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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Wir müssen das Problem umdrehen, es auf den Kopf stellen! Vom 8. November 2006 bis zum 24. Januar 2007 veranstalten verschiedene Göttinger Gruppen eine fünfteilige Veranstaltungsreihe zur Geschichte und Gegenwart autonomer ArbeiterInnenkämpfe in Europa. Der Titel der Veranstaltungsreihe war "Wir müssen das Problem umdrehen, es auf den Kopf stellen". Schon im Titel - ein Zitat von Mario Tronti - sollte ausgedrückt werden, dass es dabei nicht um die offizielle Organisationsgeschichte der europäischen ArbeiterInnenbewegung gehen sollte, sondern um diejenigen Strömungen, die sich nicht an sozialpartnerschaflichen Gewerkschaftsmodellen, sondern an der Frage der Aktualität der revolutionären Umwälzung des Kapitalismus orientierten. Und damit waren sowohl die Bewegungen als auch die sich politisch darauf beziehenden Gruppen gemeint. Die Veranstaltungsreihe umfasste folgende 5 Veranstaltungen [1]:
ReferentInnen der Veranstaltungen (Andrea Gabler, Christian Frings und Alix Arnold, Devi Sacchetto, Wildcat) waren ausnahmslos ExpertInnen und AktivistInnen der von ihnen vorgestellten Themen, die sich in der Regel schon langjährig mit den Themen auch publizistisch befassen. Die Veranstaltungsreihe wurde finanziell von der Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt unterstützt. Zu 1: Die französische Gruppe Socialisme ou Barbarie (SouB) waren die ersten in Nachkriegseuropa, die einen antistalinistischen/antileninistischen revolutionären Ansatz entwickelten. Im Zentrum ihrer Analyse steht das Verständnis des Kapitalverhältnisses als einem konkreten Kampfverhältnis: Nicht Objektivität, sondern Konkretion und Erfahrung sind die Schlüssel zum Verständnisses diese Kampfprozesses. SouB entwickelte hieraus eine undogmatisch-aktivistische Lesart der Marx'schen Theorie und setzte dabei den wesentlichen Akzent auf alle versteckten und offenen Formen des Klassenkampfs. Propagandistisch setzten sie auf eine rätesozialistische ArbeiterInnenselbstverwaltung in Fabrik und im gesellschaftlichen Terrain. Die Analyse des Kampfverhältnisses als konkretem Verhältnis und konkretem Verhalten in der Fabrik führte zur Entwicklung des Konzepts der témoignages - Erfahrungsberichten aus der Arbeitswelt - als Ausgangspunkt der Konzeption einer Arbeitsforschung in revolutionärer Absicht. Die Darstellung und Bedeutung der témoignage stand im Mittelpunkt der Veranstaltung.[2] Im Gegensatz zu den operaistischen ArbeiterInnenuntersuchungen in Italien gingen die Erfahrungen des témoignages-Projekts nicht explizit, sondern nur implizit in die Kämpfe der MassenarbeiterInnen in Frankreich ein, da sich SouB schon 1967 entgültig auflöste. Obwohl die témoignages von der Zentralität der Fabrikarbeit ausgingen und sich die Veränderungen der Arbeitswelt diesbezüglich als Problem der einfachen Adaption auf die heutigen Verhältnisse erweisen, bleibt die Relevanz der Hauptidee der témoignages weiterhin aktuell: die Trennung zwischen Leitung und Ausführung in der Arbeit. Dies könne in eine ,Einschluss-Ausschluss-These übersetzt werden, mit der es prinzipiell möglich ist auch heute alle gesellschaftlichen Gruppen und Aktivitätsfelder in die Analyse einzubeziehen. Möglich wäre dadurch auch eine analytische Überwindung des ArbeiterInnen- und Fabrikzentrismus. Zu 2: Der Film ,Gli Ultimi Fuochi - Die letzten Feuer' ist ein noch einmaliges Werk über die Autonomia in Italien, stehen hier doch ausschließlich die Arbeiter des chemieindustriellen Komplexes von Porto Marghera im Zentrum und nur sie kommen in dem Film zu Worte. [3] Dabei handelt es sich um Aktivisten der Fabrikkämpfe in Porto Marghera, die ebenso zu den Militanten von Potere Operaio in Porto Marghera gehörten. Die Berichte der Arbeiter, sowohl was als auch wie sie es erzählen, verschaffen einen geradezu sinnlichen Eindruck der revolutionären Kämpfe in Italien, der über Geschriebenes weit hinausgeht. Die Kämpfe in Italien waren zweifellos die stärksten und radikalsten revolutionären Kämpfe im Nachkriegseuropa und der Film vermittelt, dass sich diese Geschichte nicht über die Geschichte der politischen Gruppen, sondern nur über die Erfahrung der ArbeiterInnen entschlüsseln lässt. Dabei wird ersichtlich, dass die politischen Gruppen - in diesem Fall Potere Operaio - Ausdruck dieses Kampfes, aber nicht der Motor waren. Dem Film vorangestellt wurden eine Einordnung der Situation im Veneto in die Geschichte der Autonomia und einige Erläuterungen. Zu 3: Im Gegensatz zu den Kämpfen der Autonomia in den anderen italienischen Regionen waren die HauptprotagonistInnen der Kämpfe in Porto Marghera nicht die MigrantInnen aus Süditalien. Die ArbeiterInnen in Porto Marghera waren v.a. BauernarbeiterInnen aus dem Veneto. Ungewöhnlich stark war hier ebenso die Verankerung der operaistischen Gruppen in den Fabriken. Aus dieser Stärke und Verankerung entwickelten die ArbeiterInnenorganisationen im Veneto starke Eigenständigkeit gegenüber den politischen Gruppen und mit der Assemblea auch eine Organisationsform, die den Niedergang der Gruppen weit überlebte. Aus den ArbeiterInnengruppen entstanden auch die ersten Ansätze gezielt die Fabrik zu verlassen und den Kampf in die Stadtteile und die sozialen Verhältnisse außerhalb der Fabrik zu tragen. Nachdem sich das Kapital vor der ArbeiterInnenautonomie in die diffuse Fabrik zurückzog, setzte erst in den 1990er Jahren ein überregionaler/internationaler Migrationsprozess in den Veneto ein, v.a. von ArbeiterInnen aus Osteuropa. Viele von ihnen kamen aus der Region um Timisoara und arbeiteten in den Textilfabriken des Veneto. Im Gegenzug baute das italienische Kapital die Produktionskapazitäten in der Region Timisoara im Textilsektor immer weiter auf. In den letzten 10 Jahren ist die Migration im Veneto rapide angestiegen und dies führte auch zu einer starken Organisierung der MigrantInnen, die in dem großen MigrantInnenstreik in Vicenza gipfelte. Kennzeichen dieser und auch der gesamten europäischen Migrationsbewegung ist, dass sie nicht in boomenden Volkswirtschaften mit Arbeitskräftemangel, sondern in arbeitsmarktlich stagnierenden stattfindet. Die Arbeit der MigrantInnen begründet so nicht den gleichen Sonderstatus wie in den vorangegangenen Jahrzehnten, sondern wird zu einem allgemeinen Phänomen des Arbeitsmarktes. Migrantische Arbeit zeigt uns, in welche Richtung sich der Arbeitszwang und die Entgarantierung der Arbeit in den metropolitanen Gesellschaften entwickle. Insofern stellt die migrantische Arbeit (nicht aber unbedingt die Arbeit der MigrantInnen) heute die allgemeinste Form der Arbeit in den metropolitanen Gesellschaften dar. Zu 4: Der Streik bei Gate Gourmet am Düsseldorfer Flughafen war trotz des mehr als schlechte Abschlusses in vielen Punkten bemerkenswert. Zum einen konfrontierte sich eine kampfunerfahrene Belegschaft mit einer äußerst aggressiven Firmenstrategie, die unter Anleitung der größten und berüchtigsten europäischen Beratungsfirma - Mc Kinsey & Co - einen radikalen arbeitsorganisatorischen Wandel durchführen wollte. Zum zweiten organisierte die Belegschaft mehr und mehr den Streik autonom und ließ sich auch von gewerkschaftlichen Eindämmungsstrategien lange nicht fangen. Eine wesentliche Rolle spielte dabei das sogenannte U-Boot - eine Gruppe von ArbeiterInnen, die schon lange auf den Streik hingearbeitet hatte, den gelben Betriebsrat schon vorher zu Fall brachte und die das Korsett des Streiks darstellte. Und schließlich kam es zu einer Zusammenarbeit der Streikenden mit Gruppen aus dem linksradikalen Spektrum, die viele Aktionen für die ArbeiterInnen durchführen konnten, die diese aus rechtlichen Gründen nicht selbst machen konnten, und die sie in der alltäglichen Öffentlichkeitsarbeit und darüber hinaus unterstützten. All dies geschah nicht im üblichen linken Bevormundungsstil, sondern konstituierte eine Zusammenarbeit, durch die die UnterstützerInnen eine große Anerkennung bei den Streikenden erreichten. Trotz der langen Dauer und dem entschlossenen Streikwillen und auch trotz der UnterstützerInnen war der Streik letztlich kein Erfolg. Die Betriebsleitung verdankte es vor allem dem massiven Einsatz von ZeitarbeiterInnen als Streikbrechern, dass der Geschäftsbetrieb mehr oder weniger aufrechterhalten werden konnte. Nach 6 Monaten willigten die Streikenden einem Kompromiss ein, der nicht mehr als Einschneidungsminimierung bedeutete, aber die wesentlichen Unternehmensziele nicht verhindern konnte. Als Kristallisationspunkt des Streiks stellte sich heraus, dass es nicht gelang, den massiven Einsatz von ZeitarbeiterInnen zu verhindern und zu stören. Auch gelang es den Streikenden kaum Kontakt zu diesen aufzunehmen. Und schließlich gelang es nicht Unterstützung von anderen Gate Gourmet Filialen oder anderen Firmen auf dem Düsseldorfer Flughafen zu bekommen. Die ArbeiterInnen von Gate Gourmet blieben so in ihrem Kampf, trotz der Unterstützungsgruppe, relativ isoliert von anderen ProletarierInnen. Zu 5: Für die ArbeiterInnen in Porto Marghera war der Schritt der Ausweitung der Kämpfe ins soziale Terrain noch quasi ein organischer. Der Stadtteil war der Wohnort der ProletarierInnen und ihrer Familien. Hausbesetzungen, proletarischer Einkauf und die Errichtung von Sozialen Zentren waren daher eine Erweiterung des Kampffeldes Fabrik durch die gleichen Subjekte. Dies änderte sich durch die beginnende Auflösung der Fabrik, insbesondere durch die Massenentlassungen. Gerade durch die Massenentlassungen ist aber auch die Fabrik als homogenisierender Ort eines antagonistischen Subjekts verschwunden und seither auch durch nichts gleichwertiges ersetzt worden. Die aktuelle Frage der Würde bildet nur einen sehr widersprüchlichen Kristallisationspunkt. Zum einen ist sie zu einer Strategie der Gewerkschaften geworden, die eine Selbstbeschränkung der ArbeiterInnen intendiert, in der ,Würde' zum Ersatz für sogenannte ,maßlose' Lohnforderungen geworden ist, die das gewerkschaftliches Comanagement und den Standort gefährden könnten. Zum anderen bleibt ,Würde' aber auch, wie im Fall Gate Gourmet sichtbar, ein antagonistischer Fluchtpunkt, der die Verweigerung der ArbeiterInnen ausdrückt, sich vollständig unter das Kapital subsumieren zu lassen. Festzuhalten bleibt auch, dass die aktuellen ArbeiterInnenkämpfe allesamt Verteidigungskämpfe geblieben sind, die in fast allen Fällen nicht oder nur begrenzt erfolgreich waren. Zur Herausbildung eines hegemonialen ArbeiterInnensubjektes ist es bisher nicht gekommen und die Anzeichen, dass dies geschehen könnte, sind materialistisch nicht überzeugend. Trotz alledem bleibt festzuhalten, dass die aktuellen Kämpfe, auch wenn sie nur als Verteidigungskämpfe sichtbar sind, die Lähmung des proletarischen Kampfes der letzten zwei Jahrzehnte durchbrochen haben. Und dies ist umso wichtiger, als die Lähmung des proletarischen Kampfes in der historisch vergleichbaren Transformationsperiode der 30er Jahre wesentlicher langanhaltender war. Die Kämpfe der letzten Zeit (Gate Gourmet, Bosch Siemens Hausgerätewerk, Opel etc.) haben allesamt einen Schritt über die Fabrikrealität hinaus in andere gesellschaftliche Bereiche gemacht. Beständig wurden sie dabei von den gewerkschaftlichen Organisationen behindert und konnten sich schließlich nicht durchsetzen. Linke Klassenpolitik muss an diesen Punkten ansetzen und den Kampf innerhalb der Fabrik mit den Kämpfen außerhalb in Verbindung setzen (MigrantInnenkämpfe um Bleiberecht, Anti Hartz, G 8 etc.). Bericht der
Veranstaltungsgruppe: Soziales Zentrum Göttingen, Geschichtswerkstatt e.V., Arbeitskreis Internationalismus, Verein zur Förderung der Anmerkungen: 1) Die Auflistung hier ist eine historisch chronologische. Aus terminlichen Gründen konnte sie leider in dieser Reihenfolge nicht durchgeführt werden. 2) Zum Konzept der témoignage siehe den Artikel von Andrea Gabler: Die Despotie der Fabrik und der Vor-Schein der Freiheit. http://www.wildcat-www.de/material/ar16gabl.pdf 3) In den Fabriken in Porto Marghera waren fast ausschließlich Männer beschäftigt. |