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Updated: 18.12.2012 15:51
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Entdeckungsreisen ins Innere eines Kontinents

ArbeiterInnenklasse, "revolutionäres Subjekt" und Operaismus

Seit einiger Zeit erlebt er ein ebenso ungeahntes wie schillerndes Revival: der Operaismus, jener Theorie-Import aus Italien, der von seinen Anfängen bis hin zum "Post-Operaismus" von Toni Negri und Michael Hardt so vielfältige wie verwirrende Wendungen genommen hat (vgl. ak 464). Aber welche Relevanz hat dieser dissidente Marxismus mit seinem radikal neuen Verständnis von "Klasse", Klassenkampf und kapitalistischer Entwicklung? Was ist geblieben von der "militanten Untersuchung" und dem operaistischen Feminismus? Einige Schlaglichter von Martin Dieckmann, Beverly Silver, Peter Birke und Mariarosa Dalla Costa.

Klassenzusammensetzung - revolutionäre Initiative - Massenarbeiter: Mit dieser heilig-unheiligen Trias ist der Operaismus von Beginn an behaftet. Sie beinhaltet seine Stärken wie seine Verkürzungen gleichermaßen.

Was später Operaismus genannt wurde, entstand im historischen Kontext einer "Krise des Marxismus", die in den 1950er und frühen 1960er Jahren in mehrfacher Hinsicht manifest wurde: zum einen als Krise der offiziellen kommunistischen Politik wie der institutionalisierten ArbeiterInnenbewegung insgesamt, die alles andere als auf der Höhe der Zeit war, wenn es um die Kenntnis des heute so genannten fordistischen Entwicklungstyps des Kapitalismus ging. Zum zweiten aber auch als Krise der "Arbeiterklasse" - jedenfalls jener politischen und sozialen Klassenformation, als deren Vermittlungsinstanz Parteien und Gewerkschaften auftraten. Kurz: Der "Marxismus" schien die Klasse nicht mehr zu kennen. Die gewaltigen, durch Modernisierungsschübe vorangetriebenen Neuzusammensetzungsprozesse und spürbare Veränderungen in Gestalt einer neuen ArbeiterInnengeneration hinterließen ein regelrechtes Brachland - unerreicht und zunächst auch unerreichbar für die traditionelle ArbeiterInnenpolitik.

Dieses Phänomen war nicht auf Italien beschränkt, nahm dort aber am deutlichsten Gestalt an. Exemplarisch wie symptomatisch hierfür waren die Revolten, Aktionen und Kämpfe Anfang der 1960er Jahre. Der FIAT-Streik 1962 in Turin, eine regelrechte Aufstandsbewegung von 70.000 ArbeiterInnen, manifestierte den Beginn einer Phase neuer Bewegungen und Kämpfe: "Die Wahrheit ist, dass alle Beobachter einen neuen Arbeitertyp vor sich haben, der nicht mehr die Merkmale des alten Facharbeiters trägt, sondern die des neuen Fließbandarbeiters: sehr jung, dequalifiziert, erst vor kurzem zugewandert, in der Mitte zwischen Subproletariat und Einwanderer; eher ein Zugewanderter, der subproletarischer Arbeiter geworden ist." (1)

Diese eher soziologischen Zuschreibungen werden später der operaistischen Tradition an- wie nachhängen: Die Radikalität der operaistischen Kritik und Praxis verbinde sich sozial wie historisch einzig mit der Figur des "Massenarbeiters", den aus dem Mezzogiorno zugewanderten un- und angelernten ArbeiterInnen, im Gegensatz zur Facharbeit und das auf sie gestützte Institutionensystem der offiziellen Arbeiterbewegung. In der Tat bietet die operaistische Tradition durchaus Anlässe und Hinweise für eine solche Einordnung. Doch letztlich werden damit nur jene Kopfbewegungen nachvollzogen, worin sich radikale TheoretikerInnen immer wieder neue "Zentralfiguren" und "Subjekte" ausdenken.

Bedeutender dagegen ist die Antwort einer Gruppe von MarxistInnen auf die spezifische Krise des eigenen politisch-theoretischen Zusammenhangs. Wie anderswo auch beginnt der Weg aus dieser Krise zunächst mit einem Zurück - zurück zu Marx. Erstmals seit langem werden insbesondere die Texte zur Kritik der Politischen Ökonomie einer neuen Lektüre unterzogen. Die erstmalige Veröffentlichung der "Grundrisse" Anfang der 1950er Jahre hat hier mindestens ähnliche Folgen, wie sie seinerzeit in den 1920er Jahren die Erstveröffentlichung der so genannten marxschen Frühschriften hatte.

Das Subjekt in der Profitrate

In den Fokus gerät nunmehr der Produktionsprozess selbst, zuerst in der Abrechnung mit der flachen Version eines Produktivkraftbegriffs, der "Produktivkraft" einzig der Technik und der Arbeitsorganisation zuschreibt. Genau darin - an der technologischen und organisatorischen Gestaltung des Produktionsprozesses - macht hingegen die Kritik die Dominanz des kapitalistischen Produktionsverhältnisses fest. Heute erscheint das als Binsenweisheit, doch damals waren Aufsätze wie z.B. Panzieris "Über die kapitalistische Anwendung der Maschinerie im Spätkapitalismus" eine Provokation.

In den zu Recht legendär gewordenen Texten der Quaderni Rossi und Classe Operaia vollzieht sich eine doppelte Bewegung: zum einen die nachhaltige und tief greifende Neuformulierung des Verhältnisses von Klasse, Kampf und Kapital und zum anderen die - zunächst als empirisches Studium angelegte - Untersuchung der konkreten Kampffelder. Daraus erst, aus einem wie auch immer entstandenen, fortentwickelten oder stockenden Lernprozess entsteht eine neue Praxis der Theorie als Teil der eingreifenden, "militanten" Untersuchung, und zwar als Element von Selbstorganisierung.

Das Verhältnis von Klasse, Kampf und Kapital wird auf tatsächlich radikale Weise neuformuliert. Umfänglich und wohl am ehesten systematisch hat dies Mario Tronti entwickelt. (2) Während der traditionelle marxistische Diskurs immer auf ein Verhältnis abhob, worin die Klassen aus dem Kapitalverhältnis und der Klassenkampf aus den Klassen hervorgehen, dreht Tronti dies regelrecht um: Das Klassenverhältnis ist dem Kapitalverhältnis - historisch wie systematisch - vorausgesetzt und damit auch die Arbeiterklasse dem Kapital. Und es ist wesentlich die Arbeiterklasse, die auf Grund ihres Doppelcharakters die Kapitalbewegung bestimmt; ein Doppelcharakter, der darin besteht, dass sie immer zugleich "Nichtkapital" und "Kapital" ist. Außerhalb des Kapitals existieren die ArbeiterInnen zwar als Klasse, aber als Einzelne, während sie als gesellschaftliche Klasse nur im Inneren des Kapitals, als angewandte Arbeitskraft, fungieren.

Klassenkampf gegen sich selbst

Indem Tronti hier ein zentrales Thema des "Kapital" nicht nur berührt, sondern darin tief eindringt, ist auch die Kritik der Politischen Ökonomie völlig neu bestimmt: Sie bekommt ein "Subjekt", und es ist eben diese Entdeckung, die das radikal Neue ausmacht. Mehrwert- und Profitraten sind jetzt nicht bloß Indikatoren von Ausbeutungsverhältnissen, sondern Ergebnisse eines Kräfte- weil Kampfverhältnisses. Einsatz und Weigerung, Resistenz oder Passivität der Arbeitskraft sind bewegende Momente des Kapitalverhältnisses - und dies fortschreibend, wird man auch viele so genannte Kapitalstrategien (bis hin zu den zeitgenössischen Managementmodellen) als Reaktionen auf jenes Kräftefeld interpretieren können, das die produktiven Kooperationsbeziehungen der Arbeitenden herstellen.

Es ging aber nicht bloß um eine erweiterte Version von Kapitalismusanalyse, sondern um den Einsatz von Theorie in revolutionärer Perspektive. Darin nun leitet sich der "Kampf gegen die Arbeit" ganz anders her als bloß im kulturellen Muster von Arbeits- und Pflichtenethik einerseits und hedonistischer Lebensfröhlichkeit andererseits: Auf Grund ihres Doppelcharakters muss die "Klasse" letztlich den Kampf gegen das Kapital als Kampf gegen sich selbst - als "Klasse" - führen. So jedenfalls lautet die These. Natürlich waren zuallererst die "Massenarbeiter" der taylorisierten Fabrik dazu berufen, "mit der Arbeit Schluss zu machen", weil sie - weit entfernt von jeder Identifikation mit der Arbeit - den Arbeitsprozess nur als alltäglichen Terror von Maschinen gegen Menschen erleben konnten. Sicherlich werden bestimmte Gruppen jeweils zum "Paradigma" der allgemeinen Frontstellung zur Arbeit - doch reduziert sich die Trägerschaft jenes revolutionären Projektes nicht allein auf sie.

Für die OperaistInnen kann und muss die revolutionäre Strategie nur aus dem "Innern der Klasse" entwickelt werden. Es gibt sozusagen eine latente Strategie des Kampfes gegen die Arbeit und damit der Klasse gegen sich selbst. Um diese Strategie manifest zu machen, bedarf es allerdings anderer Praktiken und eines anderen Verständnisses von revolutionärer Praxis, als es die bisherige ArbeiterInnenbewegung kannte.

Dies wirft u.a. auch die Frage der Organisation neu auf, und die Antworten darauf machen aus dem Operaismus jenes schillernde Phänomen, das sich schon im Vorfeld der Explosionen von 1968/1969 teilweise in der "alten Partei" (der KPI) und den Gewerkschaften wieder findet. Aus der Sicht einer Bewegungsgeschichte handelt es sich hierbei um die historische Spaltung zwischen "Bewegungsoperaismus" einerseits und "Staatsoperaismus" andererseits. Etwas genauer betrachtet haben aber die frühen operaistischen Analysen das Problem schon auf einen ganz anderen, äußerst beweglichen Punkt gebracht: "Arbeitergebrauch" wird die zeitweilige (oder systematische?) Beanspruchung der offiziellen Instanzen der Arbeiterbewegung durch die ArbeiterInnen genannt. Hier entgleiten die Begriffe dem Leben und das Leben dem Begriff: Wer gebraucht wen, oder wer lässt sich von wem gebrauchen - oder stellt sich gar zum "Gebrauch" durch die ArbeiterInnen zur Verfügung?

Die Revolution und ihr Gebrauch

An jenen Nahtstellen, an denen die innere Vermittlung des Kapitalverhältnisses zugleich Vermittlung in der Politik, im Staat, in den Institutionen ist (ganz zu schweigen von den lebensweltlichen Bezügen, den Formen historischer Individualität), genau dort fächert sich der Operaismus in alle Himmelsrichtungen des linken Universums auf. Es ist gerade die enorme Stärke der Fabrikkämpfe nach 1968/1969, die diesen Missstand verstärkt. In einer gänzlich anderen Perspektive als die der OperaistInnen resümierte Rossana Rossana dies noch Mitte der 1970er Jahre als Begrenztheit auf die Fabrikmacht: "Die Grenze für die Arbeiter ist darin zu sehen, dass sie bisher nicht im Stande waren, dieses Kampfmodell (Selbstorganisierung, kritische Wiederentdeckung ihrer Institutionen, Kontrolle der Delegierten, Zwischenziele und Alternativen im Betrieb) in eine Strategie außerhalb des Betriebes umzusetzen - und mit diesem ,außerhalb` meinen wir nicht nur den Stadtteil, sondern die ganze Gesellschaft." (3) Dann, so Rossanda, bliebe es bei der Tatsache, dass die "Klasse" "die ,politische Verallgemeinerung` ihres Kampfes an die KPI delegiert."

Letztlich waren die Leitideologen wie die IdeologiekritikerInnen, die Manipulateure wie die Revoltierenden und erst recht die ParteikritikerInnen alle Teil der "kommunistischen Familie", und es gehört zu den erstaunlichsten Aspekten des Operaismus, dass er auf vielfältige Weise sogar Einzug genommen hat in die institutionelle Welt der "großen" historischen Partei. Auf der anderen Seite gibt es die Bewegungsgeschichte und darin auch die Geschichte jenes Operaismus, auf den man sich heute lieber beziehen mag. Aber war er wirklich so weit entfernt von der (kommunistischen) Parteiwelt? Es könnte ja durchaus sein, dass zwar niemand besser den Doppelcharakter der Arbeiterklasse im und außerhalb des Kapitals erfasst hat als der Operaismus, doch dass letzterer möglicherweise selbst an diesem Doppelcharakter scheiterte. Selten jedenfalls ist ein untersuchender und zugleich reflektierender Ansatz derart präzise dem alltäglichen wie systematischen Klassenleben als objektivem Kampfverhältnis von Subjekten auf die Spur gekommen - und damit gleichzeitig an die Grenzen der "revolutionären Initiative".

Es bleibt die Entdeckung des "Subjekts der Kritik der politischen Ökonomie" (K.H. Roth). Es bleibt die Erfahrung eines fundamental anderen Verständnisses von Kampf, Organisation und Bewegung. Es bleiben aber auch weiße Flecken: So sehr der Operaismus das Innere von Kapital und Klasse als neuen Kontinent entdeckt hat, so wenig hat er bestimmen können, woher die "revolutionäre Initiative" kommt, woher die Ziele, die Alternativen, woher also die bestimmte Negation der herrschenden Verhältnisse.

Martin Dieckmann

Erschienen in: ak - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 497 / 19.8.2005

Anmerkungen:

1) Renzo del Carria, zit. nach: Wildcat (Hg.): TheKla 9, 1987, S. 9

2) Mario Tronti: Marx, Arbeitskraft, Arbeiterklasse, in: Wildcat (Hg.): TheKla 9, 1987

3) Rossana Rossanda: Einheit und Alternative, in: dies., Lucio Magri u.a.: Der lange Marsch durch die Krise, Frankfurt am Main 1976, S. 75


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