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Updated: 18.12.2012 15:51
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Thesen zur gewerkschaftlichen Erneuerung (*)

Aufgrund der deutlich unterschiedlichen Problemlagen der verschiedenen Gewerkschaftstraditionen sowie den teils stark voneinander abweichenden Positionen der berücksichtigten Autoren können sicherlich sehr unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden. Wir wollen hier dennoch den Versuch unternehmen, mittels einiger Impulsthesen, gebildet auf der Grundlage der Arbeit an diesem Buch, zur Erneuerungsdiskussion der deutschen Gewerkschaften beizutragen. Die zentrale Fragestellung lautet: Wie kommen die Gewerkschaften von der Defensive wieder in die Offensive? Wie muss die Union Renewal , die gewerkschaftliche Erneuerung, aussehen? Wir hoffen hiermit einen Beitrag zur Belebung der Debatte über die notwendigen Strategien zur gewerkschaftlichen Zukunftssicherung zu leisten und laden mit den folgenden Thesen zur Diskussion ein.

1. Organisationsentwicklung und Mitgliedergewinnung

Auf eine systematische Organisationsentwicklung und Mitgliedergewinnung, unter Berücksichtigung von erprobten Organizingkonzepten, kann in Zukunft nicht mehr verzichtet werden. Dies gilt sowohl für die Verteidigung der traditionellen Hochburgen gewerkschaftlichen Einflusses als auch für die zunehmenden Gewerkschaftswüsten.

2. Personengruppen – Frauen, Migranten, Jugend

Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund (jeder fünfte Einwohner in Deutschland) und Jugendliche bilden ein oft noch ungenutztes Organisationspotenzial. Sie bilden schon heute die größte neu zu erschließende Mitgliederressource. Die gewerkschaftliche Performance verbleibt hier massiv hinter ihren Möglichkeiten zurück. Mit einer überlegten und zielgerichteten Organisationspolitik, die die besonderen Bedürfnisse dieser Personengruppen berücksichtigt, sind deutliche Mitgliederzuwächse zu erzielen und neue Aktive zu gewinnen.

3. Prekäre Beschäftigte

Die vordringliche Einbeziehung von prekär Beschäftigten (Teilzeit, Niedriglohnsektoren) und Arbeitslosen in die Gewerkschaften als solidarische Kampfgemeinschaften aller Lohnabhängigen ist eine unabdingbare Aufgabe, aber auch eine zentrale Erneuerungsquelle.

Eine Beschränkung auf die gut organisierten Kernbereiche verweist die Gewerkschaften auf eine tendenziell schwindende Nischenexistenz innerhalb einer zunehmend von prekärer Beschäftigung geprägten Arbeitswelt. Eine so kontinuierlich abschmelzende Gewerkschaftsbewegung wäre auch politisch weitestgehend bedeutungslos.

4. Mitgliedernähe und innergewerkschaftliche Demokratie

Die Gewerkschaften müssen deutlicher die Mitgliedernähe suchen. Interventionsfähige Gewerkschaften brauchen ein verstärktes ehrenamtliches Engagement, welches sich nur in demokratisierten Strukturen nachhaltig entwickeln kann. Eine zunehmende Bürokratisierung steht dem ebenso entgegen wie die vornehmliche Zurichtung der Gewerkschaften zum bloßen Servicelieferanten à la ADAC.

5. Politisierung und gesellschaftliches Emanzipationsprojekt

Die Gewerkschaften müssen sich selbst und ihre Mitglieder wieder stärker politisieren. Dazu gehört sowohl die Perspektive eines eigenständigen Projektes gesellschaftlicher Emanzipation und ihrer Verankerung über aktive Bildungsarbeit als auch die möglichst breite Einbeziehung der Mitglieder auf allen Ebenen. Bildungsarbeit darf dabei keine Dienstleistung, sondern muss eine Kernaufgabe sein, welche Aufklärung, Alternativdebatten und Mobilisierungen befördert. Beschlüsse, Kampagnen oder Tarifabschlüsse dürfen nicht mehr „vom Himmel fallen“. Eine Orientierung auf Aktionen und aktive Konfliktbearbeitung, auch außerhalb von Tarifrunden, ist für die gewerkschaftliche Identifikation und die Politisierung der Mitglieder eine unabdingbare Vorrausetzung.

6. Gegenmacht und Kooperation

Im realexistierenden Kapitalismus müssen die Gewerkschaften immer auch kooperations- und kompromissfähig sein. Verhandlungsmacht setzt jedoch die Generierung von autonomer Gegenmacht zum Kapital voraus. Ohne diese bleibt den Gewerkschaften nur die Rolle eines wenig erfolgreichen „kollektiven Bettlers“.

Überkommenen sozialpartnerschaftlichen Strategien fehlt zunehmend der kooperationswillige Partner auf der Kapitalseite. Wo diese Vorstellung ohne realistische Grundlage weiter aufrechterhalten wird, erweist sie sich im Konfliktfall nicht selten als Illusion. Die auf den Konfrontationskurs des Kapitals unvorbereiteten Beschäftigten und ihre Interessensvertreter reagieren nicht selten hilflos und passiv. Die Schwächung der gewerkschaftlichen Interventionsfähigkeit ist die Folge. Die Bedeutung von Gegenmacht droht durch die Orientierung an betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten auch bei Gewerkschaftern und Betriebsräten verdrängt zu werden. Hier müssen die Gewerkschaften aktiv gegenwirken.

7. Solidaritätsverständnis

Der zunehmenden gesellschaftlichen Aufspaltung und Ausgrenzung entsprechend der kapitalistischen Konkurrenzlogik müssen die Gewerkschaften den Anspruch auf ein solidarisches Leben miteinander entgegensetzen. Dies bedeutet auch, sich dem Ausspielen gegeneinander von Belegschaften, Standorten, Hoch- und Niedriglohnsektoren, Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft etc. zu widersetzen. Beispielsweise muss die vorherrschende Tendenz der entsolidarisierenden Verbetrieblichung der Arbeitsbeziehungen, welche die Gewerkschaften letztlich in ihrem Bestand gefährdet, durch die Durchsetzung von überbetrieblichen, überörtlichen und branchen- bzw. berufsübergreifenden Standards bekämpft werden.

Die Überwindung der zunehmenden Spaltung in Kern- und Randbelegschaften muss, schon um der eigenen gewerkschaftlichen Handlungsfähigkeit willen, ein prioritäres Thema sein.

8. Fusionen und Neugründungen

Den in Deutschland vollzogenen gewerkschaftlichen Zusammenschlüssen droht eine zunehmende Fragmentierung durch Separierungen einzelner Berufs- und Interessensgruppen zu folgen. In der Konsequenz käme es zu Abspaltungen bzw. Neugründungen von korporativen Verbänden. Den diesen Bestrebungen zugrunde liegenden Konzepten exklusiver Solidarität innerhalb relativ gut qualifizierter und materiell privilegierter Beschäftigtengruppen dürfen die Gewerkschaften nicht entgegenkommen, wollen sie sich nicht schrittweise selbst zerlegen. Dem entgegengesetzt muss eine solidarische Vernetzung von Tarifauseinandersetzungen und Arbeitskämpfen gewollt und organisiert werden.

9. Wissenschaft

Eine stärkere wissenschaftliche Grundierung von gewerkschaftlichen Strategieansätzen ist notwendig und muss die immer komplexeren Strukturen in Ökonomie und Politik bearbeiten. Die nachlassende gewerkschaftliche Verankerung unter Wissenschaftlern muss wieder gestärkt werden.

10. Bündnisse

Die Gewerkschaften müssen verstärkt mit anderen sozialen Bewegungen national und international zusammenarbeiten, wie bei den Sozialforen und der Lidl-Kampagne beispielgebend geschehen. Dies setzt voraus, sich gegenseitig als gleichberechtigte Partner ernst zu nehmen. Gefordert ist die Bereitschaft, voneinander zu lernen. Eine solche Zusammenarbeit wird die Durchsetzungsfähigkeit verbessern, aber auch auf Politik und Kultur der Gewerkschaften einen erneuernden und belebenden Einfluss haben.

Über die sozialen Bewegungen vermitteln sich den Gewerkschaften dabei nicht zuletzt auch neue Durchsetzungsstrategien (z.B. Kampagnentechniken), auf die diese zunehmend als Ergänzung zu herkömmlichen Kampfmitteln angewiesen sind.

11. Staat und Politik

Das Verhältnis zu Staat und Parteien wird in der Regel kein privilegiertes mehr sein. Nach der Aufkündigung der historischen Partnerschaft durch die Sozialdemokratie, müssen die Gewerkschaften sich offen, flexibel und aktiv gegenüber den politischen Kräften bewegen. Punktuelle Bündnisse sind nach Maßgabe der Stärkung des Gegenmachtpotenzials zum Kapital zu schließen.

12. Europa

Der europäische Integrationsprozess stellt eine Chance für die gewerkschaftliche Erneuerung dar. Voraussetzung ist eine Orientierung gegen die vorherrschende neoliberale Ideologie. Es gilt, für einen alternativen Entwicklungspfad, die Reregulierung und die Harmonisierung von sozialen Standards auf dem höchsten europäischen Niveau zu mobilisieren. Besonders anschlussfähig scheint uns der Kampf gegen die fortschreitende Flexibilisierung der sozialen Sicherung, wie sie sich hinter den Konzepten der Flexicurity verbergen sowie für eine Steigerung öffentlicher Ausgaben im Sozialsektor. Die Einführung eines Systems europaweiter, armutsfester Mindestlöhne ist zu diskutieren. Zentral muss eine europaweite Kampagne gegen die Enteignung von Lebensarbeitsleistung durch Rentenkürzungen und Lebensarbeitszeitverlängerungen stehen. Die Verteidigung der öffentlichen Rentensicherungssysteme gegen den Zugriff der Kapitalmärkte kann eine hohes Mobilisierungspotenzial erschließen und die Gewerkschaften gesellschaftspolitisch auf europäischer Ebene interventionsfähig werden lassen.

13. Internationalisierung

Die Gewerkschaften müssen sich sehr viel stärker internationalisieren. Es reicht nicht festzustellen, dass die internationalen Strukturen und Vernetzungen völlig unzureichend ausgebildet sind: Sie sind oft in geradezu grotesker Weise nicht vorhanden. Der „globalisierten“ Realität tragen die Gewerkschaften mit ihren weitgehend defensiven Reaktionsmustern und dem Verharren auf der nationalen Ebene kaum Rechnung. Direkter Austausch, über die Koordination von Euro- und Weltbetriebsräten hinaus bis hin zur Ebene der aktiven Mitglieder, ist machbar und sinnvoll. Nötig sind zudem international vernetzte Kampagnen und Arbeitskämpfe, wie sie mittlerweile im Transportsektor erfolgreich geführt werden (Hafenarbeiter). Ganz zentral steht für die ehren- und hauptamtlichen Funktionäre die Erlangung von Sprachkompetenz. Sie ist die Grundvoraussetzung für die notwendige internationale gewerkschaftliche Kooperation in einer „globalisierten“ Welt.

Die Redaktion des LabourNet Germany freut sich auf Diskussionsbeiträge zu diesen Thesen!

Anm: Diese Thesen sind entnommen aus:

Union Renewal - Gewerkschaften in Veränderung

Texte aus der aktuellen internationalen Gewerkschaftsforschung. Buch, herausgegeben von Juri Hälker und Claudius Vellay, erschienen in der Reihe edition der Hans-Böckler-Stiftung Ende September 2006 (ISBN: 978-3-86593-058-3, 272 Seiten, Preis: 19,00 EUR). Siehe dazu:


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