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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Isolation und Scham Jenny Brown über die Schwierigkeit, Erwerbslose in den USA gewerkschaftlich zu organisieren Hat die Krise Auswirkungen auf alltägliche soziale Auseinandersetzungen? Wie kommt sie an in Tarifkämpfen, betrieblichen Auseinandersetzungen, in den unterschiedlichen Bereichen der sozialen Daseinsvorsorge? Wirkt sie lähmend oder eher als Katalysator? Bleibt es in Deutschland so ruhig, weil das, was die Troika anderen EU-Länder abverlangt, hierzulande bereits mit der Agenda 2010 umgesetzt wurde? Auf unserer Veranstaltung »Lieben oder Fürchten? Die Linke, die Krise und die EU« am 5. Mai in Frankfurt wollen wir u.a. diskutieren, welche Verbindungen zwischen »Systemfrage und Alltagskämpfen«, u.a. auch zur Situation der Erwerbslosen, bestehen. Neben der Analyse »Zuspitzen. Soziale Kämpfe in der Krise« in express, Nr. 9 und 10-11/2010 zeigt ein Blick in US-amerikanische Debatten, wie dort über die Organisierung von Erwerbslosen und mögliche Verbindungen zur Occupy-Bewegung gedacht wird. Herzzerreißende Berichte von Leuten, die ihren Job verloren haben, überschwemmen das Internet. Sie verschaffen sich in der Politikberichterstattung Gehör und schallen uns aus den kommerziellen Medien entgegen. Die Gewerkschaften schlagen sich derweil noch mit der Frage herum, wie man die Erwerbslosen, darunter auch ehemalige Gewerkschaftsmitglieder, als politische Kraft organisieren soll. Zahlen des Arbeitsministeriums zufolge waren im Dezember 13,1 Mio. Menschen arbeitslos oder arbeitsuchend gemeldet, davon fast die Hälfte seit mehr als sechs Monaten. Weitere 8,1 Mio. arbeiteten unfreiwillig Teilzeit. Und 2,5 Mio. waren zu resigniert, um Arbeit zu suchen. Leider sind die Gewerkschaften nicht gut darin, diesen riesigen Pool zu organisieren, meint Tom Lewandowski, der 1975 von General Electric entlassen wurde und erst neun Jahre später wieder einen Job fand. Heute ist er als Vorsitzender des Northeast Indiana Central Labor Council in Fort Wayne in der Einrichtung verantwortlich für regelmäßige Untersuchungen über die Situation erwerbsloser ArbeiterInnen sowie dafür, die Wirtschaftsförderung im Auge zu behalten (siehe weiter unten) und vom zuständigen Arbeitsamt Rechenschaft über die Entlassenen zu verlangen, die sich in seinem System zurechtfinden müssen. Keine Schande Ortsverbände von Jobs with Justice haben mit der Organisierung von Erwerbslosen experimentiert. Die Ergebnisse sind allerdings frustrierend, wie AktivistInnen vor kurzem auf einer Konferenz berichteten. Der Versuch, mit »Erwerbslosigkeit« eine Gruppenidentität aufzubauen wie etwa mit Rasse oder Geschlecht, habe nicht funktioniert, sagen sie. »Wie soll man Erwerbslose organisieren, wenn die Leute sich selbst nicht als Arbeitslose sehen wollen?«, fragt Susan Hurley, leitende Direktorin von Jobs with Justice Chicago. Hurley versucht zu vermitteln, dass Arbeitslosigkeit keine Schande ist: »Wenn jemand aktuell keinen Job hat, sind strukturelle Probleme unserer Ökonomie dafür verantwortlich, nicht persönliches Versagen – 14 Mio. Leute können nicht alle selber Schuld haben.« Die Gruppe hat ein Zentrum eingerichtet, das Unemployed Action Center. Während seiner wöchentlichen Öffnungszeiten bietet es Computernutzung an sowie Planungstreffen für Aktionen und kostenloses Mittagessen. »Isolation und Scham machen uns zu schaffen«, sagt die entlassene Chicagoer Elektrikerin Carole Ramsden, »denn vor allem als Gewerkschaftsmitglied ist man ja sehr stolz darauf, in seinem Beruf zu arbeiten, und mit diesem Stolz ist es dann von einem Tag auf den anderen vorbei«. Als sie vor drei Jahren entlassen wurde, standen 2000 Mitglieder ihres Locals vor ihr auf der Job-Warteliste. Einige Gewerkschaften versuchen, entlassene Mitglieder zu unterstützen. So haben etwa die Transport Workers in New York City dafür gestimmt, sechs Monate lang jeweils fünf US-Dollar zusätzlich zu zahlen, um die Krankenversicherung für erwerbslose Mitglieder aufrecht zu erhalten. Viele von den Betroffenen sind inzwischen wieder in Arbeit. Ein Local der Sheet Metal Workers in Philadelphia hat für eine Reihe von zusätzlichen Leistungen für erwerbslos gewordene Mitglieder gestimmt. Im April 2011 sprach sich eine überwältigende Mehrheit dafür aus, zusätzlich 50 Cent pro Arbeitsstunde aus ihrem Sozialfonds für die Unterstützung derjenigen umzuwidmen, deren Erwerbslosenunterstützung ausgelaufen war. In Verbindung bleiben In Baubranchen wie der Blechverarbeitung etwa sind erwerbslose Beschäftigte immer noch zahlende Mitglieder und können mit ihrer Gewerkschaft Verbindung halten, an Treffen teilnehmen und sich mit Weiterbildungsprogrammen auf dem Stand halten. Entlassene Gewerkschaftsmitglieder aus anderen Branchen sind dagegen schwerer im Auge zu behalten. Die Chicago Federation of Labor hat Jobs with Justice mit Mitgliederlisten aus Fabriken versorgt, die von Massenentlassungen betroffen waren, berichtet Carole Ramsden. Laut Latoya Egwuekwe von der Mechanikergewerkschaft IAM hatten im Januar 2010 landesweit 35000 Mitglieder keine Jobs. Daraufhin richtete die Gewerkschaft eine Webseite zur Vernetzung von Erwerbslosen untereinander ein, die sie Ur Union of Unemployed (»UCubed«) nannte. 14 Monate später hatten sich dort 4000 Leute angemeldet. Die Webseite sollte eigentlich dazu dienen, Erwerbslose persönlich miteinander in Kontakt zu bringen. Bisher werden von dort allerdings hauptsächlich per Email Anfragen und Aufrufe an Politiker versandt. Die kommunale AFL-CIO-Mitgliedsgewerkschaft Working America hat 2009 eine ähnliche Vernetzungsseite namens Unemployment Lifeline eingerichtet und zum Tag der Arbeit 2011 die Aktion »America Wants to Work« (Amerika will arbeiten) gestartet, um den Jobs Act zu unterstützen, eine Gesetzesinitiative der Obama-Regierung zur Schaffung von Arbeitsplätzen. Herausgekommen sind vor allem Postkartenaktionen und Online-Petitionen an Politiker. Es sind daraus aber auch, z.B. auf Initiative von New Mexico Wants to Work, Organizing-Treffen entstanden. »Du kannst die Erwerbslosen aber nicht aus der Ferne organisieren«, sagt Tom Lewandowski über die vielen Netzwerke, die zu diesem Zweck im Internet eingerichtet wurden. Den Zahlen ein Gesicht geben Jeweils am ersten Freitag im Monat, wenn der Bericht des Arbeitsministeriums mit den Beschäftigtenzahlen herauskommt, demonstrieren Mitglieder des Unemployed Action Center in Chicago. Die Presse berichtet viel darüber, denn ihre farbenfrohen Schilder und persönlichen Geschichten sind interessanter als die trockenen Arbeitslosenzahlen. Diesem Beispiel folgend, hat Jobs with Justice in Atlanta in den letzten drei Monaten des Jahres 2011 Pressekonferenzen abgehalten und damit auf Georgias miserables Abschneiden in der landesweiten Beschäftigtenstatistik aufmerksam gemacht. Darüber hinaus haben sie ein Gesetzesvorhaben des Bundesstaates bekämpft, das die Arbeitslosenbezüge um 30 Dollar in der Woche reduzieren und die Erwerbslosen zwingen würde, 24 Stunden in der Woche als »Freiwillige« zu arbeiten, berichtet Charmaine Davis von Jobs with Justice Atlanta. Dennoch sind sich die AktivistInnen einig: Es ist schwer, Leute, die akut mit den Folgen von Kündigung bedroht sind, davon zu überzeugen, dass politische Aktivitäten die Mühe wert sind. Carole Ramsden drückt es so aus: »Wenn Du arbeitslos bist, musst Du etwas tun. Gleichzeitig musst Du Dich aber um Dein Überleben kümmern.« Sich für gesetzliche Initiativen zur Beschäftigungspolitik in Washington einzusetzen, mag vielleicht als zu weit weg vom eigenen Alltag erscheinen. Andererseits helfen Computernutzung und Bewerbungstrainings, die von vielen Erwerbslosenprojekten angeboten werden, den ArbeiterInnen lediglich dabei, mit anderen ArbeiterInnen um die knappen Arbeitsplätze zu konkurrieren. Der Betrug mit der Wirtschaftsförderung »Wenn wir ›Arbeitsplätze‹ sagen, dann sagt die Unternehmerklasse ›Wirtschaftsförderung‹«, sagt Tom Lewandowski vom Northeast Indiana Central Labor Council. Er hingegen hält die Strategie der Regierung, Arbeitsplätze durch die riesige Subventionen für die Unternehmen schaffen zu wollen, für »ganz schön verlogen«. Die Erwerbsloseninitiative in Fort Wayne hat Fälle von Missbrauch entlarvt und die Beamten damit konfrontiert. Sie tut es damit der Organisation Good Jobs First in Washington D.C. nach, die aufdeckt, welche Klüngelgeschäfte in vielen Städten und Bundesstaaten als Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen durchgehen. Die Gruppe aus Indiana fand heraus, dass die Wirtschaftsförderungsbehörde des Bundesstaates ihre Erfolge bei der Schaffung von Arbeitsplätzen regelmäßig übertreibt. Wenn z.B. ein Unternehmen behauptet hatte, es werde Leute in Vollzeit zu 15 US-Dollar in der Stunde einstellen, fanden Mitglieder der Gruppe bei ihren Recherchen befristete Jobs zum Mindestlohn vor – oder auch leere Kornfelder, die für die »Schaffung von Arbeitsplätzen« Steuererleichterungen einbrachten. Sie gaben die Information an einen TV-Sender in Indianapolis weiter, der damit eine preisgekrönte Dokumentation produzierte. Staatliche Subventionen gehen sogar an Unternehmen, die gewerkschaftlich organisierte Jobs untergraben. So berichtet Gayle Goodrich, Leistungsreferentin der Auto Workers bei Navistar in Fort Wayne, dass Beschäftigte nach Entlassungen im Jahr 2007 vom Arbeitsamt in ihre eigene Fabrik zurückgeschickt wurden – als Beschäftigte eines anderen Unternehmens mit weniger Lohn und ohne Sozialleistungen. Es stellte sich heraus, dass diese Firma Subventionen aus der Wirtschaftsförderung erhalten hatte. Im Dezember wurde die Fabrik geschlossen. Die Gewerkschaft erkämpfte sieben Mio. US-Dollar für Weiterbildungsmaßnahmen und Vermittlungshilfen für 400 entlassene Beschäftigte von Navistar, nachdem sie hatte nachweisen können, dass viele ihrer Arbeitsplätze nach Übersee verlagert worden waren – nicht nach Illinois, wie das Unternehmen behauptet hatte. Diskriminierung Lokale Kampagnen zur Erwerbslosigkeit schwenken oft auf einen besser handhabbaren und vertrauteren Kampf ein: den Kampf gegen Diskriminierung bei der Einstellung. Ein am 1. Dezember 2011 veröffentlichter Bericht der Organisation USAction der Partei der Demokraten präsentierte 700 Geschichten von Arbeitslosen, um Druck auf den Kongress zu machen, Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen in die Hand zu nehmen und die Unterstützung für Arbeitslose auszuweiten. Über Diskriminierung aus Altersgründen berichteten Dutzende TeilnehmerInnen, ebenso wie über Diskriminierung einfach aufgrund der Arbeitslosigkeit. So berichtet eine 61-Jährige in Pinellas Park, Florida: »Es gibt keine Einstiege in den Arbeitsmarkt für ältere Frauen, wenn so viele Leute verfügbar sind, um Arbeiten auf Einstiegsniveau zu verrichten.« Der Bericht stellt jedoch auch fest, dass High School- und College-AbgängerIn-nen keine Jobs finden. Kalifornien hat ein Gesetz gegen die Diskriminierung arbeitsloser BewerberInnen eingeführt, und in New Jersey verbietet ein Gesetz neuerdings Stellenanzeigen »nur für Bewerber in Beschäftigung«. Die Hotelgewerkschaft UNITE HERE hat sich mit Bürgerrechtsgruppen und der National Organization for Women gegen die Firma TransUnion zusammengetan. Diese verkauft Kreditberichte an Arbeitgeber und schafft damit eine Zwickmühle für Leute, die wieder auf die Füße kommen wollen. Die Gruppen sagen, dass diese Praxis überproportional Afroamerikaner, Latinos und Frauen trifft – und alle, die keinen Job haben. In Atlanta brachte eine von Jobs with Justice organisierte Aussprache von Erwerbslosen Diskriminierung gegen ehemalige Gefängnisinsassen ans Tageslicht. Laut Charmaine Davis beträgt die Arbeitslosenquote bei dieser Gruppe in Atlanta 25 Prozent. Jobs with Justice hat es daher einer unter dem Titel »Ban the box« in Massachusetts erfolgreichen Kampagne nachgetan. Das Ankreuzkästchen im Bewerbungsformular, mit dem Ex-Häftlinge ihren Status preisgeben müssen, bedeutet für die Betroffenen, dass sie es häufig nicht mal bis zum Vorstellungsgespräch schaffen. Wenn sie hingegen erst mal einen Fuß in der Tür haben und ihre Situation erklären können, steigen ihre Chancen für eine Einstellung drastisch, sagt Davis. Die Betroffenen haben in Atlanta eine energische Ban-the-box-Kampagne organisiert, während ein eher allgemeines Erwerbslosen-Organizing nicht viel Schubkraft entfaltet hat. »Organizing geht leichter entlang konkreter Themen als von größeren Problemzusammenhängen«, fasst Davis ihre Erfahrungen zusammen. »Der Arbeitsplatzmangel ist ein riesiges Problem. Dazu tragen so viele Faktoren bei. Besser geht es, wenn man sagt: ‚Diese Gruppe ist besonders von Erwerbslosigkeit betroffen, und daran ist Diskriminierung schuld’ – denn dann kann man versuchen, konkret etwas daran zu ändern.« Vertretungspflicht Nach Ansicht von Tom Lewandowskis sollten die Interessenvertretungen der Arbeiterbewegung sich auch als Vertreter erwerbsloser ArbeiterInnen sehen und diese konsultieren, wie das eine Gewerkschaft im Vorfeld von Tarifverhandlungen normalerweise tun würde. Seine Initiative verteilt Fragebögen bei Essens-Tafeln, in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Arbeitsämtern. Beschwerden über das Arbeitsamt, die sich bei den vorangegangenen Befragungen herauskristallisiert haben, haben letztes Jahr zu einem Treffen zwischen Erwerbslosen und Direktoren des Amtes geführt. Die Erwerbslosen konfrontierten sie mit Klagen über den beschwerlichen Ämtermarathon und die mangelhaften Informationen zur Weiterbildungsförderung. Vor Kurzem sind Mitglieder von Occupy Fort Wayne mit dem aktuellen Fragebogen in den Bussen unterwegs gewesen. Sie haben den Erwerbslosen zugehört, Gespräche über die Wirtschaft begonnen und Interessierten die Occupy-Bewegung erklärt. »Wenn Du erst einmal die Geschichte von jemandem gehört hast«, sagt Lewandowski, »dann musst du ihn auch vertreten.« Aus: Labor Notes, Februar 2012, Übersetzung: Anne Scheidhauer, TIE-Bildungswerk e.V. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/12 |