werden kann. Von 1991 aus betrachtet werden die bundesdeutschen Gewerkschaften im Jahre 2011 42 Prozent der Mitglieder und 60 Prozent der Einnahmen verloren haben - wenn sich nichts ändert und alles so weitergeht wie bisher (Bremme u.a., S.20). Aus Sicht der HerausgeberInnen ist es (nur) der Strategiewechsel zum Organizing, der den Trend zum Schlechtesten aufhalten kann. Diese Hoffnung kann nicht ganz abwegig sein, denn US-Gewerkschaften wie die Dienstleistungsgewerkschaft SEIU haben unter schwierigsten Bedingungen allein in den Jahren 2000-2003 über 350000 neue Mitglieder gewonnen (Woodruff, S. 105). Die Autorengruppe um Peter Bremme deutet den Umfang der innergewerkschaftlichen Selbstveränderungsnotwendigkeiten im Sinne der Umverteilung von Macht und Ressourcen beim Strategiewechsel von der Stellvertreterpolitik zur Selbstorganisierung des Organizing eher vorsichtig an (Bremme u.a., S. 15ff.). Wie heftig die innergewerkschaftlichen Verwerfungen - fast im Sinne einer Neugründung - sein können, beschreibt ein Vertreter der SEIU an anderer Stelle im Buch (Woodruff, S. 93ff.). Was ist nun Organizing im Sinne dieses Sammelbandes? Peter Bremme macht einen Definitionsversuch: »Organizing eignet sich nach der Überfrachtung dieses Begriffes nur noch als Überschrift für ein strategisches, an Themen der Beschäftigten ausgerichtetes Empowermentkonzept, das für die Durchsetzung gewerkschaftlicher Ideen viele Elemente des Campaignings, des Community Organizings wie klassisches Projektmanagementwissen zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Machtentfaltung immer wieder neu kombiniert« (Bremme, 195). Ich halte diesen Spannungsbogen für eine realistische Beschreibung, weil die Probleme und immanenten Widersprüche so deutlich markiert werden: Der Bogen spannt sich von Empowerment (Selbstbemächtigung, Emanzipation) bis Projektmanagement (Modernisierung der bürokratischen Methoden und Sozialtechniken). Die Zusammensetzung des Herausgeberkreises (alle Hamburg und alle ver.di) dieses Sammelbandes zum Organizing ist kein Zufall. Aus dem Hamburger ver.di-Fachbereich »Besondere Dienstleistungen« wurde 2006 ein prototypisches Organisierungsprojekt (im privaten Sicherheitsgewerbe) initiiert. Methodisch hat man sich in Hamburg an dem Organizing-Modell der US-amerikanischen Dienstleistungsgewerkschaft SEIU orientiert (Bremme, S. 203) und konnte über ein Jahr lang auf die Vor-Ort-Unterstützung, Begleitung und Beratung von Organizing-ExpertInnen aus der SEIU zurückgreifen. Schon dies ist eine ungewöhnliche lebenspraktische Form von internationaler Gewerkschaftsarbeit, die den Symbolismus und das bloß Appellative des sonst vorherrschenden gewerkschaftlichen Internationalismus verlässt. Angenehm auch, dass GewerkschafterInnen, die im und mit dem »Modell Deutschland« groß geworden sind, sich als Lernende gegenüber ausländischen Erfahrungen verstehen. Außerdem ist mit der praktischen Rezeption des in den USA relativ erfolgreichen Wirkens der SEIU auch implizit eine selbstkritische Auseinandersetzung mit bundesdeutscher gewerkschaftliche Organisationskultur und Organisationsgeschichte verbunden. Die deutsche Geschichte steht, in unterschiedlichen Ausprägungen, für einen exponierten Stellenwert von Stellvertretungsmodellen und passiver Servicekultur vor dem Hintergrund vormals robuster Flächentarifverträge, funktionierender sozial- und arbeitsrechtlicher Schutzsysteme sowie des dualen Modells von Betriebsrat auf der einen und Gewerkschaft mit Kollektivvertrag auf der anderen Seite. Sehr interessant ist daher, wie US-amerikanische GewerkschafterInnen wie die SEIU-Organizerin Valery Alzaga (S. 227ff.) und Jeffrey Raffo (S. 175ff.) mit ihrem background die bundesdeutsche Realität hinsichtlich der Verschiebungen in den Arbeitsbeziehungen und der Durchsetzung neoliberaler Politikregime und -stile interpretieren und wahrnehmen. Valery Alzaga beschreibt ihre Ernüchterung darüber, dass der europäische soziale Rechtsstaat in weiten Teilen schon entkernt ist. Erfrischend auch, wie präzise und anschaulich die NordamerikanerInnen die sozialen Prozesse von Organizing und die Lebens- und Arbeitsumstände der Prekären in Deutschland beschreiben. Der Blick von außen, mit anderem kulturellen Hintergrund, auf deutsche Arbeitsbeziehungen ist eine spannende Erfahrung für den deutschen Leser. Aus der SEIU kommen noch weitere Beiträge - von Tom Woodruff (Executive Vice President SEIU) und Stephen Lerner (Stabsmitarbeiter der SEIU für nationale und internationale strategische Grundsatzfragen). Woodruff schildert sehr plastisch, welche innergewerkschaftlichen Großkonflikte die Durchsetzung des Organizing-Ansatzes Mitte der 1990er in der SEIU ausgelöst hat (Woodruff, S. 98). Einige Jahre später - 2005 - haben die Auseinandersetzungen um den strategischen Stellenwert von Organizing auch zur Spaltung des gewerkschaftlichen Dachverbandes AFL-CIO und zur Etablierung des alternativen Dachverbandes »Change to win« (sinngemäß: Wandel für den Sieg) geführt (Woodruff, S. 108). Die Eskalationsdynamik beruht auf unterschiedlichen Ursachen: Die Durchsetzung von Organizing als dominierendes gewerkschaftliches Politikmodell setzt eine drastische Umverteilung von gewerkschaftlichen Ressourcen voraus. Außerdem geht es um eine dramatische Änderung der Arbeitsweisen im Apparat. Und es geht, wegen des basisdemokratischen Impetus des Organizing auch um Offenheit gegenüber emanzipatorischen und gesellschaftskritischen Politikansätzen. Heiner Dribbusch (WSI), der in einem sehr anschaulichen Beitrag die unterschiedlichen arbeitsrechtlichen und gewerkschaftspolitischen Rahmenbedingungen für Organizing in angelsächsischen Gesellschaften (GB/USA) und in der BRD analysiert, weist auf einen zentralen Punkt hin: Organizing ist trotz der immanent konfliktorischen Methode nicht zwangsläufig mit einer Abkehr von sozialpartnerschaftlicher Gewerkschaftspolitik und einer Hinwendung zu einer gesellschaftspolitisch linken Konfliktstrategie verbunden. Auch Gewerkschaften, die stark von Organizing geprägt sind, können ohne weiteres in sozialpartnerschaftlichen Diskursen verhaftet bleiben (Dribbusch, S. 39). Sein Resümee ist daher nicht die Frage, ob Organizing auch vor einem anderen als dem angelsächsischen rechtlichen und wirtschaftlichen Hintergrund - z.B. in Deutschland - funktionieren kann, sondern mit welchen gesellschafts- und gewerkschaftspolitischen Zielen Organizing als Methode verbunden wird (Dribbusch, S. 39). Von Melbourne nach Mannheim Michael Crosby berichtet über den Niedergang der australischen Gewerkschaften und Gegenstrategien via Organizing (Crosby, S. 17ff). Agnes Schreieder rekapituliert die frühe »Schlecker-Kampagne« der HBV und die spätere »Lidl-Kampagne« von ver.di als die ersten systematischen Organizing-Kampagnen von deutschen Gewerkschaften (Schreieder, S.153ff.). Franziska Bruder beschreibt die Ambivalenzen der Tätigkeitsfelder der Menschen, die in der Kampagne zum privaten Sicherheitsgewerbe erreicht werden sollten. Das Bild der »schwarzen Sheriffs« führt angesichts der Vielfalt der Pförtner-, Telefon- und Gebäudedienstleistungen in die Irre (Bruder, S. 242). Dass es aber auch hier Grenzbereiche gibt, wo eine inhaltliche Kritik an der Dienstleistung, wie z.B. an rabiaten und rassistischen Mentalitäten und Verhaltensweisen in der S-Bahn-Wache, unverzichtbar ist, wird von Bruder offen angesprochen. Sabine Stövesand - Professorin für soziale Arbeit der Hamburger Fachhochschule - ermuntert den/die LeserIn aus der Welt der Gewerkschaften, den Blick über den Tellerrand zu wagen und sich mit den sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Wurzeln von Empowerment zu beschäftigen. Diese Wurzeln liegen in einem radikaldemokratischen Ansatz von Gemeinwesenarbeit und Erfahrungen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung (Stövesand, S. 77ff.). Viel Stoff für weitere Diskussionen bieten die Hinweise in vielen Beiträgen aus den USA zur notwendigen rechtlichen Gleichstellung von MigrantInnen, die als Schlüsselthema von Organizing ausgemacht wird. Auch der Hinweis von Stephen Lerner (SEIU), der die outgesourcten Gebäudedienstleistungen in den global cities als eine wichtige Keimzelle transnationaler Gewerkschaften ausmacht (Lerner, S. 53f.) lohnt weitere Untersuchungen und Diskussionen. Schließlich drängt sich die Frage auf, ob nicht die Auseinandersetzungen in US-amerikanischen Gewerkschaften mit den theoretischen Grundlagen und praktischen Erfahrungen der außergewerkschaftlichen US-Bürgerrechtsbewegung die Organizing-Konzeption entscheidend mitgeprägt hat. In diesem Sinne wäre erfolgreiches Organizing viel mehr als eine Modernisierung der Mitgliederwerbung und ohne das menschenrechtliche und emanzipatorische Fundament nicht möglich. Peter Bremme/Ulrike Fürniß/Ulrich Meinecke (Hrsg.): »Never Work Alone. Organizing - ein Zukunfts-modell für Gewerkschaften«, VSA Verlag, Hamburg 2007, 19,80 Euro, 280 Seiten, ISBN 978-3-89965-239-0 Besprechung von Andreas Bachmann, erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6/07 |