letzte Änderung am 11. Sept. 2003 | |
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Der Verlag stellt Peter Vollmer und seinen autobiographischen Bericht über seine Fabrikarbeit als Verseiler, politischer Organisator und Betriebsrat mit den Worten vor: »Die beiden Jahre bei Winckler (der Name wurde geändert) sind ein Ausschnitt aus Vollmers Leben, der als Unternehmersohn geboren in der väterlichen Druckerei zum Offsetdrucker und Kaufmann ausgebildet wurde, diese aber nach fünf Jahren verließ, weil er gegen seinen konservativen und willensstarken Patriarchen-Vater keine Belegschaftsbeteiligung durchsetzen konnte. Nach vollendetem Studium entschloss sich Vollmer aus politischen Erwägungen, als Arbeiter in die Fabrik zu gehen. Er wollte nicht den Marsch durch die Institutionen à la Fischer und Trittin antreten, sondern den Marsch durch die Betriebe mit und auf der Seite der Arbeiterklasse. Das Buch schildert eindringlich die Arbeitsprozesse in einem Berliner Kabelwerk, wie wenig Demokratie dort herrscht und unter welch schwierigen Bedingungen es dennoch gelingt, eine eigene Kandidatenliste aufzustellen und drei Sitze im Betriebsrat zu erobern; aber auch gleichzeitig, welche Energie die Geschäftsleitung aufbietet, um diesen unbequemen Mitarbeiter loszuwerden.«
Für Linke bietet Vollmers Buch mehr: aufregenden Diskussionsstoff, Anlass zur Aufarbeitung unserer Kämpfe in den 70ern, die Chance, aus Fehlern wichtige Lehren für die Zukunft zu ziehen.
Sein erstes Ziel, »detailliert Einblick zu geben in den betrieblichen Alltag einer Fabrik« (S.12), hat Peter Vollmer mit einer spannenden, minutiösen Beschreibung der alltäglichen Herausforderungen und Stimmungen der miteinander (und gegeneinander) handelnden Akteure in der Fabrik erreicht. Eine Leseprobe: »Der nächste Tag war weniger erfreulich. Meister Klotz hatte sich ausgerechnet, dass ich die dreckige Armiermaschine wohl in zwei Wochen beherrschen würde. Das wäre gerade rechtzeitig, um den Kollegen Alfred im Urlaub abzulösen. Eigentlich sind sechs Wochen Anlernzeit dafür vorgesehen. Ich habe im Stillen ganz schön geflucht, als der Meister mir das eröffnete. Alfred war ein flinker Arbeiter. Er beherrschte die Maschine aus dem FF. Er hatte eine Menge Tricks auf Lager. Bereitwillig erklärte er mir, wie man das Ding in den Griff bekommt. Das Wichtigste war die Sauberkeit, obwohl die Maschine überall mit erkaltetem Teer überzogen war. Man durfte keinen heißen Teer an die sauberen Handschuhe bekommen, sonst schmierte man alles damit voll. Das klebte wie die Pest. Es gab ein zweites Paar schmutzige Handschuhe, mit denen man die Nippel in den Teerkochern auswechseln konnte. Beide Paare musste man konsequent von einander getrennt halten. Und man musste auf der Hut sein, dass man keinen heißen Teer auf die Haut bekam. Da half dann nur eins: ganz schnell mit kaltem Petroleum aus dem Werkzeugwaschbecken abwaschen. Die Maschine war mindestens dreißig Meter lang. Das Kabel lief durch viele Stationen. Zuerst wurde es mit Kreppband umwickelt. Dann lief es durch einen Teerkocher. Darüber wurden zwei Lagen vorgeteertes Bandeisen gewickelt. Dann gings wieder durch einen Teerkocher. Und zum Schluss wurde das Kabel mit hauchdünner Klarsichtfolie sozusagen eingewickelt. Am Anfang und am Ende war das Kabel sauber, wenn nicht zwischendurch irgendetwas schief ging. Und dazu gab es viele Möglichkeiten. Früher hatten an dieser Maschine drei Kollegen gearbeitet. Bei derselben Tagesleistung. Die wurden einer nach dem anderen abgeschafft. Jetzt wurde nur noch einer bezahlt. Das hatte Winckler ganz schön schlau angestellt. Immer, wenn mal einer krank war, hieß es: Heute müsst ihr mal zu Zweit arbeiten. Es macht nichts, wenn weniger geschafft wird. Dann standen plötzlich für immer nur noch zwei Mann zur Verfügung. So wurde schleichend der Zwei-Mann-Betrieb eingeführt. Das konnte ich mir gerade noch vorstellen. Aber einer alleine? Da sprang man ja im Quadrat. Es war doch gar nicht möglich, überall gleichzeitig zu sein und aufzupassen. Wie war es denn überhaupt zum Ein-Mann-Betrieb gekommen? Genau so. Die hatten vor allem türkische Kollegen angelernt. Denn diese schmutzige Arbeit macht ja keiner gerne. Nun fehlte auch immer mal wieder der zweite Mann. Dann wurde der eine aufgefordert, es alleine zu versuchen. Alfred hätte sich das nicht gefallen lassen. Aber mit den Türken konnten sie es machen. Die hatten ja nicht nur Angst um ihren Arbeitsplatz, sondern mussten noch um ihre Aufenthaltserlaubnis bangen...« (S.46f.)
Solidarität und Konkurrenz im Arbeitsprozess, Produzentenstolz und Faszination, komplizierte Maschinen zu beherrschen, vom Eigner doch wieder genutzt zu verschärfter Leistungsauspressung, ebenso wie er die be-sondere Lage der ausländischen KollegInnen missbraucht, so wie generell die Angst vor Arbeitsplatzverlust Vollmer lenkt den Blick auf die Konstitution von Bewusstsein und Verhalten durch den kapitalistischen Arbeitsalltag, der heute genauso unter die Lupe genommen werden müsste, um die veränderten Formen von Würde und Entwürdigung durch Lohnarbeit zu erfassen. Die Situation in der Familie und die Auseinandersetzungen im Wohnviertel bezieht Peter Vollmer als wesentlichen Teil des Alltagslebens in seinen Bericht ein.
Mit der Verfolgung seines zweiten Ziels, zu verdeutlichen, »wie wenig Spielraum für Demokratie in einem solchen Betrieb vorhanden ist bzw. von oben zugelassen wird« (S.13), gibt uns Peter Vollmer ein Lehrstück über die Situation kritischer Individuen oder Gruppen in einem Industriebetrieb damals ohne weiteres auch hilfreich zum Verständnis der Lage kritischer Aktivisten heute, zum Beispiel im Hinblick auf die Situation der Oppositionellen bei DaimlerChrysler in Kassel oder Stuttgart.
Die Allianz von Geschäftsleitung und Betriebsratsvorstand, mit Rückendeckung der örtlichen IG Metall »In Berlin wurden in dieser Zeit mehr als 100 Kolleginnen und Kollegen aus der IGM ausgeschlossen« (S.26) wird als peinlicher bis widerlicher Bestandteil des Fabriklebens erfahrbar. Bezeichnend die Schilderung, wie dem Betriebsratschef auf einer Belegschaftsversammlung das »Du« gegenüber seinem Geschäftsleiter rausrutscht (S.92) , aber auch als knallharte Existenzbedrohung gegen die widerspenstigen Arbeiter. »Der BR-Vorsitzende wurde ärgerlich und nahm eine drohende Haltung ein. Ob ich wüsste, dass die IGM von ihm verlangt hätte, er solle meine Kündigung bei der Geschäftsleitung veranlassen?« (S.147)
Schließlich möchte ich zeigen, wie schnell und in welchem Umfang engagierte Akteure hier dennoch Einfluss auf das Geschehen gewinnen und so einiges bewegen können.« (S.13) Mit dieser sehr allgemeinen Definition seines dritten Ziels fordert Peter Vollmer kritische LeserInnen eher dazu heraus, zwischen den Zeilen zu lesen, um mehr aus den geschilderten Erfahrungen lernen zu können. Spannend wird der knallharte Kampf um die Betriebsratswahl bis zum glorreichen Wahlerfolg von 40 Prozent der Stimmen nacherzählt. (Beim trockenen Bericht über die nachfolgenden Arbeitsgerichtsverfahren muss man vielleicht ein Fläschchen Bier dabei haben...)
Doch warum Peter Vollmer das Ziel, für das er in den Betrieb gegangen war »der Aufbau und die Organisierung einer Betriebsgruppe der RGO« (S.15) nicht erreicht hat, bleibt der eigenen Interpretation spärlicher Erwähnungen der RGO-Praxis (»Ich war der einzige Kollege aus dem Kabelwerk Winckler, der zu diesen Treffen ging«, S.94) und der RGO-Dokumente in der Einleitung und im Anhang überlassen. Dass »das Scheitern des RGO-Konzepts praktisch von Anfang an vorprogrammiert gewesen ist ... wegen falscher linkssektiererischer politischer Vorstellungen über die Lage in der BRD im allgemeinen, der Gewerkschaftsbewegung im besonderen«, auch diese aus der Sozialistischen Zeitung vom Februar 1987 zitierte Passage (S.16) gibt wenig Hilfestellung, anhand von Peter Vollmers Bericht über seine Betriebsarbeit das Scheitern des RGO-Konzepts besser verstehen zu können. Ein RGO-Dokument aus dem Anhang schließt mit der Passage: »Als in der Garderobe ein deutscher Kollege einem türkischen über die Verhältnisse im sozialistischen Albanien berichten will, verstand der Türke zuerst nicht. Dann aber sagte er: Ah ja, Albanien, sehr gut. Enver Hoxha, Direktor und Arbeiter dasselbe Geld. Damit traf er kurz und knapp den Kern der Sache...«
Mit solchem Flachsinn haben in den 70ern wohl nicht nur RGO-GenossInnen den Kern der Sache verpasst. Die Vorstellung einer anderen Gesellschaftsordnung blieb unattraktiv, weil auf Begriffe wie »Sozialismus« beschränkt, mit beschränkten Versuchen der Konkretisierung.
Praktisch blieb die Kritik der Verhältnisse beim aufopferungsvollen Einsatz für »mehr« Demokratie hängen, ohne die systembedingte Begrenztheit von »Demokratie« im Betrieb wie außerhalb erfassbar und für die Entwicklung der Kämpfe nutzbar machen zu können. Das hätten wir heutzutage genauso zu problematisieren.
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