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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Arbeiterunruhe im Weltsystem Bericht über eine Veranstaltungsrundreise 2005 zum Buch "Forces of Labor" (Gefördert durch die Stiftung Menschenwürde und Arbeitswelt in Berlin) Das Buch "Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870" von Beverly J. Silver ist seit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung im April 2005 in der deutschsprachigen Klassenlinken auf großes Interesse gestoßen. Es wurde in zahlreichen Zeitschriften und Zeitungen besprochen und in Diskussionen über aktuelle Streiks wie den Solidaritätsstreik des Bodenpersonals von British Airways am Londoner Flughafen Heathrow im August diesen Jahres scheint die langfristige und globale Analyse der "Arbeiterunruhe" hilfreich zu sein, um die Bedeutung solcher Kampfbewegungen besser verstehen zu können (siehe express, 8/2005). Im Juni kam Beverly Silver für eine Woche nach Deutschland und hat ihr Buch auf mehreren Veranstaltungen vorgestellt und über ihre Thesen diskutiert. Zwei der Übersetzer haben auf elf weiteren Veranstaltungen das Buch von Mai bis September in verschiedenen Städten in Deutschland, Österreich und der Schweiz vorgestellt. Daraus ist eine Diskussion über den theoretischen Ansatz des Buches und die Bedeutung dieser historischen Untersuchung entstanden, die sicherlich erst angefangen hat und deren Fortführung in den nächsten Jahren wir für sehr vielversprechend halten. An einigen der Veranstaltung beteiligte sich auch eine Übersetzerin des Buchs "Den Himmel stürmen" von Steve Wright und stellte diese "Theoriegeschichte des Operaismus" vor. Denn trotz des unterschiedlichen Zuschnitts und Themas besteht eine enge Verbindung zwischen beiden Büchern. Die Untersuchung "Forces of Labor" ist stark geprägt von einer Sichtweise, die zu den Kernthesen des sogenannten Operaismus gehört: die Kämpfe und die Widersetzlichkeit der ArbeiterInnen - oder umfassender, der Menschen, die unter ihrer "proletarischen Lage" leiden, deren Arbeitskraft als Ware behandelt wird - wird nicht als purer Reflex oder Reaktion auf die Entwicklung und Politik des Kapitals und seiner globalen Macht gesehen. Die "Arbeiterunruhe" (labor unrest) - ein Begriff mit dem Silver die gesamte Bandbreite widersetzlicher und antagonistischer Verhaltensweisen, und seien sie nach außen noch so unsichtbar, erfassen will - ist selber eine Kraft, die den Verlauf der kapitalistischen Entwicklungsdynamik und die Ausprägung der globalen Ordnung beeinflusst. Durch ihre Kämpfe treiben die ProletarierInnen das Kapital immer wieder zur Verlagerung seiner Akkumulationszentren von einem Ort zum anderen, zwingen es, nach neuen profitableren Anlagesphären und Produkten zu suchen und die Technologie und Arbeitsorganisation ständig zu revolutionieren. In dem zusammen mit Giovanni Arrighi 1999 herausgegebenen Band "Chaos and Governance in the Modern World System" wurde diese Dialektik von proletarischer Bewegung und kapitalistischer Entwicklung über einen noch längeren Zeitraum verfolgt. Sie kommen dabei zu dem Schluss, dass der Druck und die Forderungen von unten im Laufe der letzten drei hegemonialen Zyklen (dem niederländischen, dem britischen und dem noch anhaltenden US-amerikanischen) ein tendenziell zunehmendes Gewicht bekommen haben. Jede neue Hegemonialmacht konnte sich nur zu dem Preis als globale Ordnungsmacht etablieren, dass sie stärker als zuvor auf diese Forderungen und Erwartungen einging. Steve Wright erwähnt daher auch in seinem Nachwort das Buch von Beverly Silver als "eine der anregendsten Erörterungen der globalen Klassenzusammensetzung in der Gegenwart". Damit sind auch schon einige der zentralen Fragen umrissen, die auf den Veranstaltungen zu spannenden Diskussionen führten. Historische Zyklen als ewige Wiederholung? Da Beverly Silver verschiedene Zyklen von Kapitalakkumulation und Klassenkämpfen miteinander vergleicht (Zyklen der räumlichen Verlagerung, der technologischen Erneuerung, der Produktentwicklung und der politischen Weltordnung), entsteht immer wieder der Eindruck, es gehe um Prozesse, die sich ewig weiter wiederholen können. In der Tat besteht der erste Schritt des Vergleichs darin, Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen den verschiedenen Zyklen herauszuarbeiten. Die Effekte der wiederholten räumlichen Verlagerungen in der Automobilindustrie bezeichnet sie ausdrücklich als das "déjà vu" der Kapitalisten: egal wohin es auch geht, an den Orten massiver Produktionsausweitungen sind sie innerhalb von wenigen Jahren erneut mit ganz ähnlichen Formen des militanten Arbeiterverhaltens konfrontiert, die weniger von den jeweiligen und oftmals sehr verschiedenen kulturellen und politischen Rahmenbedingungen bestimmt sind, sondern auf der spezifischen Struktur dieser Fließbandindustrie selbst beruhen: Sit-Downs, Fabrikbesetzungen, Schwerpunktstreiks an strategisch zentralen Punkten der Produktion - und im Mittelpunkt der Ziele stehen vor allem die Arbeitsbedingungen, das Bandtempo, der Akkord. In dem vergleichenden Ansatz von "Forces of Labor" ist das Aufzeigen von Ähnlichkeiten aber nur der erste Schritt. Methodisch dient er dazu, die tatsächlichen Veränderungen und neue Tendenzen ausmachen zu können. Im Unterschied zu vielen schnell dahingeworfenen Thesen über das völlig Neuartige der heutigen historischen Situation, die übersehen, dass bestimmte Entwicklungen so neuartig nicht sind, sondern in der Geschichte des Kapitalismus von Zeit zu Zeit immer wieder zu beobachten waren, will sich Silver auf diese Weise fundierte Klarheit darüber verschaffen, wo und wie der Zyklus als ewige Wiederkehr desselben durchbrochen wird. Zum Vergleich zwischen den weltpolitischen Zyklen der britischen und der US-amerikanischen Hegemonie schreibt sie z.B.: "Genauso wichtig wie die Ähnlichkeiten sind die Unterschiede. ... wenn sich die revolutionären Widersprüche während des ersten Übergangs vor allem innerhalb der atlantischen Welt ausbreiteten, so war diese "Ansteckungsgefahr" während des zweiten Übergangs zu einer wahrhaft globalen Angelegenheit geworden, die Afrika, Asien, Europa und die Amerikas miteinander verband. Ein zweiter Unterschied liegt darin, dass die Konflikte zwischen Staaten und innerhalb der Staaten im zweiten Übergang sehr viel tiefgehender miteinander verzahnt waren. In beiden Übergängen riefen Kriege soziale Unruhen hervor. Aber die umgekehrte Beziehung scheint nur für den Übergang von der britischen zur US-Hegemonie zu bestehen. Das heißt weder der Siebenjährige Krieg noch das Eingreifen von Frankreich in den Amerikanischen Revolutionskrieg waren nachweisbar dadurch motiviert, soziale Unruhen an der Heimatfront zu unterdrücken. Im Gegensatz dazu waren am Vorabend des Ersten Weltkriegs Klassenbewegungen und nationale Befreiungskämpfe eskaliert; und schon die kolonialistischen Abenteuer am Ende der 1890er Jahre folgten auf eine Intensivierung des Klassenantagonismus (und sollten ihn umlenken). Dies ist mit einem dritten Unterschied zwischen den beiden Übergängen der Welthegemonie verbunden: Im zeitlichen Ablauf rief der Krieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr viel schneller soziale Massenunruhen hervor. Anders gesagt können wir eine "Beschleunigung der Sozialgeschichte" feststellen." (Beverly J. Silver: Arbeiterbewegung, Krieg und Weltpolitik: Die gegenwärtige Dynamik aus welthistorischer Perspektive, Vortrag in Linz, November 2003 ) Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht nicht die Wiederholung, sondern die Abweichung, die Weiterentwicklung. Allerdings, und dies ist einer der Gründe für Irritation, enthält sie "Forces of Labor" jeglicher "revolutionstheoretischen" Deutung der Weiterentwicklungen. Auf der Veranstaltung in Berlin hat Beverly Silver klargemacht, dass nicht ausgemacht ist, ob die Form von Gesellschaft, die sich nach dem nächsten hegemonialen Übergang entwickeln wird, noch kapitalistisch sein wird oder etwas anderes wie "Sozialismus" sein werde. Aber - vielleicht gerade in Abgrenzung zu stark philosophisch-spekulativen Revolutionserwartungen (vgl. "Empire" von Hardt und Negri) - vermeidet sie solche Ausblicke und dringt auf eine genaue historisch-empirische Belegung von politischen Thesen. In diesem Zusammenhang warnte sie auch vor einem leichfertigen Optimismus, der uns unvorbereitet gegenüber Rückschlägen lasse. Sie verwies in dem Zusammenhang auf ihren zusammen mit Giovanni Arrighi verfassten Aufsatz von 1984 , in dem das Konzept der "Produktionsmacht" (workplace bargaining power) in seinen Grundzügen entwickelt wurde. Sie hätten damals eine gradlinige globale Stärkung der Arbeitermacht vorausgesehen und seien daher von der weltweiten Schwächung der Arbeiterbewegungen in den neunziger Jahren überrascht worden. Ihr Buch "Forces of Labor" sei daher auch eine selbstkritische Weiterentwicklung, indem es neben den die Klassenmacht stärkenden Faktoren auch die entgegenwirkenden schwächenden Momente deutlicher herausarbeite. Krieg und Antikriegsbewegung Auf den Veranstaltungen betonte Beverly Silver, dass die Frage des Krieges für die sich heute abzeichnende hegemoniale Krise und die Perspektiven des Übergangs eine entscheidende Bedeutung hat. Historisch hat sich eine enge Wechselbeziehung zwischen globaler Arbeiterunruhe und Weltkrieg gezeigt. An beiden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich ein ähnliches Muster: unmittelbar vor den Kriegen erkennen wir einen dramatischen globalen Anstieg der Arbeiterunruhe. Die Kriege sind also auch eine Reaktion der herrschenden Schichten auf die Klassenkämpfe und zunächst führen sie dazu, dass die Arbeiterkämpfe auf historische Tiefstwerte absinken. Am Ende des Krieges explodieren die Kämpfe aber wieder mit oftmals revolutionären Zuspitzungen. Dadurch waren die Kämpfe der ArbeiterInnen ein entscheidender Faktor für die Ausprägung der neuen, von den USA gestifteten Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Trotzdem hatten sie die dreißigjährige Phase von Krieg und Barbarei nicht verhindern können. Angesichts des heutigen militärisch-technologischen Vernichtungspotenzials stelle sich um so mehr die Frage, ob die Kämpfe von unten in der kommenden Phase von "systemischem Chaos" wirkungsvoll genug sein werden, Krieg und Massenvernichtung zu verhindern. Sie sei zwar nicht sehr optimistisch, wies aber auf einige bemerkenswerte Entwicklungen hin. So zeige sich gerade am Irak-Krieg, dass das "Vietnam-Syndrom" in den USA keineswegs überwunden sei, also die Weigerung der ProletarierInnen, ihr Leben für das "Vaterland" zu riskieren. Das Hauptproblem für die USA sei nicht in erster Linie die Zahl der toten Soldaten, die aus dem Irak zurückgebracht werden, sondern die hohe Zahl der Verwundeten und Verkrüppelten, über die offiziell nicht gesprochen wird und über die in den Medien nicht berichtet wird. Der Armee gelinge es immer weniger, ausreichend Freiwillige für die Armee zu finden, und dies, obwohl der Eintritt in die Armee für viele junge Menschen aus den Unterschichten die einzige Möglichkeit sei, eine höhere Ausbildung zu bekommen. Eine sehr interessante Bewegung sieht sie in der hauptsächlich von Eltern getragenen "Gegenrekrutierung" an den Schulen, die gegen die Rekrutierungsoffiziere der Armee vorgehen (siehe die sehr informative Webseite www.counterrecruiter.net ). Die US-Regierung sieht darin ein ernsthaftes Problem und schaltet auf allen wichtigen Fernsehkanälen Werbespots, in denen Jugendliche ihre zunächst skeptischen Eltern davon überzeugen, wie gut es sei, zum Militär zu gehen. Ansätze neuer Arbeitermacht? Eine Hauptfrage auf den Veranstaltungen wie es um die aktuellen Perspektiven der Arbeitermacht und der Arbeiterbewegungen auf der Welt bestellt sei. Da dies im Buch vielleicht nicht deutlich genug werde, betonte Beverly Silver zunächst, dass sie im Unterschied zu modischen Theoremen des Postfordismus den Hauptgrund für die Krise der Arbeiterbewegungen nicht in den Produktionsverlagerungen, den neuen Produktionsmethoden oder neuen, oft als "immateriell" bezeichneten Produkten sieht. Diese Veränderungen, selber Reaktionen des Kapitals auf die Arbeiterunruhe, würden in vielen Fällen zu einer Ausweitung der strukturellen Arbeitermacht beitragen: dort wo tatsächlich massiv verlagert wird, entwickeln sich an den neuen Investitionsstandorten auch wieder neue Kämpfe, wie aktuell in China und Asien zu beobachten. Neue "postfordistische" Produktionsmethoden wie die dezentralisierten aber durch just-in-time-Ketten vernetzten Fabriken machen die Produktion gegenüber Arbeiterkämpfen noch verwundbarer. Insbesondere haben diese Produktionsmodelle den ArbeiterInnen in den modernen Transportindustrien (LKW, Luftfahrt) eine zentrale Machtstellung verliehen. Einer der wenigen Sektoren, in denen es trotz der Krise der Arbeiterbewegungen zu einem Anwachsen von Kämpfen gekommen ist, bildet ein Musterbeispiel von "immaterieller" Arbeit: das Bildungswesen. Hier hat es weltweit in den letzten Jahrzehnten einen starken Beschäftigungszuwachs gegeben und aus den statistischen Daten der World-Labor-Group lässt sich auch für die neunziger Jahre ein Anstieg der Arbeiterunruhe ausmachen. Den Hauptgrund für die historische Schwäche der Arbeiterbewegungen sieht Silver zusammen mit Arrighi, auf dessen historische Forschungen in "The long Twentieth Century" sie sich dabei stützt, in der Finanzialisierung des Kapitals, die historisch wiederholt zum Ende eines hegemonialen Zyklus festzustellen ist: Kapital wird vorrangig in Finanzgeschäfte und Spekulation gesteckt, während Produktion und Handel stagnieren. Da diese Finanzialisierung nur vorübergehend auftauchen kann, sieht Silver darin auch keine historische endgültige Schwäche oder gar ein Verschwinden der ArbeiterInnen als soziale Akteure, sondern nur eine besondere historische Phase. Einige Anzeichen neuer Arbeitermacht seien schon heute festzustellen. Des öfteren wurde sie gefragt, wie ihr Buch in den USA aufgenommen worden sei und wie sich dort die Situation der Arbeiterkämpfe darstelle. Dazu betonte sie, dass sich in den letzten Jahren ein neues Interesse an den Klassenkämpfen entwickelt habe. Ausgerechnet die Gruppe von ArbeiterInnen, die bisher für die schwächste gehalten wurde - nämlich die migrantischen Arbeitskräfte in Dienstleistungssektoren wie der Gebäudereinigung oder im Transportsektor - ist zum Hoffnungsträger für die Arbeiterbewegung in den USA geworden und hat gezeigt, dass mit neuartigen Kampagnen erfolgreiche Kämpfe geführt werden können. Mehrmals verwies sie in diesem Zusammenhang auf die Parallele zu den Autoarbeitern in den USA in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch diese galten damals den Linken und Sozialwissenschaftler als zersplitterte, zusammengewürfelte und durch das Fließband der totalen Kontrolle des Kapitals unterworfene Gruppe von ArbeiterInnen. Erst als sie mit den Sit-Down-Streiks in den dreißiger Jahren zeigten, dass das Fließband auch als Machtmittel in den Arbeiterkämpfen genutzt werden kann, konnten auch Sozialwissenschaftler die strukturelle Macht der ArbeiterInnen erkennen, über die sie in den neuartigen Produktionsprozessen verfügten. Sie betonte damit, wie sehr auch theoretische Erkenntnisse letztlich auf die Bewegungen der ArbeiterInnen selber, auf ihre Experimente und Entdeckungen in ihren eigenen Kämpfen, angewiesen sind - womit sie auf die Notwendigkeit einer engeren Verzahnung von theoretischen und praktischen Anstrengungen innerhalb der Arbeiterbewegungen hinwies. Damit ging sie auch auf eine zentrale Frage ein, die auf vielen Veranstaltungen gestellt wurde: welche Perspektiven in der weiteren "Prekarisierung" der Arbeit und neuen Initiativen in diesem Bereich liegen. Während einige Theoretiker des "Postfordismus" in der Prekarisierung eine unausweichliche Schwächung der Arbeitermacht sehen, versuchen zur Zeit andere Gruppen gerade in diesem Bereich neue Kampfmöglichkeiten auszuprobieren. Mit Hinweis auf die historischen Erfahrungen betonte Beverly Silver, dass dies keine rein theoretischen Fragen sei, sondern dass oftmals die ArbeiterInnen selber durch ihre Kämpfe den Blick auf neue Machtmöglichkeiten freigelegt hätten, die in der Theorie übersehen wurden. Insofern teile sich nicht den Pessimismus mancher "postfordistischer" Theorien bezüglich des Schicksals der Arbeiterbewegungen, sondern wolle mit ihrem Buch und durch ihre Beteiligung an den Diskussionen dazu anregen, sich in diese Prozesse des Ausprobierens und Experimentierens einzumischen und sie zu unterstützen.
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