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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Ohne Wenn und Aber Eine Schlussbetrachtung[*] In den vorangegangenen elf Kapiteln haben wir versucht, Vielfalt und Bandbreite des Streiks darzustellen. Dabei zeigte sich, dass der Streik nicht nur für Belange der Arbeiterklasse von Wert war und ist, sondern zu den wichtigsten Mitteln zivilen Ungehorsams überhaupt zählt. In seinen Formen geht er weit über die bloße Arbeitsniederlegung hinaus. Und mit ihm kann mehr durchgesetzt werden, als nur schlichte Lohnerhöhungen und neue Vertragsabschlüsse. Wenn aber der Streik ein solch kräftiges Instrument darstellt, warum scheiterten so viele der hier behandelten Arbeitskämpfe? Neben den konkreten, in den jeweiligen Kapiteln dargelegten Gründen scheinen allgemeine auf. Konzeptionelle Ausrichtung und organisatorischer Aufbau, das Wechselspiel zwischen Arbeiterschaft und ihren Organisationen, Entschlossenheit und Kampfbereitschaft, der Zugriff auf ernsthafte Drohpotentiale und schließlich der Grad an Schranken überschreitender Solidarität erweisen sich als wesentliche Fragen, denen wir abschließend nachgehen wollen. Am Anfang war der Streik Ohne den Streik hätte es wohl nicht eine einzige soziale Verbesserung der Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen gegeben. Was nicht gleichbedeutend damit ist, dass jedes Zugeständnis direkt aus einem Streik hervorgegangen wäre: Gewerkschaften konnten Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzung aushandeln, weil ihnen der Streik als Druckmittel zur Verfügung stand. Das verdeutlicht die zentrale Bedeutung des Streiks für die Arbeiterbewegung im Klassenkampf. Die Stärke einer Gewerkschaft misst sich weniger an ihrer Mitgliedszahl oder ihrem Kontostand sondern an ihrer Fähigkeit, einen Streik zu organisieren, der die Gegenseite möglichst empfindlich trifft. Im gleichen Maße, wie das Kapital diese Fähigkeit anzweifelt, schrumpft seine Bereitschaft, auf Forderungen der Gewerkschaft einzugehen oder überhaupt mit ihr zu verhandeln. Paradoxerweise führt das nicht selten dazu, dass es gerade Gewerkschaften sind, die einem Streik lieber aus dem Weg gehen möchten. Ein verlorener Streik kann eine Gewerkschaft jeglicher Legitimation berauben. Eine Gewerkschaft aber, die die Konfrontation scheut, ist in eine gefährliche Sackgasse geraten. Früher oder später wird die Gegenseite sie auf die Probe stellen: entweder, die Gewerkschaft bekennt dann Farbe und stellt ihre Kampfbereitschaft unter Beweis, oder sie entblößt sich als Papiertiger. Die fortschreitende Krise der DGB-Gewerkschaften einerseits und die wachsende Bedeutung unabhängiger berufsständischer Gewerkschaften andererseits haben das in jüngster Zeit verdeutlicht. Der Klassenkampf findet immer statt, ob man will oder nicht. Soziale Errungenschaften müssen immer wieder aufs Neue verteidigt werden, bzw. die Arbeiterschaft muss fähig sein, ihr Kampfpotential glaubhaft unter Beweis zu stellen. Nicht zuletzt hierin besteht der grundlegende Sinn einer Gewerkschaft. Der Streikkraft einer Belegschaft, einer Industrie und schließlich der ganzen Klasse soll durch die Organisierung eine dauerhafte Form verliehen werden. Was man in die Waagschale wirft Es ist das eine, wie gut ein Streik organisiert ist, und das andere, welches Druckpotential ihm überhaupt inne wohnt. Mögen auch Tausende in den Ausstand treten, ist ihr Unterfangen dennoch zum Scheitern verurteilt, wenn sie keinen nennenswerten ökonomischen Druck aufbauen können. Und das ist zunächst einmal abhängig vom ökonomischen Stellenwert des Produktionsbereiches, der Fabrik oder der Branche, der oder die bestreikt werden soll - also der strukturellen Macht der Arbeiter und Arbeiterinnen. Einen Betrieb zu bestreiken, der ohnehin geschlossen werden soll, ist wenig aussichtsreich; ebenso dort, wo Belegschaften beliebig ersetzbar sind. Das heißt keinesfalls, dass man gar nichts erreichen könnte, doch die Ausgangslage gestaltet sich eben schwieriger, als wenn man damit drohen kann, ein florierendes Unternehmen effektiv zu bestreiken, in dem die Belegschaft nicht abkömmlich oder austauschbar ist. Doch es gibt noch grundlegendere Faktoren. Dass jeder Bereich den Arbeiterinnen und Arbeitern ein anderes Drohpotential bietet, hängt einerseits mit ihrem Stellenwert für Produktion und Infrastruktur zusammen, andererseits mit dem Zugriff der streikbereiten Arbeiter und Arbeiterinnen auf dieses Drohmittel, also ihrer Fähigkeit, den Hahn möglichst fest zuzudrehen. Beides lässt sich am Beispiel des britischen Bergarbeiterstreiks ablesen. Die Energieversorgung stellt fraglos eine Schlüsselindustrie dar und bietet von daher ein vorzügliches Druckmittel für die hier Beschäftigten. Doch die britische Regierung hatte Kohlereserven anlegen lassen und beabsichtigte darüber hinaus ohnehin, die britische Kohleindustrie weitestgehend abzuwickeln. Da half es den Kumpeln wenig, eine straff organisierte Gewerkschaft unter einer kämpferischen Führung zu haben. Ihr Unterfangen scheiterte, weil ihr Druckpotential entscheidend stark unterhöhlt worden war. Umgekehrt haben wir in Deutschland gerade erst erlebt, wie eine verhältnismäßig kleine Gewerkschaft viel erreichen kann, wenn sie an einer elementaren Schnittstelle der Wirtschaft sitzt. Die Lokführergewerkschaft braucht keine Massen an Mitgliedern, sondern nur einen möglichst hohen Organisierungsgrad in ihrem Berufszweig, um mit einem Streik das ganze Land erzittern zu lassen. Denn zum einen stellt die Eisenbahn einen wichtigen Bereich der Infrastruktur dar, zum anderen fahren Züge eben nicht ohne Lokomotiven. Exkurs: Die Stadt, der Müll und die Gewerkschaft Neben Infrastruktur und Energieversorgen stellt die Müllentsorgung den Sektor mit dem vielleicht größten Druckpotential für einen Streik überhaupt dar. Kaum etwas fürchtet eine Stadt so sehr wie einen ausgewachsenen Streik der Müllabfuhr. Es erstaunt daher, dass in vielen Ländern Müllleute verhältnismäßig gering entlohnt werden und ihr soziales Prestige gering ist. In New York sieht das ganz anders aus. Eine Stelle bei der Müllabfuhr ist heiß begehrt, weil sie ein gutes Auskommen einschließlich Krankenkasse und sozialer Vergünstigungen bedeutet. Das Ansehen der Männer und Frauen, die des Nachts die Straßen kehren und die Müllsäcke einsammeln, ist hoch. Und kaum jemand in der Stadt würde es wagen, sie "Müllmänner" oder "Straßenfeger" zu nennen. Sie sind sanitation workers , Angestellte der Behörde für Hygiene also. Verantwortlich dafür ist eine kleine, rotzfreche Gewerkschaft, die Uniformed Sanitationworkers Association (USA). Mit gerade einmal 6.000 Mitgliedern stellt sie einen echten Machtfaktor in der Stadt dar. Denn sie versteht sich blendend darauf, ihr Drohpotential auszuschöpfen. Sie ist straff organisiert, ihre Mitglieder halten zusammen wie Pech und Schwefel und ihr Organisierungsgrad liegt bei fast 100 Prozent. Seit ihrem Entstehen in den 1930er Jahren führte sie immer wieder hartnäckige Streiks durch, bei denen sie sich nicht eben zimperlich zeigte: es kam zu Straßenblockaden und Prügeleien, und am Ende setzte sich die Gewerkschaft stets durch. So mancher Streik der USA bedeutete eine traumatische Erfahrung für das New Yorker Bürgermeisteramt. Ein Müllstreik stellt eines der schlimmsten Horrorszenarien für die Stadt dar. Und so kam es, dass Beruf und Behörde umbenannt wurden (eine Streikparole lautete: "wir beseitigen Müll, wir sind kein Müll!") und ein Müllwagenfahrer mehr verdient als ein Universitätsprofessor. Solidarität und Spaltung Doch Kolleginnen und Kollegen außerhalb der öffentlichen Müllabfuhr New Yorks haben wenig von den Errungenschaften der Gewerkschaft USA. Bis auf seltene Ausnahmen, wie zuletzt 1968, wo sie einen legendären Solidarstreik für die Müllleute in Minniapolis durchführte, beschränkt sie sich ganz auf sich selbst und ihre Klientel. Sie ist kämpferisch in den Methoden, nicht aber in einem größeren Zusammenhang. Schon die eigene Schwestergewerkschaft in derselben Stadt, die die Mitarbeiter verschiedener privater Sperrmüllentsorger organisiert, profitiert kaum vom Gewicht der USA. Sie ist eben ein Paradebeispiel für eine berufsständische Gewerkschaft, die das immense Drohpotential, über das sie verfügt, ausschließlich zum Wohl ihrer Mitglieder einsetzt. Es gehört zu den wichtigsten Lehren, die die internationale Arbeiterbewegung schon früh zog, dass allgemeine und dauerhafte Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen nur zu erreichen sind, wenn möglichst alle Angehörigen der Klasse an einem Strang ziehen. Und ebenso begriffen Obrigkeit und Kapital sehr rasch, dass sich dem Gespenst einer organisierten Arbeiterklasse am leichtesten der Zahn ziehen lässt, wenn man die verschiedenen Interessengruppen gegeneinander ausspielt. Von daher verstehen sich Konzepte wie der industrial unionism (und mit Abstrichen das Modell der Industriegewerkschaften) als Entwurf zur Überwindung der Spaltung der Arbeiterklasse. Man male sich nur einmal aus, was eine geeinte amerikanische Arbeiterbewegung bewirken könnte, wenn sie eine Gewerkschaft wie die New Yorker USA als solidarischen Teil in ihrer Mitte hätte; und wieweit eine weltweite Arbeiterbewegung käme, die sich nicht entsprechend einer vorgeblichen Standortlogik nach nationalen Interessen auseinanderdividieren ließe. Die Geschichte der ITF während des Zweiten Weltkriegs (ihr Kampf allein auf breiter Front) macht auf erschütternde Weise deutlich, wie schwerwiegend die Folgen einer auf nationalen Konsens ausgerichteten Gewerkschaftsstrategie für die eigenen Interessen der Arbeiterbewegung sind. Religiöse, nationale und ethnische Identitäten können einer gemeinsamen Haltung der Arbeiterschaft im Wege stehen; sie boten und bieten Ansatzpunkte zur Spaltung, wie wir etwa im Kapitel über Südafrika gesehen haben. Dass es aber gelingen kann, solche Barrieren auch über Sprachgrenzen hinweg zu überwinden und aus heterogenen Gruppen die Basis für eine schlagkräftige Streikbewegung zu formen, veranschaulicht das Beispiel von McKees Rocks. Euer Kampf ist unser Kampf Arbeiter und Arbeiterinnen mögen zu den radikalsten Methoden greifen und eine rabiate Entschlossenheit an den Tag lehnen; wenn sie jedoch über so gut wie keine strukturelle Macht verfügen und alleine dastehen, mag das dennoch nicht ausreichen, um gewisse Standards zu erkämpfen. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass der strukturell entmachtete Teil der Arbeiterschaft andere Formen des Kampfes als einen Streik suchen muss und die Waffe der Leistungsverweigerung ein Privileg bestimmter Berufsgruppen sei, ist ein fataler Trugschluss. Entscheidender ist, eine nicht vorhandene strukturelle Macht durch Organisationsmacht auszugleichen. Das heißt nicht einfach nur, dass die Macht bestimmter Arbeiter und Arbeiterinnen anderen, weniger Privilegierten zugute kommen soll. Im Gegenteil, es ist mittel- und langfristig in beiderseitigem, in kollektivem Interesse. Das Kapital weiß stets auf vorhandene Arbeitermacht zu reagieren, z.B. mit Produktionsverlagerungen und Veränderungen der Arbeitsorganisation, um sie aufzubrechen. Auch die Gewerkschaft der Lokführer z.B. kann schnell entmachtet sein, wenn Automatisierungen ihre Unersetzbarkeit untergraben. Und dann wird sie dem Bahnvorstand relativ wenig entgegenzusetzen haben, wenn sich eventuelle Kämpfe nur auf ihre eigene Berufsgruppe stützten. Und selbst die vermeintlich überflüssigste soziale Gruppe, das immense Heer der Erwerbslosen, spielt in der Gesamtkonstellation durchaus eine gewichtige Rolle. Wo Prekarität standardisiert wird, übt dies einen Druck auf die gesamte Klasse aus. Jeder strukturell entmachtete Teil der Arbeiterklasse wird so zu einer Waffe des Kapitals. Es muss deshalb zum Kalkül einer Gewerkschaftsbewegung gehören, ausnahmslos alle Teile der Arbeiterklasse in ihre Kämpfe zu integrieren - zumindest eine dahingehende Tendenz zunehmend zu verstärken. Entscheidend dafür ist, ein breites Bewusstsein für die gemeinsamen Interessen und Fernziele jenseits tagespolitischer Anliegen zu schaffen und darüber hinaus die entsprechenden Konsequenzen für die Organisationsformen, Methoden und Strategien zu ziehen. Friedenspflichten auf den verschiedenen Ebenen und rigide gewerkschaftliche Zuständigkeitsgrenzen für Branchen, zum Beispiel, zerstören die Möglichkeiten übergreifender, notwendiger Unterstützung. Von Reformen und Revolutionen Der maßgebliche Unterschied zwischen revolutionär und reformistisch ausgerichteten Gewerkschaften besteht weniger in ihrer Positionierung zu bestimmten sozialen Reformen, sondern in ihrer gesellschaftlichen Perspektive. Auch die revolutionärsten Gewerkschaften haben für Lohnerhöhungen, medizinische Versorgung und Arbeitszeitverkürzung gekämpft; von daher haben auch sie sich für Reformen eingesetzt. Aber sie verfügen über eine grundlegende Kritik an den sozialen und ökonomischen Machtverhältnissen und eine Vision einer insgesamt anders aufgebauten Gesellschaft. Entgegen dem alten wie weit verbreiteten Klischee des revolutionären Traumtanzens bewahrte dies vor der Naivität der Sozialdemokratie, die auf ganzer Linie kolossal gescheitert ist und sich historisch überlebt hat. Denn weder brachten uns kleine Schritte allmählich dem Sozialismus näher, noch führten entpolitisierte, auf ökonomische Teilverbesserungen abzielende Einheitsgewerkschaften zu einer stärkeren Arbeiterbewegung. Im Gegenteil lieferte das sozialdemokratische Gewerkschaftsmodell die eigene Klasse angeblich übergeordneten (nationalen) Interessen aus, ohne dass diese in irgendeiner Weise davon profitiert hätte. Gerade anhand des österreichischen Oktoberstreiks lässt sich die absurde Entwicklung einer sozialdemokratisch dominierten Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung ermessen, wenn diese sich schließlich gegen eine Streikbewegung im eigenen Land stellt und aktiv an der Schaffung eines modernen Korporatismus mitwirkt, der uns heute als Sozialpartnerschaft begegnet. Gerade heute, wo das Kapital den sozialpartnerschaftlichen Waffenstillstand einseitig beendet hat und das System des Korporatismus zu Ende geht, zeigt sich die Tragödie der reformistischen Gewerkschaften am deutlichsten: sie haben den neoliberalen Angriffen nicht das geringste entgegenzusetzen. Noch immer an der Illusion des nationalen Interesses hängend, lassen sie sich mit dem Verweis auf Standortinteressen mundtot machen. Das Schreckgespenst der abwandernden Unternehmen zeigt seine Wirkung. Und so sehen die Gewerkschaften zu bei der Errichtung einer neuen kapitalistischen Dynastie und der Zerlegung ihrer eigenen Macht. Eine Gewerkschaft aber, die die Interessen der Arbeiterklasse vertritt, kann und darf solche Zugeständnisse nicht machen. Und wenn die Konsequenz dessen tatsächlich die Abwanderung von Unternehmen wäre, dann ist es ihre Aufgabe, die Betriebe zu übernehmen und wirtschaftliche Bereiche neu zu organisieren. Gerade gewerkschaftliche Organisationen haben das Potential dafür, was eine alleinstehende Belegschaft kaum zu schultern vermag. Die Waffen im Arbeitskampf Jenseits der ideologischen Ausrichtung einer Gewerkschaft zwischen den Polen revolutionär und reformistisch ergeben sich für sie strategische Zwangsläufigkeiten. Die sicherlich erste besteht überhaupt in der Organisation an sich. Ohne die kontinuierliche Organisierung der Arbeiterschaft über einen Streik hinaus werden alle Errungenschaften infrage gestellt. Ein Streik ohne Gewerkschaft ist selten viel wert. Und ein Streik mit der "falschen" Gewerkschaft hat oft die gleichen Folgen. Dem schließt sich die Frage nach dem Charakter der Organisation an. Hierarchisch aufgebaute, von Berufsfunktionären geführte Zentralverbände sind im Klassenkampf bevorzugte Verhandlungspartner, doch haben sie ihr Kreuz mit der Basis. Einerseits müssen sie ihre Mitglieder soweit unter Kontrolle halten, dass es nicht etwa zu wilden Streiks kommt, die über das ausgehandelte Maß hinaus Forderungen erheben. Andererseits muss die Basis entschlossen und kämpferisch genug bleiben, damit man ernsthaft mit einem Streik drohen kann. Die schwindende Mobilisierungsfähigkeit sozialdemokratisch ausgerichteter Gewerkschaften offenbart, wie annähernd unmöglich es ist, diesen Spagat auf Dauer aufrechtzuerhalten. Doch der strukturelle Charakter einer Gewerkschaft erschöpft sich nicht im Verhältnis von Basis und Funktionärsapparat. Es ergibt sich für sie eine gewisse Notwendigkeit, gut organisiert zu sein und diszipliniert zu handeln. Werfen wir noch einmal einen Blick nach New York. Der Clou der kleinen Müllabfuhrgewerkschaft erklärt sich nicht aus ihrem Druckpotential allein; oder anders gesagt: die USA hat ihr Drohpotential zu einem guten Stück selber geformt. Denn die Berufe in der Müllbeseitigung gehören keineswegs zum klassischen Terrain berufsständischer Verbände, profitieren diese doch vom Umstand, gefragte Fachkräfte zu organisieren, die bei einer Arbeitsniederlegung nicht so ohne weiteres durch beliebige Streikbrecher ersetzt werden können. In der Branche der Müllbeseitigung sieht das schon anders aus. Bei allem berechtigten Respekt vor ihrem Job kann man doch kaum behaupten, dass die Straßen nur mit langwierig ausgebildeten Fachkräften zu säubern wären. Und auch in New York war dies einmal ein klassisches Feld für ungelernte Kräfte; Jobs, die man schnell bekam und ebenso rasch wieder verlieren konnte. Solche Berufe haben zunächst einmal ein äußerst schwaches Drohpotential: wer streikt, kann umgehend ausgetauscht werden, warten doch genügend andere Ungelernte auf dem Arbeitsmarkt. Was die USA - wie viele andere US-amerikanische Gewerkschaften auch - diesem Dilemma entgegensetzten, war das Prinzip des closed shop , d.h., niemand kann gegen den Willen der Gewerkschaft eingestellt werden (und zwangsläufig auch nicht gefeuert werden). Dadurch aber machte die USA aus einer buchstäblichen Drecksarbeit eine Waffe, mit der sie notfalls die ganze Metropole im Würgegriff halten kann. Dass ihr das in dieser Branche gelang, ist nicht hoch genug zu bewerten und lässt auf eine Truppe schließen, die verschworener nicht sein könnte. Die Machtfrage stellt sich immer Hartnäckigkeit und Zähigkeit der Streikenden gehören zu den maßgeblichen Voraussetzungen, um einen Arbeitskampf erfolgreich durchstehen zu können; doch sind sie allein noch keine Garanten für einen erfolgreichen Streik. Es hat kaum einen verbisseneren Streik gegeben als den der britischen Bergarbeiter Mitte der 1980er Jahre. Die Militanz der patagonischen Landarbeiter Anfang der 1920er machte nicht einmal vor dem Waffengang halt. Beide legendären Arbeitskämpfe endeten dennoch im Fiasko. Ein Streik ist eben keine symbolische Protestnote, sondern echte Tat, er schmerzt und wirkt spürbar. Spitzt sich die Konfrontation zu, kann man sich rasch in einer Lage wiederfinden, die weit mehr in die Waagschale wirft als die ursprüngliche Streitfrage. Bei einem Streik geht es immer um Macht. Ab einer gewissen Qualität stellt ein Streik aus sich selbst heraus das bisherige Herrschaftsgefüge infrage. Eine Streikbewegung, die sich dessen nicht bewusst ist und sich dennoch in eine solche Lage manövriert, wird leicht überrollt. Eine Arbeiterschaft, die zusieht, wie ein Teil von ihr erstickt wird, ist zum Scheitern verurteilt. Jeder verlorene Kampf eines Teils der Arbeiterschaft fällt zwangsläufig auf die gesamte Arbeiterklasse zurück. Das sind vielleicht die wichtigsten Lehren, die sich aus dem britischen Bergarbeiterstreik ziehen lassen. Letztendlich kommt es darauf, einen Streik effektiv zu führen. Und das gelingt nur, wenn man ihn als das begreift, was er ist: eine direkte Aktion im Klassenkampf. Holger Marcks und Matthias Seiffert (Hg.): Die großen Streiks - Episoden aus dem Klassenkampf Die großen Streiks umfasst eine Reihe von bedeutenden und kämpferischen Streiks des 20. Jahrhunderts, die weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Vom einfachen Lohnkampf bis zum Generalstreik, vom Erfolg auf ganzer Linie bis zum totalen Fiasko. Erfasst werden dabei die verschiedenen Phasen und Formen des Arbeitskampfes. Es werden die Ereignisse und Entwicklungen dargestellt, die Hintergründe erläutert und durch Porträts der ProtagonistInnen vertieft. Die geschilderten Arbeitskämpfe stehen exemplarisch entweder für bestimmte Streikformen oder die ArbeiterInnenbewegung in einer bestimmten Phase oder Region. Ein inhaltlicher Schwerpunkt liegt dabei auf den Spannungsfeldern von Basis und Gewerkschaftsführung und deren (widersprechenden) Strategien. Ein Glossar und kommentierte Literaturlisten vervollständigen das Lesebuch der internationalen HistorikerInnen aus den syndikalistischen Gewerkschaften wie FAU, IWW und CNT. Alle AutorInnen sind entweder aktive GewerkschafterInnen (SyndikalistInnen), Angehörige der libertären Bewegung oder stehen dieser nahe. Die in den jeweiligen Beiträgen gelieferte Perspektive baut somit unmittelbar auf deren praktischen und theoretischen (Erfahrungs-) Horizont auf. Siehe dazu weitere Informationen (ISBN-13: 978-3-89771-473-1; 264 Seiten; Preis: 14.80 Euro), das Inhaltsverzeichnis und Bestellmöglichkeiten sowie die Details der Lesereise von Holger Marcks und Matthias Seiffert vom 3.6.2008 bis 26.6.2008 finden sich auf der Verlagshomepage des Unrast-Verlages |