Uneingestandene Kontinuitäten
Der Umgang des DGB mit dem Nationalsozialismus
Von Frank-Uwe Betz
Wie stellte sich der Umgang des Deutschen Gewerkschaftsbunds
mit der NS-Vergangenheit dar, welche Positionen bezog er, und wie sahen
darin die kollektiven Erinnerungsformen aus? Anknüpfend an den Begriff
des kollektiven Gedächtnisses des französischen Soziologen Maurice
Halbwachs gewährt die jüngst in der Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung
erschienene Dissertation des Historikers Thomas Köcher Einblicke
in Formen des Umgangs des 1949 als überparteilicher Gewerkschaftsbund
neugegründeten DGB mit der NS-Vergangenheit, auch von Verdrängung
und deren Umdefinition. Der Autor hat darin zu ausgewählten Themenbereichen
schriftliche Zeugnisse vor allem aus der gewerkschaftlichen Presse der
1950er und 60er Jahre, aber auch Protokolle von DGB-Gremien und einige
Nachlässe von Gewerkschaftsfunktionären inhaltsanalytisch ausgewertet.
Er sucht zu klären, inwiefern die vom DGB vertretenen Positionen,
wie es üblicherweise der Fall ist, den mehrheitlichen Auffassungen
der Gesellschaft entsprachen oder im Widerspruch dazu standen bzw. inwiefern
das Erinnern des DGB und die darin enthaltenen Auslassungen und Tabuisierungen
als funktional zu verstehen sind, da sie der Legitimation der neuen Institution
dienlich sein sollten.
Köcher geht dabei, jedes auf die Themenbereiche bezogene Kapitel
mit einer allgemein gehaltenen Einführung beginnend, auf die Stellung
des DGB zu den Bereichen der Entnazifizierung, der »Wiedergutmachung«,
des Rechtsextremismus und Antisemitismus, des Widerstands gegen den Nationalsozialismus
(nur 20. Juli) und zu Israel ein.
So sei in der gewerkschaftlichen Presse prinzipiell der
Entnazifizierung zugestimmt worden, der Tenor der offiziellen und autorisierten
Gewerkschaftsverlautbarungen habe aber mit der gesellschaftlichen Bewertung
zur Ausführung der Entnazifierung – der zufolge »die
Kleinen gehängt werden – und die Großen lässt man
laufen« – übereingestimmt, weshalb das Verfahren beendet
werden solle. Schließlich sei die Mehrheit der Bevölkerung
»antinazistisch« und daher unschuldig, als allein verantwortlich
für das Regime wurden Bürgertum und wirtschaftliche Führung
gesehen. Zwischen »Regime« und »Bevölkerung«
sei strikt getrennt, die Bevölkerung den Opfern zugerechnet worden.
Die Gefahr einer Renazifizierung durch den Verbleib von Funktionseliten
in Wirtschaft und Verwaltung wurde zwar gesehen, doch habe der DGB als
neu gegründete Einrichtung politische Zurückhaltung geübt.
Konsequent und frühzeitig aber trat der DGB, so Köcher, für
die schnelle, großzügige und gerechte Zahlung von Entschädigungsleistungen
an NS-Opfer ein – wenn er sich dabei implizit auch vor allem für
die Interessen politisch Verfolgter eingesetzt habe, jüdische Opfer
erst später betrachtet worden seien – und kritisierte die schleppenden
Verfahren – während die wiedereingesetzten Beamten [auf Basis
des »Gesetz(es) zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen
Unrechts für Angehörige des Öffentlichen Dienstes«
vom Mai 1951 sowie des »Gesetz(es) zur Regelung der Rechtsverhältnisse
der unter Artikel 131 GG fallenden Personen«] schnell »entschädigt«
wurden.
Anhand der vom DGB unterstützten Proteste gegen die Aufführung
eines Nachkriegsfilms des »Jud Süß«-Regisseurs
Veit Harlan, zu denen es vielerorts kam, meint der Autor zu erkennen,
dass durch die Kritik an dessen Bedeutung für die Verbreitung antisemitischer
Propaganda, als deren »Schöpfer« er dargestellt werde,
»die Verantwortung am [!] Antisemitismus und der Verfolgung und
Vernichtung der jüdischen Bevölkerung reindividualisiert«
worden sei. In »Folge der Individualisierung der Verantwortung [sei]
ein Großteil der deutschen Bevölkerung schuldlos« geworden
[sic! was ein genaues Lektorat manchmal an Mythenbildung verhindern könnte;
Anm. d. Red.)] Dass der Autor die Ausklammerung des Antisemitismus der
deutschen NS- und Nachkriegsgesellschaft kritisiert, müsste der Hervorhebung
der besonderen Rolle dieses NS-Propagandisten jedoch nicht entgegenstehen.
Wie Köcher ausführt, habe sich der DGB wie kaum eine andere
gesellschaftspolitische Institution in der Frühzeit der BRD »sensibel
gegenüber nationalsozialistischen Kontinuitäten und neonazistischen
Tendenzen« gezeigt, über entsprechende Vorfälle publiziert
und sie etwa in dem Organ »Feinde der Demokratie« politisch
angeprangert – in der Wendung gegen »antidemokratische Tendenzen«
aber im Kalten Krieg »rechts und links« gleichgesetzt. Die
Shoah und der bundesdeutsche Antisemitismus seien dagegen kaum direkt
thematisiert worden. Wenn auch der Antisemitismus an der Gewerkschaftsbasis
übergangen worden sei, habe der DGB doch frühzeitig und entschlossen
für Israel – in dessen Staat und Gesellschaft der Gewerkschaftsbund
Histadrut eine fundamentale Rolle einnahm – Stellung bezogen.
Interessant ist ein besonderer, in der Arbeit dargelegter Fall der Kontinuität
bei der Neugründung – der sich im Umgang mit Walther Pahl zeigt.
Pahl, SPD-Mitglied und Mitarbeiter des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds,
verfasste 1933 einen Artikel zur Bedeutung des 1. Mai als »Feiertag
der Arbeit«, der mit Sentenzen wie: »Vom Nationalsozialismus
unterschied uns keine andere Rangordnung der Werte Nation und Sozialismus,
sondern lediglich eine andere Prioritätenordnung« eine Verbeugung
vor den Nazis darstellte. Pahl wurde am 2. Mai 1933 kurzzeitig inhaftiert,
emigrierte nach England, kehrte aber 1935 zurück. Er publizierte
in Deutschland über »Geopolitik« und veröffentlichte
mehrere Bücher. Ein Kapitel in »Das politische Antlitz der
Erde« widmet sich dem vermeintlichen »jüdischen Problem«,
einem »jüdischen Einfluss auf das politische, kulturelle und
wirtschaftliche Leben der Nation«, den »der Nationalsozialismus
durch seine Gesetzgebung [...] ausgeschaltet« habe. Ferner wird
behauptet, seither sei »die Judenfrage, die Frage der Ausschaltung
des jüdischen Einflusses auf das öffentliche Leben der europäischen
Völker, zu einer Kernfrage der europäischen Politik geworden.«
Durch die Reichspropagandaleitung wurde 1942 gleichwohl ein Redeverbot
verhängt, Pahl von der Wehrmacht beansprucht.
Nach der Befreiung wurde ausgerechnet Pahl zum Chefredakteur der Gewerkschaftlichen
Monatshefte des DGB ernannt. 1953 wandte sich Karl Gerold, Chefredakteur
der Frankfurter Rundschau, in einem Artikel über den »Karrierist[en]«,
»dessen Nazierzeugnisse gedruckt vorliegen«, gegen eine darin
publizierte Veröffentlichung Pahls. Der DGB veranlasste Pahl zunächst
zu einer Klage gegen Gerold, um ihm dann das Zurückziehen zu empfehlen
– nach einer Einigung mit dem DGB-Bundesvorstand schied er aus der
Redaktion der Gewerkschaftlichen Monatshefte aus.
Wäre nicht anhand dieser Person ein ausführlicherer
Exkurs zur offensichtlichen Fehlentwicklung des ADGB, der sich dem Regime
anzubiedern suchte, von Interesse gewesen? Und hätte dies nicht für
dessen fundierte historische Bewertung und die darauf Bezug nehmende,
fragliche Selbsteinschätzung des DGB als umstandslos in der Tradition
der NS-Opfer bzw. des »anderen« Deutschland stehend –
die der Autor zu Recht relativiert, die aber in der auf die Nachkriegszeit
bezogenen Darstellung historisch in der Schwebe bleibt – und für
die Ausbildung eines demokratischen Selbstverständnisses des Gewerkschaftsbunds
nach der Befreiung von Bedeutung sein müssen? Zumal dann, wenn die
Konsequenz aus der NS-Erfahrung in der Arbeit für die Demokratie
bestehen soll.
Thomas Köcher: »Aus der Vergangenheit lernen
– für die Zukunft arbeiten!«? Die Auseinandersetzung
des DGB mit dem Nationalsozialismus in den 50er und 60er Jahren, Verlag
Westfälisches Dampfboot, Münster 2004, 234 S., ISBN 3-89691-583-5
Erschienen im express,
Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit,
12/04
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