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Updated: 18.12.2012 15:51
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Uneingestandene Kontinuitäten

Der Umgang des DGB mit dem Nationalsozialismus

Von Frank-Uwe Betz

Wie stellte sich der Umgang des Deutschen Gewerkschaftsbunds mit der NS-Vergangenheit dar, welche Positionen bezog er, und wie sahen darin die kollektiven Erinnerungsformen aus? Anknüpfend an den Begriff des kollektiven Gedächtnisses des französischen Soziologen Maurice Halbwachs gewährt die jüngst in der Schriftenreihe der Hans-Böckler-Stiftung erschienene Dissertation des Historikers Thomas Köcher Einblicke in Formen des Umgangs des 1949 als überparteilicher Gewerkschaftsbund neugegründeten DGB mit der NS-Vergangenheit, auch von Verdrängung und deren Umdefinition. Der Autor hat darin zu ausgewählten Themenbereichen schriftliche Zeugnisse vor allem aus der gewerkschaftlichen Presse der 1950er und 60er Jahre, aber auch Protokolle von DGB-Gremien und einige Nachlässe von Gewerkschaftsfunktionären inhaltsanalytisch ausgewertet. Er sucht zu klären, inwiefern die vom DGB vertretenen Positionen, wie es üblicherweise der Fall ist, den mehrheitlichen Auffassungen der Gesellschaft entsprachen oder im Widerspruch dazu standen bzw. inwiefern das Erinnern des DGB und die darin enthaltenen Auslassungen und Tabuisierungen als funktional zu verstehen sind, da sie der Legitimation der neuen Institution dienlich sein sollten.
Köcher geht dabei, jedes auf die Themenbereiche bezogene Kapitel mit einer allgemein gehaltenen Einführung beginnend, auf die Stellung des DGB zu den Bereichen der Entnazifizierung, der »Wiedergutmachung«, des Rechtsextremismus und Antisemitismus, des Widerstands gegen den Nationalsozialismus (nur 20. Juli) und zu Israel ein.

So sei in der gewerkschaftlichen Presse prinzipiell der Entnazifizierung zugestimmt worden, der Tenor der offiziellen und autorisierten Gewerkschaftsverlautbarungen habe aber mit der gesellschaftlichen Bewertung zur Ausführung der Entnazifierung – der zufolge »die Kleinen gehängt werden – und die Großen lässt man laufen« – übereingestimmt, weshalb das Verfahren beendet werden solle. Schließlich sei die Mehrheit der Bevölkerung »antinazistisch« und daher unschuldig, als allein verantwortlich für das Regime wurden Bürgertum und wirtschaftliche Führung gesehen. Zwischen »Regime« und »Bevölkerung« sei strikt getrennt, die Bevölkerung den Opfern zugerechnet worden.
Die Gefahr einer Renazifizierung durch den Verbleib von Funktionseliten in Wirtschaft und Verwaltung wurde zwar gesehen, doch habe der DGB als neu gegründete Einrichtung politische Zurückhaltung geübt.
Konsequent und frühzeitig aber trat der DGB, so Köcher, für die schnelle, großzügige und gerechte Zahlung von Entschädigungsleistungen an NS-Opfer ein – wenn er sich dabei implizit auch vor allem für die Interessen politisch Verfolgter eingesetzt habe, jüdische Opfer erst später betrachtet worden seien – und kritisierte die schleppenden Verfahren – während die wiedereingesetzten Beamten [auf Basis des »Gesetz(es) zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des Öffentlichen Dienstes« vom Mai 1951 sowie des »Gesetz(es) zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 GG fallenden Personen«] schnell »entschädigt« wurden.
Anhand der vom DGB unterstützten Proteste gegen die Aufführung eines Nachkriegsfilms des »Jud Süß«-Regisseurs Veit Harlan, zu denen es vielerorts kam, meint der Autor zu erkennen, dass durch die Kritik an dessen Bedeutung für die Verbreitung antisemitischer Propaganda, als deren »Schöpfer« er dargestellt werde, »die Verantwortung am [!] Antisemitismus und der Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung reindividualisiert« worden sei. In »Folge der Individualisierung der Verantwortung [sei] ein Großteil der deutschen Bevölkerung schuldlos« geworden [sic! was ein genaues Lektorat manchmal an Mythenbildung verhindern könnte; Anm. d. Red.)] Dass der Autor die Ausklammerung des Antisemitismus der deutschen NS- und Nachkriegsgesellschaft kritisiert, müsste der Hervorhebung der besonderen Rolle dieses NS-Propagandisten jedoch nicht entgegenstehen.
Wie Köcher ausführt, habe sich der DGB wie kaum eine andere gesellschaftspolitische Institution in der Frühzeit der BRD »sensibel gegenüber nationalsozialistischen Kontinuitäten und neonazistischen Tendenzen« gezeigt, über entsprechende Vorfälle publiziert und sie etwa in dem Organ »Feinde der Demokratie« politisch angeprangert – in der Wendung gegen »antidemokratische Tendenzen« aber im Kalten Krieg »rechts und links« gleichgesetzt. Die Shoah und der bundesdeutsche Antisemitismus seien dagegen kaum direkt thematisiert worden. Wenn auch der Antisemitismus an der Gewerkschaftsbasis übergangen worden sei, habe der DGB doch frühzeitig und entschlossen für Israel – in dessen Staat und Gesellschaft der Gewerkschaftsbund Histadrut eine fundamentale Rolle einnahm – Stellung bezogen.
Interessant ist ein besonderer, in der Arbeit dargelegter Fall der Kontinuität bei der Neugründung – der sich im Umgang mit Walther Pahl zeigt. Pahl, SPD-Mitglied und Mitarbeiter des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds, verfasste 1933 einen Artikel zur Bedeutung des 1. Mai als »Feiertag der Arbeit«, der mit Sentenzen wie: »Vom Nationalsozialismus unterschied uns keine andere Rangordnung der Werte Nation und Sozialismus, sondern lediglich eine andere Prioritätenordnung« eine Verbeugung vor den Nazis darstellte. Pahl wurde am 2. Mai 1933 kurzzeitig inhaftiert, emigrierte nach England, kehrte aber 1935 zurück. Er publizierte in Deutschland über »Geopolitik« und veröffentlichte mehrere Bücher. Ein Kapitel in »Das politische Antlitz der Erde« widmet sich dem vermeintlichen »jüdischen Problem«, einem »jüdischen Einfluss auf das politische, kulturelle und wirtschaftliche Leben der Nation«, den »der Nationalsozialismus durch seine Gesetzgebung [...] ausgeschaltet« habe. Ferner wird behauptet, seither sei »die Judenfrage, die Frage der Ausschaltung des jüdischen Einflusses auf das öffentliche Leben der europäischen Völker, zu einer Kernfrage der europäischen Politik geworden.« Durch die Reichspropagandaleitung wurde 1942 gleichwohl ein Redeverbot verhängt, Pahl von der Wehrmacht beansprucht.
Nach der Befreiung wurde ausgerechnet Pahl zum Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte des DGB ernannt. 1953 wandte sich Karl Gerold, Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, in einem Artikel über den »Karrierist[en]«, »dessen Nazierzeugnisse gedruckt vorliegen«, gegen eine darin publizierte Veröffentlichung Pahls. Der DGB veranlasste Pahl zunächst zu einer Klage gegen Gerold, um ihm dann das Zurückziehen zu empfehlen – nach einer Einigung mit dem DGB-Bundesvorstand schied er aus der Redaktion der Gewerkschaftlichen Monatshefte aus.

Wäre nicht anhand dieser Person ein ausführlicherer Exkurs zur offensichtlichen Fehlentwicklung des ADGB, der sich dem Regime anzubiedern suchte, von Interesse gewesen? Und hätte dies nicht für dessen fundierte historische Bewertung und die darauf Bezug nehmende, fragliche Selbsteinschätzung des DGB als umstandslos in der Tradition der NS-Opfer bzw. des »anderen« Deutschland stehend – die der Autor zu Recht relativiert, die aber in der auf die Nachkriegszeit bezogenen Darstellung historisch in der Schwebe bleibt – und für die Ausbildung eines demokratischen Selbstverständnisses des Gewerkschaftsbunds nach der Befreiung von Bedeutung sein müssen? Zumal dann, wenn die Konsequenz aus der NS-Erfahrung in der Arbeit für die Demokratie bestehen soll.

Thomas Köcher: »Aus der Vergangenheit lernen – für die Zukunft arbeiten!«? Die Auseinandersetzung des DGB mit dem Nationalsozialismus in den 50er und 60er Jahren, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2004, 234 S., ISBN 3-89691-583-5


Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/04


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