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Updated: 18.12.2012 15:51 |
»Was bleibt uns anderes übrig?« Organizing als Perspektive für Gewerkschaften in der Krise? Am 17. Januar fand im »Haus der Demokratie und Menschenrechte« in Berlin eine express-Redaktionskonferenz statt, an der etwa 45 ehren- und hauptamtliche GewerkschaftskollegInnen teilgenommen haben. Unter dem Titel »Mitgliederorientiert, beteiligungsorientiert, betriebsorientiert?« ging es um organisatorische, aber auch politische Perspektiven der Gewerkschaften in der Krise. Hintergrund dieser Themenstellung war die Frage, wie Gewerkschaften angesichts von Mitgliederverlusten und schwindender tarifpolitischer Durchsetzungskraft aus der Defensive herauskommen können. Organisationspolitische Überlegungen in der IGM und in ver.di dienten in der Diskussion als Bezugspunkt für die Frage nach der Richtung einer gewerkschaftlichen Erneuerung. »Die Dimensionen der Weltwirtschaftskrise sind noch gar nicht richtig klar und angekommen. Doch es ist damit zu rechnen, dass die Folgen auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen werden sollen. Das werden wir als GewerkschafterInnen spätestens in den nächsten Tarifrunden sehr massiv zu spüren bekommen. Wie sollen wir unter diesen schwierigen Bedingungen die Defensive überwinden, aus der wir selbst in unseren gut organisierten Bereichen während der letzten Jahre nicht herausgekommen sind? Wenn wir uns nicht ändern, sind wir endgültig weg vom Fenster. Insofern stellt sich – entgegen allen kritischen Bemerkungen, ob wir es uns ausgerechnet in Krisenzeiten leisten können und sollen, viel Geld und Personal für Organizing-Projekte zu verwenden – für mich die Frage: Was bleibt uns anderes übrig als nach anderen Formen der Organisierung zu suchen, um wieder in die Offensive zu kommen?« So stellte Peter Bremme, ver.di-Gewerkschaftssekretär im Fachbereich »Besondere Dienstleistungen« in Hamburg und einer der Tagungsreferenten, in seinem Fazit einen Zusammenhang her zwischen der Organisationskrise, in der sich die Gewerkschaften befinden, und ihrer gesellschaftspolitischen Bedeutung gerade ›in Zeiten wie diesen‹. Dass dieser Zusammenhang in vielen Debatten über die Notwendigkeit einer Organisationsentwicklung fehlt, Gewerkschaften vielmehr oft als relativ beliebige Organisation und »Organizing« als gegenüber Organisationszwecken neutrales, technisch einsetzbares Mittel erscheinen, war ein Ausgangsbefund für die express-Tagung. So wird zwar der gewerkschaftliche »Renovierungsbedarf« kaum noch angezweifelt, und die Anzahl von Tagungen, Publikationen und Seminaren zu Themen wie Organizing, Campaining, Strategic Unionism, Social Movement Unionism u.ä. ist ein deutlicher Indikator für die breiter werdende Debatte über das »Union Renewal«. Doch jenseits dessen, dass es in all diesen Ansätzen um Mitgliedergewinnung und -betreuung geht, gehen die Wege und Ziele auseinander. Da das »Wie?« mit dem »Warum?« und dem »Wozu?« zusammen hängt, ist also auch hier zu fragen, welche Krise denn gemeint ist. Dazu haben sowohl die IGM als auch ver.di jeweils mit eigenen Strategiepapieren [1] Antworten geliefert, die die Spannbreite derzeitiger gewerkschaftlicher Krisendiagnosen umreißen und insofern einen Ausgangspunkt für die Fragestellung der Tagung bildeten. IGM: Grenzen der Stellvertreterpolitik erreicht So begründet die IGM in ihrem Strategiepapier die Krise, die sich weniger als Mitgliederverlust in bisherigen »Kernbereichen«, sondern vor allem als mangelnder Zugang zu neuen Mitgliederpotentialen im akademisch qualifizierten Bereich und zu der wachsenden Zahl von WerkvertragsnehmerInnen, Befristeten und LeiharbeiterInnen äußere, mit einer Erosion des Normalarbeitsverhältnisses und der Normalerwerbsbiographie. Dieser korrespondiere eine »Veränderung des gesamten sozialen, politischen und kulturellen Umfelds, in dem wir uns bewegen«, einschließlich der Aufkündigung der Sozialpartnerschaft auf gesellschaftlicher und tariflicher Ebene durch die Arbeitgeber. Es sei jedoch, so die Autoren des Papiers, nicht das Verschwinden der Arbeitgeberverbände, sondern deren Interesse an »Deregulierung und organisiertem Tarifbruch« in Kombination mit der »Öffnung bzw. Abweichung« von Tarifverträgen, das zu einer Verlagerung der »Aushandlungsprozesse auf die einzelbetriebliche Ebene« geführt habe. Weil die »Gegenseite weniger von sich aus am Kompromiss und an Beziehungen der Gegenseitigkeit interessiert ist«, stoße die »weitgehend auf Stellvertretung aufbauende Interessenvertretungskultur« der Gewerkschaften sowohl auf betrieblicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene an ihre Grenzen. Der IGM ist, so beschreibt sie es in ihrem Krisenszenario, ihr Verhandlungspartner abhanden gekommen, weil dieser nicht mehr an die Vorteile der politisch neutralen Einheitsgewerkschaft und der Konkurrenzbegrenzung auf Branchenebene glaube, sondern sich nur noch an der Realisierung kurzfristiger Gewinnchancen orientiere und es deshalb an Kompromissbereitschaft und dem »Willen zum Ausgleich« fehlen lasse. Ohne hier im Einzelnen auf den Beitrag der Gewerkschaften zu diesem ›objektivistischen‹ Krisenszenario eingehen zu können (hier wäre auf die Zustimmung der Gewerkschaften zu Öffnungsklauseln aus Gründen kurzfristiger einzelbetrieblicher Wettbewerbsfähigkeit à la Pforzheimer Abkommen, zum Sozialstaatsabbau aus Gründen langfristig erhoffter Beschäftigungswirksamkeit à la Hartz IV und zur kurz- und langfristig begründeten Notwendigkeit der Privatisierung von Sozialversicherungen à la Riesterrente zu verweisen): Aus diesem Befund leiten die IGM-Autoren »im Interesse der Beschäftigten und der Volkswirtschaft« die Notwendigkeit eines »neuen Betriebsbegriffs« und einer beteiligungs- und konfliktorientierten Organisationskultur statt der bisherigen Stellvertreterpolitik ab. »Der Betrieb stellt die Stunde der Wahrheit für die gewerkschaftliche Arbeit dar. (...) Die betriebspolitische Dimension unseres Handelns ist die Basis für unsere gesellschaftliche Verankerung und Rolle, nicht umgekehrt!« Programmatisch bestimmen sie darüber auch ihr Verhältnis zu sozialen Bewegungen und zu den Mitgliedern: »Eine Ausrichtung aller organisatorischen Ressourcen auf die Stärkung der betrieblichen Verankerung beugt der Gefahr der (Selbst)reduzierung auf NGO-Status vor und sichert die Stellung der Gewerkschaften als gesellschaftlich relevante Akteure. Die Herausforderungen des Wandels anzunehmen, bedeutet, die konkreten Anliegen und Bedürfnisse der Mitglieder ernst zu nehmen. Sie müssen der Ausgangspunkt für die Formulierung einer neuen Agenda auf der Höhe der Zeit sein.« ver.di: Einstellungs- und Verhaltenswechsel in der Organisation Soweit die IGM. Anders der ver.di-Bundesvorstand in seinem Papier »Chance 2011«. Dort wird zwar ebenfalls betont, dass »die Basis gewerkschaftlicher Arbeit, Politik und des gewerkschaftlichen Erfolges in den Betrieben und Unternehmen« liege und entsprechend eine »systematische Entwicklung der betrieblichen Basis« gefordert. »Mitgliederorientierung (als Einheit von Mitgliederinteressenvertretung, Mitgliedergewinnung, -bindung und -rückgewinnung)« müsse zum »Maßstab der Veränderungsarbeit auf allen Themenfeldern« werden. Dass dies bislang offenbar nicht der Fall ist, führen die AutorInnen auf den »Zustand der Organisation«, d.h. das »Organisationshandeln« und die »Organisationsstrukturen« in ver.di zurück. Erforderlich seien daher nicht nur professionalisierte Strukturen (u.a. systematische Potenzialanalysen, strategische Auswahl von Pilotbetrieben für Organisierungsprojekte, systematische Werbekonzepte), sondern ein »erheblicher Einstellungs- und Verhaltenswechsel in der Organisation« – weg von stellvertretender Feuerwehr- und Sanitäterarbeit der Hauptamtlichen, hin zu einem Selbstverständnis als »Prozessmanager«. Der Landesbezirk Baden-Württemberg hatte an diesem Papier u.a. kritisiert, dass die dort präsentierten Überlegungen zur Weiterentwicklung von ver.di wenig Spezifisches zur »Organisation Gewerkschaft« beinhalten. Die Verantwortung der Hauptamtlichen zu individualisieren und die gewerkschaftlichen Probleme mit organisationssoziologischen und letztlich Motivationsproblemen zu erklären, führe dazu, dass die Krisendiagnose quasi im gesellschaftsleeren Raum stattfinde. (S. dazu auch express, Nr. 9/2008) Schon an diesen beiden Szenarien wird deutlich, dass unterschiedliche Krisendiagnosen jeweils bestimmte Implikationen haben und auch zu ganz unterschiedlichen Konsequenzen führen. Hier eine gewerkschaftsübergreifende Diskussion über bisherige Erfahrungen und weitere Perspektiven der Organisationsentwicklung zu beginnen, war ein Anliegen der Tagung. Prioritäten gegen den Trend setzen Als Einstieg in die Diskussion führte zunächst Agnes Schreieder, stellvertretende Landesbezirksleiterin bei ver.di Hamburg, ihre Überlegungen zu »Organizing – eine politische Perspektive für Gewerkschaften in der Krise?« aus. Dabei bezog sie sich auch auf ihre Erfahrungen als ehemalige Verantwortliche für die Lidl-Kampagne von ver.di. Zunächst müsse man sich fragen: Wo wollen wir hin? Was wollen wir erreichen? Unbestreitbar gehe es für die Gewerkschaften auch darum, neue Mitglieder zu gewinnen, doch darüber hinaus sei es dringend notwendig, die betriebliche Verankerung (wieder) herzustellen, (wieder) tarif- und arbeitskampffähig zu werden und verlorenen gesellschaftspolitischen Einfluss auf nationaler Ebene (wieder) zu gewinnen bzw. auf internationaler Ebene allererst herzustellen. Bei der Frage, welchen Beitrag Organizing dazu leisten könne, stelle sich zunächst die Gegenfrage nach alternativen Strategien. Bislang hätten Gewerkschaften nicht nur in Deutschland auf die Erosion ihrer Mitgliederbasis vor allem mit Fusionen geantwortet. Doch obwohl das zurück liegende Jahr, verglichen mit dem jahrelangen Rückgang der Mitgliederzahlen, für ver.di eine Konsolidierung gebracht habe und als »bestes Jahr seit der Gründung« gelte, seien auch in diesem Jahr immer noch Mitgliederverluste von 1,13 Prozent zu verzeichnen, und die Tarifbindung gehe weiter zurück. Organizing könne demgegenüber eine »Initiative in Richtung Mobilisierung, Selbsttätigkeit und Beitritt in eine Gewerkschaft sein«. Doch wer macht die damit verbundene Arbeit, und welche Ressourcen gibt es dafür? Auch wenn es beim Organizing im Kern darum gehe, dass Beschäftigte selbst aktiviert werden, ihre Probleme lösen zu können, zeige ihre Erfahrung mit Organizing-Projekten, dass es ohne Hauptamtliche nicht geht. »Doch allein mit dem vorhandenen Personal geht es auch nicht«, so Agnes Schreieder, die dabei nicht nur inhaltlichen, sondern auch personellen und finanziellen Input im Auge hatte. Sie verwies auf die Budgetierungsrichtlinie von ver.di, der zu Folge maximal 53 Prozent des Budgets für Personal vorgesehen sind, wobei der Anteil an Personalausgaben auf örtlicher und Landesebene oft noch unter dieser Vorgabe liege. Dies hänge nicht zuletzt auch mit dem Problem zusammen, dass »arme Berufe auch arme Fachbereiche nach sich ziehen«. Anders gesagt: »Die Mittel konzentrieren sich dort, wo Ressourcen vorhanden sind.« Und das führt dazu, dass die berühmten »weißen Flecken« eben nicht von der Landkarte verschwinden. Dieser Mechanismus gelte auch für das Organizing. Prioritäten würden oft dort gesetzt, wo Stärke bereits vorhanden sei. Gegen diese »defensive Organizing-Strategie« verwies sie auf die Dumpingfunktion, die von Unternehmen ausgeht, die ohne Interessenvertretung der Beschäftigten agieren können. Im Sinne einer kontrazyklischen Prioritätensetzung sei das Lidl-Projekt von ver.di eine strategische Antwort auf die Sogwirkung, die ein Discounter wie Lidl für die gesamte Branche habe. Unkonventionell war auch Schreieders Antwort auf die »Qualifikationsfrage«, die nicht nur Gegenstand der beiden Papiere von IGM und ver.di sowie der Kritik des Landesbezirks Baden-Württemberg ist, sondern zu Diskussionen über Arbeitsorganisation und -prioritätensetzung unter Hauptamtlichen selbst führt. Angesichts der vielfach zu konstatierenden Überlastungen von GewerkschaftssekretärInnen, die ihren Job ernst nehmen, kommt es hier häufig zu Abwehrreaktionen nach dem Motto »Was sollen wir noch alles machen?« Während die IGM vor allem auf die Integration der Ausbildung, die für Organizing-Ansätze notwendig sei, in die laufende Qualifizierung von Hauptamtlichen vor Ort setzt und sich darüber eine Art Selbstläufereffekt erhofft, hielt Agnes Schreieder die Schulung über Workshops alleine für nicht ausreichend. Es sei vielmehr eine professionelle Prozessbegleitung, die durchaus auch von externen Kräften geleistet werden könne, notwendig. Damit war sie bei der Frage angelangt, welche Organisationsstruktur für Organizing erforderlich sei. Denn so notwendig die Implementierung von Organizing-Ansätzen in die bestehenden Strukturen ist, müssten diese Neuerungen doch zugleich auch vor der herrschenden Organisationsroutine geschützt werden. Insofern sei das Kunststück zu vollbringen, »neben der Spur zu arbeiten, ohne diese zu verlassen«, so ihr Fazit. Diese Formulierung provozierte erwartungsgemäß Nachfragen, denn das klinge angesichts der harten Ressourcenkämpfe innerhalb der Gewerkschaften nach einer »Kulturrevolution, die in den Gewerkschaften ansteht«, so ein Mitglied des Berliner »Arbeitskreis Internationalismus« der IG Metall. Er fragte auch, was die beschriebene Gratwanderung heißen könne in Bezug auf die Internationalisierung der gewerkschaftlichen Arbeit, die nach wie vor stark von einem Top Down-Ansatz und einer Zentralisierung von Kompetenzen in den internationalen Abteilungen geprägt sei. Immer noch wenig entwickelt seien dagegen offene, grenzüberschreitende Kooperationen unter Belegschaften selbst. Auch ein DGB-Teamer aus Berlin griff das Bild des »Neben-der-Spur-Arbeitens« auf und fragte nach dem Widerspruch, der sich möglicherweise zwischen diesem Neben-der-Spur, also eventuell auch an den institutionell vorgesehenen Wegen der Entscheidungsfindung vorbei-Arbeiten, und dem zugleich erhobenen Anspruch einer Demokratisierung gewerkschaftlicher Strukturen durch Organizing ergebe. Wenn klar sei, dass Organizing in solchen Betrieben, in denen die Gewerkschaften gerade keine Massenbasis haben, nicht allein mit vorhandenem hauptamtlichem Personal bewerkstelligt werden könne, dann erfordere dies z.B. einen offeneren Umgang mit außergewerkschaftlichen Kräften. Eine ver.di-Sekretärin aus Köln bestätigte das Bild von einer Gewerkschaft, die mit dem Rücken zur Wand stehe. Dort gebe es 3300 Mitglieder im Einzelhandel – bei 50000 Beschäftigten. Auch sie unterstützte die These, dass gar nichts anderes übrig bleibe, als sich auf die Suche nach neuen Wegen der Organisierung und des Arbeitskampfs zu machen. Der Druck erzwinge geradezu eine Überprüfung bisheriger Arbeitsweisen und eine veränderte Prioritätensetzung. Ob das Organizing-Konzept allerdings, jenseits seiner Angemessenheit für Mittel- und Großbetriebe, auch für die vereinzelten Arbeitsverhältnisse in Klein- und Kleinstbetrieben oder gar für die disparaten Arbeitsverhältnisse, in denen sich Erwerbslose oft bewegen müssten, tauge, fragte eine Vertreterin der Bundesarbeitsgemeinschaft Erwerbslosenorganisationen. Und: Wiederholen sich bei den Organizern, unabhängig davon, ob sie als Externe eingestellt oder hauptamtlich sind, nicht die Verschleißerscheinungen und Burn Out-Phänomene, die auch jetzt schon unter engagierten Hauptamtlichen festzustellen seien? Diese Frage verwies zurück auf die begrenzten personellen und finanziellen Ressourcen, die in den Gewerkschaften für solche Experimente und Reformansätze vorhanden seien. Die Beschäftigten suchten sich in solchen Situationen, ob von den Gewerkschaften gewollt oder nicht, eigene Auswege, so ein Teilnehmer. Wenn sie sich von oder in den Gewerkschaften nicht (mehr) vertreten fühlten, gründeten sie eben eigene Interessenvertretungen. Schlagendes Beispiel dafür seien die GDL, Cockpit, UFO, der Marburger Bund u.a. Damit wiederum hatte Agnes Schreieder kein Problem, solange dies zu einer Überbietungs- und nicht zu einer Unterbietungskonkurrenz führe, wie das im Einzelhandel vor der ver.di-Fusion lange der Fall gewesen sei zwischen HBV und DAG. In der Tat, so wurde mit Bezug auf eine Studie von Heiner Dribbusch und Reinhard Bispinck zu »Tarifkonkurrenz der Gewerkschaften zwischen Über- und Unterbietung«, ergänzt, würden Unterbietungsverträge in der Regel für eine verschwindend kleine Anzahl von Gewerkschaftsmitgliedern abgeschlossen, meist ohne deren Beteiligung, immer jedoch ohne Streik, und zwar oft auf Initiative der Arbeitgeber und in Bereichen, in denen die DGB-Gewerkschaften ohnehin schwach seien, wie zum Beispiel im Handwerk, in der Zeitarbeit oder generell im Osten Deutschlands. Zugleich entfalteten diese, wie im Fall des berüchtigten CGB-Tarifvertrags für Zeitarbeitskräfte, eine verheerende Dumpinglogik für die restlichen Beschäftigten und Gewerkschaften. Insofern führe dieses Problem zurück zur Frage, wie Beschäftigte darin unterstützt werden können, sich für ihre Interessen einzusetzen und der Konkurrenz zu begegnen. »Emanzipation, nicht Reklame« Die Antworten der IGM auf dieses Problem referierte Susanne Kim, die in der nach dem Gewerkschaftstag 2007 neu geschaffenen Vorstands-Abteilung »Mitglieder und Kampagnen« arbeitet. Auch für sie gab es einen Zusammenhang zwischen dem Ziel, die Mitgliederentwicklung voranzutreiben, der Organisationsentwicklung und der gesellschaftspolitischen Bedeutung von Gewerkschaften, wie sie am Beispiel Leiharbeit illustrierte. Organizing sei der gewerkschaftliche Reformansatz, um auf allen drei Ebenen wieder in die Offensive zu kommen. Denn »auch die IGM ist trotz ihrer 2,3 Mio. Mitglieder viel heterogener, als es nach außen oft scheint«. Interessante Punkte ihres Referats, das sich im Wesentlichen an den eingangs genannten Text »Organizing: 8 Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit« der IGM hielt, betrafen die Überlegungen zur Notwendigkeit eines neuen Betriebsbegriffs und die Frage der Mitgliederorientierung. Als Beleg dafür, den Betrieb als »Dreh- und Angelpunkt gewerkschaftlicher Arbeit« zu betrachten, führte Susanne Kim zunächst Befragungs-Ergebnisse der »DGB-Potentialanalyse« an. Demnach sind für die Mitglieder die betrieblichen Funktionäre, also Betriebsräte und Vertrauensleute, das Gesicht der Gewerkschaft – nicht die hauptamtlichen Gewerkschaftssekretäre und auch nur zu einem geringen Prozentsatz sie selbst als Mitglieder. Die Mitglieder wurden auch danach gefragt, was sie von ihrer Gewerkschaft erwarten und ob diese Erwartungen erfüllt würden. Realisiert sehen sie diese hinsichtlich einer starken, auch konfliktfähigen und Schutz bietenden Organisation – weniger gut wurde die Kenntnis der Arbeitswirklichkeit bewertet. Doch Beschäftigte wollten auch mitreden und beteiligt werden, wenn es darum geht, eigene Ziele zu verwirklichen. Je prekärer die Arbeitsverhältnisse, desto deutlicher allerdings die Diskrepanz zwischen Ansprüchen und Arbeitswirklichkeit, was sich übrigens auch im DGB-Index »Gute Arbeit« niederschlägt. Was bedeutet dies nun für die Interessenvertretung? Die IGM sei, so Susanne Kim, eine »Betreuungs-« und »Funktionärsgewerkschaft«: Hauptamtliche betreuten 15500 Betriebe mit 57000 Betriebsratsmitgliedern und rund 77000 Vertrauensleuten. Hier zeige sich zum Teil eine große Entfremdung zwischen Beschäftigten und Gewerkschaftsvertretern, aber auch zwischen »Betriebsratsfürsten« und Gewerkschaft. Ohne näher darauf einzugehen, wie gerade das mit der betriebsrätlichen Tätigkeit rechtlich und politisch eng verbundene Co-Management als ein Moment dieser Entfremdung durch Organizing überwunden werden könnte, hielt sie fest: Die IGM nehme Organizing als Emanzipationsanspruch ernst und wolle »von den Mitgliedern als Experten ihrer Arbeitsverhältnisse lernen und ihnen zuhören«. Stärker als bislang müsse es darum gehen, gerade diejenigen Beschäftigtengruppen systematisch einzubeziehen, die aufgrund ihres formellen oder qualifikatorischen Status’ nicht zum bisherigen Kernbereich gewerkschaftlicher Interessenvertretung zählten. Hier ergab sich denn auch eine Verbindung des Organizing-Ansatzes zur Frage, was unter dem geforderten neuen Betriebsbegriff zu verstehen ist. Neu ist dieser insofern, als es »die eine Belegschaft« immer weniger gebe, so Kim. Die »Erschließung weißer Flecken« bezog sie in ihrem Beitrag dementsprechend nicht nur auf neue Branchen oder Unternehmen, sondern hauptsächlich auf vernachlässigte Personengruppen (Angestellte, Frauen, Junge, LeiharbeitnehmerInnen) in den bislang betreuten Unternehmen, d.h. die berühmten »Ränder« der Kernbelegschaften. Ihr abschließendes Plädoyer für ein gewerkschaftspolitisches »Vorwärts zu den Wurzeln« formulierte sie unter der Prämisse, dass aufgrund der veränderten Zusammensetzung der Belegschaften einerseits und des sinkenden Interesses der Arbeitgeber an integrativen Lösungen andererseits auch das Konzept der Stellvertreterpolitik nicht mehr greife. An die Stelle einer Interessenvertretung für Beschäftigte müsse die Interessenvertretung der Beschäftigten treten – Gewerkschaft biete »den organisatorischen und politischen Rahmen für deren eigenständiges Handeln«. In der nachfolgenden kontroversen und engagierten Debatte galt es zunächst, Informationsdefizite zu beheben. So wurde nachgefragt, ob die vorgestellte Neu-Bestimmung des Betriebsbegriffs bedeute, dass die IGM über ihr bisheriges Terrain nicht hinausgehen, sondern eher bisherige Schwachstellen in den Betrieben, in denen sie bereits präsent sei, beheben wolle. Zweifellos gebe es hier Handlungsbedarf, so konstatierten Kollegen aus der IG Metall, weil die Bedeutung der Vertrauensleute gerade als gewerkschaftliches Korrektiv zur kooperativen und friedensverpflichteten Beschränkung der Betriebsräte aufgrund veränderter Unternehmensstrukturen – Stichwort: Outsourcing, Fremdvergabe, Befristungen und Leiharbeit – abgenom-men habe, doch damit sei noch kein Fuß in bislang unorganisierte Betriebe gesetzt. Lars Dieckmann, Jugendsekretär der Berliner IG BAU, fragte hier explizit noch einmal, ob und wie Organizing einen Beitrag zur Überwindung der Entfremdung von Betriebsräten und Gewerkschaft bzw. zur Unterstützung einer Perspektive leisten könne, die über Standortpolitik hinaus auf die Stärkung der Tariffähigkeit ziele. Dies sei allerdings kein einseitiges Problem. Gerade wenn man an das betriebliche Erfahrungs- als Expertenwissen anknüpfe, sei festzustellen, dass die Beschäftigten dort oft die große Ferne der Tarifpolitik gegenüber den tatsächlichen Arbeitsbelastungen kritisierten. Letztlich erfordere dies die bereits angesprochene »Kulturrevolution« im Apparat als Demokratisierung der Organisation und eine Diskussion, die an den alltäglichen Erfahrungen der Beschäftigten statt an verselbständigten Tarifritualen ansetze, um von hier aus nach Wegen zur Überwindung von Konkurrenz zu suchen, bemerkte ein Teilnehmer. Das allerdings setze auch eine andere Arbeit der Hauptamtlichen voraus, bemerkte eine Gewerkschaftssekretärin aus dem ver.di-Landesbezirk Berlin-Brandenburg. Sie wollte wissen, wie Organizing in die bestehenden Strukturen der Gewerkschaft so integriert werden könne, dass die von Agnes Schreieder genannten Mitnahme- und Abschleifungseffekte verhindert werden könnten: »Müssen wir nicht neue Leute finden, wenn wir Organizing ernst nehmen und Handlungsfähigkeit entwickeln wollen?« Auch eine Personalrätin aus Köln, warnte vor einem »Weiter so« der bisherigen Hauptamtlichen-Arbeit. Die tradierten gewerkschaftlichen Mittel der Betreuung und des Arbeitskampfes reichten schon deshalb nicht mehr aus, weil sich die gesetzlichen Grundlagen der Interessenvertretung durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und die gezielte Förderung von Leiharbeit verändert hätten. Gesellschaftliche Bündnisse und Kooperationen mit außerbetrieblichen Gruppen auf der Basis eines anderen Verständnisses gewerkschaftlicher Arbeit und Arbeitsteilung seien notwendig. Skepsis bei der Integrierbarkeit der Betriebsräte aus Großbetrieben in neue Arbeitskampfformen äußerte ein politischer Sekretär des ver.di-Bundesvorstands. Dies bedeute jedoch nicht, die Wichtigkeit der Bildung von Betriebsräten anzuzweifeln, wie dies etwa auch ein zentrales Ziel in der Schlecker- und der Lidl-Kampagne gewesen sei. Doch ohne professionellen Beistand einerseits und Druck aus der Gesellschaft andererseits seien diese Kampagnen nicht denkbar. Mirko Hawighorst von der Berliner IG BAU betonte , dass es ohne Hauptamtliche, Ressourcen und Infrastruktur der Gewerkschaft als Organisation nicht gehe. Er berichtete – ein kleines Zwischen-Highlight auf der Tagung – über eine Tarifauseinandersetzung, die die IG BAU, zum Teil gemeinsam mit ver.di, in den Kliniken der Charité führt – unter Einbeziehung von PatientInnen und deren Angehörigen. Die Kampagne zielt auf einen Haustarif für die ausgegliederte Charité-Facility-Management-Gesellschaft, in der in 18 Gewerken ca. 2400 KollegInnen aus 30 Nationalitäten – vielfach befristet – beschäftigt seien. Systematisch seien zuvor »heiße Themen« in der Belegschaft abgefragt worden. Dabei habe sich gezeigt, dass zentrale Probleme vor allem im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie in der hohen Fluktuation in der Belegschaft lägen. Erst auf dieser Basis sei dann mit der Belegschaft eine Forderung entwickelt worden. (S. dazu auch den Bericht von Lars Dieckmann in dieser Ausgabe des express.) Für seinen IG BAU-Kollegen Hannes Rosenbauer stellte sich im Anschluss daran die Frage: »Wie lernen Hauptamtliche, so dass solche Aktionen möglich werden?« Auch Agnes Schreieder knüpfte an dieses Problem der Verankerung von Organizing-Ansätzen in den Gewerkschaften an und fragte, wie die IGM das Entstehen einer »Parallel-Struktur« vermeiden wolle. Susanne Kim ging in ihren Antworten zunächst darauf ein, dass es in der IGM sehr wohl Ansätze gegeben habe, auch neue Branchen zu organisieren, so z.B. im KFZ-Handwerk bei A.T.U. Wegen der filialisierten Kleinstrukturen dieses Ersatzteil- und Serviceunternehmens sei das Ziel dort gewesen, über Konzernbetriebsratsstrukturen Betriebsräte zu bilden. Durch übergreifende Kooperation zwischen verschiedenen Verwaltungsstellen sei dies auch gelungen. Auf zentraler Ebene plane die IGM, Organizing in »Potentialbereichen« zu betreiben – zunächst im KFZ-Handwerk. Derzeit aber liefen Organizing-Projekte auf lokaler Ebene unter Einbeziehung von Ehrenamtlichen und fast ohne zusätzliche Ressourcen. »30 Prozent der Arbeitszeit von Hauptamtlichen vor Ort sollen für Organizing-Projekte verwendet werden. Welche Arbeit dafür wegfällt, entscheiden die KollegInnen vor Ort durch eigene Schwerpunktsetzung.« Damit sowie durch die Integration von Qualifizierungsbausteinen in die laufende Bildungsarbeit würde auch die befürchtete »Parallel-Struktur« vermieden. Insgesamt machte Kims Beitrag deutlich, dass hinter dem IGM-Ansatz »mehr als ein zeitliches befristetes Projekt oder eine einzelne Kampagne« steht, sondern ein hohes Maß an Selbstverpflichtung des »Apparats« auf eine veränderte Organisationspraxis. Unklar blieb dabei allerdings der Zusammenhang zwischen der verbindlichen Verankerung der Organisationsreform und veränderten gewerkschaftspolitischen Inhalten: Nicht automatisch ergeben sich aus der Etablierung von Betriebsräten und der Wiedergewinnung von Tariffähigkeit auch Wege aus der Defensive, die – so ein Kollege der IGM – nicht nur mit veränderten Umständen wie Unternehmensstrukturen, Zusammensetzung der Belegschaften, Prekarisierung und einer »Haltungsänderung« der Arbeitgeber, sondern auch viel mit der hausgemachten Politik der Gewerkschaft selbst zu tun habe. Letztlich, so formulierte Susanne Kim ihre diesbezügliche Hoffnung, sei jeder Organizing-Pro-zess auch ein Politisierungsprozess – und daher ergebnisoffen. Gleichwohl darf man gespannt sein, inwieweit es der Gewerkschaft gelingt, ihren Anspruch, Selbsttätigkeit von Belegschaften bzw. Beschäftigten zu unterstützen, umzusetzen, denn das hieße, Emanzipationsprozesse zu ermöglichen und zuzulassen, die dann vielleicht auch zu Konflikten führen, die die institutionellen Pfade verlassen und in diesem Sinne »neben der Spur« liegen – ein aktuelles Beispiel dafür sind die Auseinandersetzungen innerhalb der SEIU in den USA, wo sich mittlerweile Belegschaften gegen die zu niedrigen Tarifverträge der SEIU wehren und eigene Verhandlungen beginnen. Und diese Art von ergebnisoffenen Emanzipationsprozessen deckt sich auch nicht unbedingt mit dem Ziel mess- und zählbarer Erfolgskriterien. Es geht um mehr als Mitgliedergewinnung Eben dieses Problem beschäftigte die TeilnehmerInnen auch nach dem Referat von Peter Bremme. Er berichtete zum einen über ein Pilotprojekt zur Organisierung im Hamburger Wach- und Sicherheitsgewerbe aus dem Jahr 2007. Zum anderen stellte er die internationale Arbeit des globalen Netzwerks der Gewerkschaften UNI in Bezug auf das Sicherheitsgewerbe vor. Mithilfe einer Organisierungskampagne in den Hauptstandorten des weltweit größten Sicherheitsunternehmens G4S in Indien, Südafrika, Malawi und Mozambique wurde G4S dazu gebracht, ein weltweites Abkommen zu den Organisierungsrechten von Gewerkschaften und der Anerkennung von ILO-Standards zu unterschreiben. Wesentlich dabei war, dass über die UNI koordinierte Aktivitäten G4S in die Verlegenheit brachten, die lukrativen Verträge in Südafrika (Fußballweltmeisterschaft 2010) und London (Olympiade 2012) zu verlieren bzw. erst gar nicht zu bekommen. Und schließlich stellte er die im vergangenen Jahr neu geschaffene Anlaufstelle für undokumentierte MigrantInnen (»MigrAr«) aus Hamburg vor (s. auch Bericht in diesem express unten): Warum ausgerechnet solche »Minderheiten«-Probleme, was bringt das der Gewerkschaft? – unter diesen Rechtfertigungsdruck gerät Organizing angesichts der begrenzten Ressourcen notwendig. Peter Bremme berichtete, rein quantitativ seien in der insgesamt einjährigen Organizing-Kampagne, für die ver.di 200000 Euro ausgegeben habe, rund 1500 Beschäftigte erreicht, 500 Arbeitsstätten aufgesucht, 100 Aktive mobilisiert und insgesamt 200 neue Mitglieder gewonnen worden. »Wenn man es rechnerisch betrachtet, macht das also 1000 Euro pro neu gewonnenem Mitglied. Da fragt sich mancher Kollege, ob wir denen die 1000 Euro nicht auch einfach so in die Hand hätten drücken können, damit sie bei uns eintreten«, nahm Bremme einen typischen Einwand gegen das Projekt auf. Qualitativ betrachtet habe das Projekt mit seinen vielfältigen Methoden der Aktivierung von Beschäftigten, der strukturierten Arbeitsweise, der zielorientierten und strategischen Gesamtausrichtung einen neuen Ansatz für Gewerkschaftsarbeit umgesetzt, der in ver.di viele inspiriert habe, ihre Praxis neu auszurichten. In der Tat wurden in Hamburg im Fachbereich 13 – »Besondere Dienstleistungen« aller Art, die bei Schaffung der ver.di-Fachbereichs-Struktur durch alle Maschen gefallen waren – Organizing-Ideen auch in anderen Branchen umgesetzt, beispielsweise bei der Gründung von Betriebsräten in der Wohnungswirtschaft, bei konfliktorientierter Tarifarbeit in Call Centern und bei der Ansprache der Beschäftigten in Zeitarbeitsfirmen. Die Früchte dieses Engagements zeigen sich, so Bremme, auch in dem regionalen Branchentarifabschluss, der über vergleichbaren Tarifverträgen im Sicherheitsgewerbe lag, und in den Mitgliederzahlen: Seit der Einführung von Organizing im Jahr 2006 schreibe der Fachbereich in Hamburg kontinuierlich schwarze Zahlen – insgesamt ein Plus von 5,8 Prozent. Seine Erfahrung bezüglich der Frage, wie trotz knapper Ressourcen aufwändiges Organizing möglich ist, wer die Arbeit macht und wer die Qualifikationen dafür hat, war: »Ohne externe professionelle Unterstützung wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen, aber ohne dass wir uns mit unseren KollegInnen hingesetzt und überlegt hätten, was uns wirklich wichtig ist und welche überflüssigen Zeitfresser-Tätigkeiten es gibt, hätten wir als Hauptamtliche auch nie den Kopf und Terminkalender frei bekommen, um uns auf die neuen Anforderungen einzustellen und mit den Ehrenamtlichen und den Beschäftigten zu reden.« Das kann dann eben auch dazu führen, dass man die Termine für Sitzungen im Verband der Bestattungsunternehmer (auch ein typisches Betätigungsfeld für den Fachbereich »besondere Dienstleistung«) aus dem Kalender streicht, um sich stattdessen mit der Frage zu beschäftigten, wie die wachsende Zahl von MigrantInnen ohne Papiere unterstützt werden könnte. Betreuung von »Illegalen«, Unterstützung ausgerechnet für diejenigen, die gerne mal als »Schmutzkonkurrenz« beschimpft werden, von Au-pair-Mädchen, Haushaltshilfen oder gar von Prostituierten? Das zählt sicher nicht zum »Kerngeschäft« der Gewerkschaften. Die ZAPO (Zentrale Anlaufstelle für PendlerInnen aus Osteuropa) in Berlin ist seit Jahren geschlossen, ein Ersatz bislang nicht gefunden; der Europäische Verband der WanderarbeiterInnen (EVW) wird in seiner bisherigen Form aufgelöst, seine Aufgaben sollen irgendwie im Rahmen der bestehenden Struktur der IG BAU übernommen werden. Umso bemerkenswerter, dass in Hamburg mit »MigrAr« nun ein neuer Anlauf unternommen werden soll, Menschen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus bei Konflikten rund um die Arbeitsverhältnisse zu unterstützen und ihnen auch eine Mitgliedschaft in ver.di zu ermöglichen. Ohne Offenheit für die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen, ohne die dort vorhandene Expertise und Unterstützungsbereitschaft wäre dieses Projekt nicht möglich gewesen, so Peter Bremme. Er setzt auf die »Vernetzung vor Ort«, gemeinsam mit MigrantInnenorganisationen, antirassistischen Initiativen, kirchlichen und freien Wohlfahrtsträgern, die sich im »Arbeitskreis undokumentiertes Arbeiten« und im »Ratschlag Prostitution« zusammen gefunden hätten. Zwar gibt es bislang erst einen Fall, in dem das Netzwerk tätig werden konnte (s. zum »Fall« Ana S., einer Hausangestellten, die für ihren Lohn vor das Arbeitsgericht zog, den Bericht und den Filmtipp zu »Mit einem Lächeln auf den Lippen« in diesem express). Doch die Hoffnung, dass dieses Beispiel unter Beschäftigten und in den Gewerkschaften Schule mache, scheint nicht unbegründet. Mitte März wird in Berlin ebenfalls eine Anlaufstelle für »Sans Papiers« eingerichtet, u.a. getragen vom dortigen ver.di-Fachbereich 13 und »respect«, einem europäischen Netzwerk zur Unterstützung von MigrantInnen vor allem im Bereich der Haushaltshilfen. Wenn »messbare Mitgliedszahlen für die Gewerkschaften interessanter sind als das Selbstbewusstsein, das in solchen Auseinandersetzungen entsteht, entgeht einem die wesentliche Dimension gewerkschaftlicher Arbeit«, so der Kommentar einer express-Redakteurin zur Debatte um Mitgliedergewinnung als Kennzeichen gewerkschaftlichen Erfolgs. Ergänzend dazu bemerkte ein Teilnehmer: Wenn die Organizing-Ansätze die Vielzahl von Arbeitsstätten, die nicht in das traditionelle Schema des Großbetriebs als Machtbasis der Gewerkschaften passen, nicht zur Kenntnis nähmen, dann entgingen den Gewerkschaften auch veränderte Arbeitsrealitäten, wie Peter Bremme sie beschrieben hätte. Ein Kollege von der ver.di Internet-Redaktion konnte hier einige Beispiele beisteuern, wie das Internet genutzt werden könnte, wenn die traditionellen Wege, Beschäftigte anzusprechen, nicht gangbar sind – etwa, weil es keine festen Einsatzorte im Sinne von Betrieben gäbe, die Fluktuation an den Arbeitsstätten hoch sei oder die Arbeit gewissermaßen im Privaten stattfinde. Müsste angesichts der Erosion der »Machtbasis« der Gewerkschaften gerade in den bisherigen Hochburgen nicht neu über das Prinzip des »Geleitzugs« nachgedacht werden? »Eigentlich führen wir hier am Beispiel Organizing eine Grundsatzdebatte«, so ein Teilnehmer. Ein weites Feld, so scheint es, auf dem, so oder so, vieles in Bewegung ist und zu tun bleibt. Dass schon viel gewonnen wäre, wenn die unterschiedlichen Wirklichkeiten der Krise zur Kenntnis genommen würden, war ein vorläufiges Fazit der Tagung. To be continued, so viel ist sicher... Für die weitere Debatte freuen wir uns über Anregungen und Beiträge. Kirsten Huckenbeck Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/09 (1) Detlef Wetzel/Jörg Weigand/Sören Niemann-Findeisen/Torsten Lankau: »Organizing: Die mitgliederorientierte Offensivstrategie für die IG Metall. Acht Thesen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit«, o.O. 2008. »Chance 2011 – Zur Veränderungsarbeit der nächsten Jahre in ver.di: Mitgliederorientierung muss Ziel und Maßstab für das gesamte Organisationshandeln werden.«, Diskussionspapier des Bundesvorstands zur Veränderungsarbeit in ver.di, Mai 2008 |