letzte Änderung am 22. Oktober 2003 | |
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Nachdem Bernd Gehrke* in Teil I seiner »Nachbetrachtungen zum 17. Juni« das Gesamtbild des Aufstands angesichts der jetzt erst zugänglichen umfangreichen Materialien und Dokumente erst einmal kritisch zurechtgerückt und den sozialen Charakter des Aufstands analysiert hat, setzt er sich hier mit den Inhalten und Forderungen der »Aufstehenden« auseinander.
Die Losungen der aufständischen Arbeiterklasse bildeten von Anfang an eine untrennbare Einheit wirtschaftlich-sozialer und politischer Forderungen. Der Ausgangspunkt des sozialen Konfliktes war die Normenfrage. Durch die Einführung der gesetzlichen Erhöhung der Normen um zehn Prozent hätte ein großer Teil der Akkordlöhner bis zu dreißig Prozent des Lohnes verloren. Bei steigenden HO-Preisen und bei Abschaffung umfangreicher sozialer Leistungen (u.a. Fahrgeldzuschüsse) war der Normenkampf vor allem ein Kampf um die Verteidigung eines Lebensstandards, der immer noch weit unter dem Vorkriegsniveau lag. Zugleich besaßen die Forderungen des 17. Juni auch einen dezidiert egalitären Charakter. Bereits auf der Kundgebung der Ostberliner Bauarbeiter vor dem Haus der Ministerien schleuderte ein Bauarbeiter Minister Selbmann entgegen, dass man nicht nur die Rücknahme der zehnprozentigen Normenerhöhung, sondern die Abschaffung aller Normen in ganz Deutschland wolle.[1] Das war ein erster Hinweis darauf, dass die Auf-ständischen sich die Einheit Deutschlands etwas anders vorstellten als der Verband der Metallarbeitgeber Berlins und Brandenburgs heute. Die Losung »Akkord ist Mord!« war bei den Streiks und betrieblichen Diskussionen außerordentlich populär und in ihrem Bezug auf die Auseinandersetzungen der Weimarer Republik gegenwärtig. Die Kritik am tayloristischen Normensystem zeigte sich auch im Hass auf die Arbeitsdirektoren und die bei ihnen angesiedelten »Arbeitsnormer«, deren Ablösung vielerorts gefordert wurde. Sie galten als Personifizierung der Wiederkehr alter Hierarchien in den DDR-Betrieb.[2] Neben der Kritik am Normen-system zeigte sich der egalitäre Charakter der Bewegung des 17. Juni auch in der massenhaften Kritik an den privilegierten Gehältern der betrieblichen Intelligenz, die mit Einzelverträgen zur Mitarbeit am »Aufbau des Sozialismus« gewonnen werden sollten, sowie an den im Verhältnis zu ArbeiterInnen hohen Gehältern von Partei- und Staatsfunktionären sowie der Volkspolizei. Die Belegschaft der Elektroschmelze Zschornewitz forderte sogar die Abschaffung aller Gehälter, die über 1000 DM lagen.[3] In einigen Forderungskatalogen, wie dem des Kaliwerk »Deutschland«, wird auch der Versuch der Belegschaften erkennbar, Einfluss auf die Planung der Betriebe zu bekommen.[4] Trotz des fehlenden Diskussionsvorlaufes und des Fehlens einer breiten gesellschaftlichen Debatte ist eine Tendenz erkennbar, die in Richtung einer Arbeiterselbstverwaltung weist, zumindest in Richtung des Versuchs einer erhöhten Einflussnahme auf die wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse des Betriebes. Die wirtschaftlich-sozialen Forderungen, die gerade zu betrieblichen Angelegenheiten sehr detailliert formuliert waren und in der zweiten Streikwelle im Juli 1953 noch einmal präzisiert wurden, enthalten immer wieder auch grundlegende Forderungen einer Reorganisation der gesellschaftlichen Machtstrukturen im Betrieb und damit auch des ganzen Regimes der DDR:
1. Die Partei und/oder ihre hauptamtliche Struktur soll aus dem Betrieb verschwinden und ihre Kontrolle über die wirtschaftlichen Abläufe aufgeben,
2. die Gewerkschaft soll der Kontrolle der Partei entzogen werden, damit sie eine Kampforganisation der Werktätigen wird. Auch wird die Wahl von neuen Betriebsgewerkschaftsleitungen gefordert. Der Ruf nach einer echten und unabhängigen Gewerkschaft erschallt allenthalben, selten auch werden Betriebsräte, aber nicht die generelle Auflösung des FDGB gefordert.
Obwohl solche grundlegenden Fragen der wirtschaftlich-sozialen Machtstruktur im Betrieb thematisiert werden, findet sich jedoch nirgends die Forderung nach einer Reprivatisierung der Großbetriebe! Es sind vor allem die heute sämtlich in den Akten nachzulesenden Forderungskataloge, welche das eindeutige Urteil erlauben, dass der 17. Juni keine Bewegung zur Restauration des Großkapitals und des Großgrundbesitzes in der DDR gewesen war.[5]
Doch der Aufstand der DDR-Arbeiterklasse war nicht nur nicht restaurativ, er war auch antimilitaristisch. Der Kampf gegen die Aufrüstung war ein zentrales Anliegen und »Butter statt Kanonen« eine der häufigsten Lo-sungen. »Wir brauchen keine Volksarmee!«, skandierten die Demonstranten, die erbeutete Waffen ähnlich wie 1918 nicht gegen ihre Feinde richteten, sondern zerstörten. Erstaunliches sah der junge Bernd Rabehl, der wie Rudi Dutschke in der Brandenburgischen Provinz aufwuchs und den 17. Juni in Rathenow erlebte. Ein DDR-offizielles Plakat zum 1. Mai wurde von Demonstranten getragen. Auf ihm stand: »Nie wieder SS-Europa Nieder mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland!«[6]
Gerade diese zuletzt zitierten Losungen machen deutlich, dass die oft gestellte Forderung nach »freien Wahlen in ganz Deutschland« etwas anderes meinen muss als eine Übernahme der DDR durch das Adenauer-Regime. Hier wurden Wahlen erhofft, die die Spaltungspolitik und die Hochrüstung beider Teile Deutschlands gegeneinander beenden und ein entmilitarisiertes Deutschland schaffen sollten. In dem würde es auch mehr Butter geben. Das war das einige Deutschland, das die aufständische Arbeiterklasse erträumte. Es waren keine anderen Vorstellungen, als sie sich damals in den gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen und sozialistischen Programmen der Arbeiterklasse in Westdeutschland fanden. Die einzige politische Garantie für die Umsetzung dieser Vorstellungen schien die SPD zu bieten, die als Arbeiterpartei zugleich auch die Partei der nationalen Einheit war und die die Spaltungspolitik Ulbrichts wie Adenauers, in Untergrundschriften im Osten und von Berlin aus vor allem im RIAS anklagte. Sie schien die Partei des demokratischen Sozialismus zu sein, die die Verstaatlichung der Grundindustrien ohne die brutale Entrechtung der Arbeiter wie unter dem Ulbricht-Regime auf ihre Fahnen geschrieben hatte, die von ihr als Sklaverei eines neuen Staatskapitalismus angeprangert wurde. Die SPD schien der Garant des deutschen, nicht des russischen Sozialismus. Sie würde auch die in der DDR erreichten Reformen des Bildungs- oder Gesundheitswesens nicht gefährden. »Hätten wir die SPD, wäre alles besser«, kolportieren Stasispitzel die Meinung von Arbeitern des Stahlwerks Brandenburg nach dem 17. Juni.[7] Allenthalben war am 17. Juni die Neuzulassung der SPD gefordert worden, einige Alt-SPDler in der SED verlangten eine sozialdemokratische Plattform. Doch waren auch ex-KPDler unter den Streikenden. In Leipzig beteiligten sich in den streikenden Betrieben immerhin drei Viertel der SED-Mitglieder.
Die Forderungen und die politische Kultur, die trotz der nur acht Jahre zurück liegenden Zeit des Faschismus eine erstaunliche Vitalität der Arbeiterbewegungskultur aufwiesen, machen deutlich, dass die Ziele des 17. Juni soziale und politische sowie arbeiterspezifische und allgemein-demokratische Forderungen untrennbar miteinander vereinten. Die Arbeiterklasse in der DDR hatte eine »Berliner Republik« vor Augen, die sie als Alternative zu den deutschen Teilstaaten verstand, nicht wie 1989/90 als die Überstülpung des einen über den anderen. Die Arbeiterklasse von 1990 war immerhin 40 Jahre durch die Schule der SED-Diktatur gegangen, so hatte sie ihre sozialistischen Optionen verloren. Das war 1953 noch anders, als sich mit »Sozialismus« in Ost wie in West eine Alternative zu Krieg und Faschismus verband. Die »Berliner Republik« des 17. Juni war also nicht die heutige, auf Sozialabbau und neue Kriege zielende. Sie war ihr Gegenteil. Sie war wohl am ehesten jene Republik, die Kurt Schumacher als »Staat des demokratischen Sozialismus« bezeichnet hatte und den er mit dem Staatskapitalismus in Ostdeutschland nicht verwechselt sehen wollte. Ob tatsächlich für eine Mehrheit der Arbeiterklasse gilt, was Bust-Bartels vertritt, dass ihr Ziel am 17. Juni die Wiedergewinnung jener basisdemokratischen Freiheiten gewesen war, über die sie unmittelbar nach 1945 in den Betrieben verfügt hatte und von denen sie durch die SED seit 1948 enteignet worden war, darf bezweifelt werden. Doch eine radikale soziale Demokratie, die sich aus sozialdemokratischer wie aus freiheitlich-sozialistischer und oppositionell-kommunistischer Tradition speiste, prägte das Antlitz des 17. Juni allemal. Sie ist es wert, dass auf sie zurückgekommen wird. In einer Zeit, in der die SPD heute den staatlichen Lohnraub und eine brutale Verarmungspolitik gegenüber großen Teilen der arbeitenden Klasse betreibt, ist es gerade für die sozialistische Linke auch notwendig, sich dieses Aufstands anzunehmen, der gegen eine solche Politik durch eine Partei mit dem Wörtchen »sozial« im Namen entstand.
Willy Brandt hat in seinem Buch »Arbeiter und Nation« treffend den politischen Charakter des 17. Juni zum Ausdruck gebracht, als er schrieb: »In den machtvollen Manifestationen in Ost-Berlin drückt sich nicht der Schrei nach Anschluss an Bonn aus. Auf den Transparenten, die bei den Massenstreiks mitgeführt wurden, standen viele und wichtige Forderungen. Nirgends hat etwas gestanden von der Reprivatisierung der Mammutwerke. Sie wollen demokratisieren nicht restaurieren. Ich habe nicht gehört oder gelesen, es habe Demonstranten gegeben, die Hoch Adenauer gerufen hätten.«
Wir wissen inzwischen aus den Akten, dass es Menschen gegeben hat, die »Hoch Adenauer« gerufen haben. Aber sie haben nicht das Antlitz des 17. Juni bestimmt, es waren Bauern. Darum hat Willy Brandt mit seiner damaligen Einschätzung Recht behalten. Im Gegenteil, eine Fülle von Belegen ist inzwischen aus den Akten aufgetaucht, die diese Einschätzung bestätigen. Während mit großer Wut die Propagandaeinrichtungen und Ikonen des Ulbricht-Regimes zerstört wurden, blieb Marx unberührt. In Halle, wo Stalin und Marx auf riesigen Propagandabildern nebeneinander stehen, wird Stalins Bild zerfetzt, während Marx stehen bleibt. In der Stadt Brandenburg bleibt ein Plakat hängen, auf dem Marx mit der Forderung nach der einigen, unteilbaren deutschen Republik zitiert wird. Der Spiegel hatte in seiner schon damals unnachahmlichen Art über die alte SPD-Hochburg Magdeburg berichtet: »Abgeklärte Bebel-Typen mischten sich unter die Demonstranten, die unter ihrer Leitung im Hauptbahnhof die durchfahrenden Interzonenzüge mit SPD-adä-quaten Parolen beschmierten, wie: Fort mit Ulbricht und mit Adenauer, wir verhandeln nur mit Ollenhauer! Auf den Bahnsteigen wurden Transparente ausgespannt, auf denen es hieß: Räumt euren Mist in Bonn jetzt aus, in Pankow säubern wir das Haus! Den westdeutschen Fernfahrern, die auf der Autobahn Magdeburg-Helmstedt heimwärts fuhren, präsentierten die Aufrührer an der Brücke bei Barleben ein improvisiertes Plakat, das Ulbricht und Adenauer am Galgen zeigte. Darunter der Text: Einheit macht stark!«[8]
* Bernd Gehrke ist als Zeithistoriker und in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig.
Anmerkungen
1) Vgl. Rainer Hildebrandt:»Der 17. Juni. Zehn Erlebnisgeschichten von Personen in verschiedenen Brennpunkten des Aufstandes«, sowie ergänzende dokumentarische Materialien mit 82 Fotos, Berlin 1983, S. 54
2) Angelika Klein: »Arbeiterrevolte im Bezirk Halle«, Bd. 1-3, herausgegeben vom Brandenburger Verein für politische Bildung »Rosa Luxemburg« e.V., Potsdam 1993, Bd. 1, S. 37; vgl. zur Enteignung der Arbeiterklasse durch die Rückkehr des Taylorismus und den Zusammenhang mit dem 17. Juni: Axel Bust-Bartels: »Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Ursachen, Verlauf und gesellschaftspolitische Ziele«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung das Parlament, B 25/1980, S. 24-54
3) Angelika Klein, a.a.O., Bd. 1, S. 29
4) Angelika Klein, a. a.O., Bd. 2, S. 64
5) Die einzige Restauration, die beobachtet werden konnte, war die angestrebte Reprivatisierung von LPGen, welche von der SED mit brutalen Methoden gegenüber den Bauern durchgesetzt worden waren, sowie die Reprivatisierung des städtischen Mittelstandes. Diesen Forderungen der zuvor Enteigneten war die SED allerdings mit ihrer Politik des »Neuen Kurses« bereits entgegen gekommen.
6) Bernd Rabehl: »Schattenspiele. Mühseliges Erinnern an die Fünfziger Jahre«, in: G. Eisenberg/H.-J. Linke (Hg.): »Fünfziger Jahre«, Gießen 1980, S. 118
7) Vgl. Armin Mitter/Stefan Wolle: »Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte«, München 1993
8) Der Spiegel, Nr. 26 vom 24. Juni 1953, S. 7
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