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Updated: 18.12.2012 15:51
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Sachwalter des Kapitals

In Italien und Griechenland sollen sogenannte Expertenregierungen die Verarmung der Völker im Dienst der Sanierung der Staatsfinanzen durchsetzen

Im fünften Jahr der globalen Finanzkrise bringt die europäische Politik zur Bewältigung von deren Konsequenzen eine neue Errungenschaft hervor. Auf Druck der EU – genauer: der deutschen und der französischen Regierung – ersetzen die Parlamente in Griechenland und Italien ihre mit Mehrheit regierenden Amtsträger durch eine von der jeweiligen Opposition mitgetragene überparteiliche »Expertenregierung«; in Griechenland unter dem ehemaligen Vizepräsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), Loukas Papadimos, in Italien mit dem ehemaligen EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti an der Spitze.

Der Regierungsauftrag lautet auf Durchsetzung harter »Sparprogramme« zur Sanierung des Staatshaushalts; Ziel ist ein erträglicher Zinssatz für Staatsschulden am freien Kapitalmarkt. Der aufgenötigte überparteiliche Konsens in Sachen Sparprogramm soll auch über eventuelle Neuwahlen hinaus so lange garantiert in Kraft bleiben, bis der Maßnahmenkatalog zur Sanierung des Budgets erfolgreich abgearbeitet ist.

Der große Fetisch der abendländischen Wertegemeinschaft, die freiheitliche Zweieinigkeit von Demokratie und Marktwirtschaft, erweist sich im Krisenfall als doch nicht völlig selbstverständlich, und nicht einmal der Schein der Gleichrangigkeit dieser beiden Höchstwerte bleibt gewahrt. Die demokratische Sitte eines lebendigen Wettstreits der politischen Konzepte muß zurückstehen, sogar die heilige Entscheidungsfreiheit des wahlberechtigten Volkes hat zeitweilig ihr Recht verloren und muß – im Fall Griechenland – einer per Unterschrift beglaubigten Vorabfestlegung der konkurrierenden traditionellen Großparteien weichen. Denn es ist ein Haushaltsnotstand eingetreten, weil die nationale Marktwirtschaft den staatlichen Schuldendienst nicht mehr zur Zufriedenheit der Finanzmärkte hergibt. Dem Wahlvolk dürfen keine Alternativen zur seiner Verarmung zur Auswahl geboten werden. Die Wiederherstellung staatlicher Kreditwürdigkeit ist der von der Politik für unumstößlich erklärte marktwirtschaftliche Sachzwang. Und dem muß die demokratische Freiheit sich beugen.

Freiheit des Marktes

Das ist immerhin ein Hinweis auf das wirkliche Verhältnis zwischen den beiden komplementären Freiheiten im bürgerlichen Gemeinwesen: Die Freiheit des Marktes, die ohne das Regime des Finanzkapitals über das Geld der Gesellschaft und sogar das des Staates nicht zu haben ist, ist unantastbare Staatsräson; die des Wahlbürgers erfüllt sich darin, Sachwalter keiner anderen als dieser Räson mit der freiwilligen Zustimmung derer auszustatten, die unter ihr und ihren Folgen zu leiden haben. Das demokratische Verfahren heiligt, was die Gewählten beschließen – die optimale Durchsetzung des markt- und finanzwirtschaftlich Notwendigen.

Im Fall der beiden Krisenstaaten am Mittelmeer geht es freilich gar nicht bloß um das einzig korrekte Verhältnis zwischen ökonomischer Staatsräson und demokratischem Procedere. Die marktwirtschaftliche Vernunft, die dem Staat in der Krise eine Sparpolitik mit eingebauter Erfolgsgarantie für die Käufer seiner Anleihen gebietet, kommt als Oktroi der EU daher, als politische Nötigung durch die Führungsmächte des Euro-Clubs. Deutschland, Frankreich und andere Gleichgesinnte starten nicht bloß einen Appell ans »systemische« Eigeninteresse ihrer Partner, sondern betreiben die Disziplinierung der prominentesten Problemfälle.

Und das so unverhohlen, daß sich für Griechenland und Italien – und kaum weniger explizit für etliche andere – die Souveränitätsfrage stellt: ob das Gebot der Haushaltssanierung um jeden Preis tatsächlich ein marktwirtschaftlich alternativloser, also willig zu vollstreckender Sachzwang ist oder eher eine Entmündigung der Nation in Gestalt ihrer höchsten Gewalt durch ausländische Instanzen bedeutet.

Wie es sich mit der Souveränität bankrotter Euro-Staaten tatsächlich verhält, ist hier die eine klärenswerte Sache. Bemerkenswert ist zum andern, wie die Souveränitätsfrage von den frisch installierten Expertenregierungen bewältigt wird.

Souveräne Unterwerfung

Infolge von Finanz- und Staatsschuldenkrise müssen sich einige Länder der Euro-Zone gewisse Vorschriften für die Gestaltung ihres Haushalts gefallen lassen. In bürgerlichen Staaten, die ihre Gesellschaft mit Geld regieren, heißt das: Sie sind im Gebrauch ihrer Macht nicht mehr souverän. Ihre Handlungsfreiheit ist ihnen rein ökonomisch mit dem fehlenden Zuspruch des Kreditgewerbes zu ihren Schuldpapieren abhanden gekommen. Deswegen sind sie in der Freiheit der Budgetgestaltung auch politisch beschränkt, und zwar durch jene Instanzen, die ihnen trotzdem die benötigten Finanzmittel leihen.

Diese Lage folgt erstens aus der souveränen Entscheidung der Staatsmacht, ihren Haushalt – wenn auch nur zum Teil – mit Krediten zu finanzieren, die Refinanzierung ihres Schuldendienstes mit der Aufnahme neuer Darlehen zu bewerkstelligen und so ihr Schuldnerverhältnis zur Finanzwelt zu verewigen. Das ist die Grundlage des systematischen Zusammenwirkens von Staat und Finanzgewerbe zum wechselseitigen Vorteil: Ersterer gestattet den Geldbesitzern und -verwaltern die Spekulation auf sich und seine Hoheit über einen nationalen Kapitalstandort als sichere Geldquelle, versorgt so den Markt mit seinen Anleihen, die für das Wachstum des Kreditgewerbes unverzichtbar sind. Die Finanzwelt erlaubt dafür dem Staat mit der Vermarktung seiner Schulden Freiheiten bei seiner Haushaltsführung und mehrt mit ihrem Wachstum die Finanzmacht, auf die der Staat zugreifen kann. Die Krise hat dieses wechselseitige Nutzenverhältnis zerstört.

Verliert ein Staat seine Kreditwürdigkeit, werden seine umlaufenden Schuldpapiere immer schlechter bewertet, zum Schluß sogar überhaupt nicht mehr als Geldkapital anerkannt, dann kann er normaler Weise immer noch seine Nationalbank in Anspruch nehmen. Die nimmt im Ernstfall die Schuldscheine entgegen, die das staatliche Haushaltsdefizit repräsentieren, und bringt dafür gesetzlich gültiges Geld in Umlauf. Eben dieser Rückgriff auf die staatliche Geldhoheit als Quelle für das Budget eines Landes steht den Mitgliedern des Euro-Klubs nicht mehr frei. Das Recht, die Einlösung ihrer wie auch immer verbrieften Haushaltsdefizite in Notenbankgeld zu dekretieren, haben sie mit der Einführung der Gemeinschaftswährung und der Gründung der EZB abgetreten. Das taten sie allerdings nicht auf Grund von äußerem Zwang. Ihr Konzept war, sich einer größeren Währung unterzuordnen und dadurch mehr und vor allem günstigeren Kredit zu bekommen als vorher. Es war ihr Nutzenkalkül, aus dem heraus sie sich dazu entschlossen, ihre Souveränität, sich nach eigenem Gutdünken zu verschulden, dem Regime des Maastricht-Vertrags zu unterwerfen, das die Staatsverschuldung beschränkt und eine Haushaltsfinanzierung durch die eigene Notenbank – das »Gelddrucken« – verbietet.

Materielle Ungleichheit

Deswegen stehen die Euro-Staaten, die ihren Kredit bei den Finanzmärkten verloren haben buchstäblich ohne Geld da. Das Mißtrauen der Gläubiger, die den Refinanzierungsbedarf des griechischen, des italienischen und manch anderer Euro-Staaten nur noch zu untragbaren Bedingungen oder gleich überhaupt nicht mehr zu finanzieren bereit sind, macht offenbar, was diese Länder sich mit ihrer Spekulation auf nationale Vorteile aus einem supranationalen Geld und dem Abenteuer einer Mitgliedschaft im Euro-Klub eingehandelt haben: Solange sie das unkalkulierbare Wagnis einer Rückkehr in den Status eines abhängigen Außenseiters der EU scheuen und lieber dabeibleiben, haben sie in letzter Konsequenz die Souveränität über den Grundstoff ihrer Herrschaft aufgegeben.

Formell gilt das natürlich für alle Euro-Staaten, auch für die, deren Schulden nach wie vor als Kapitalanlage nachgefragt werden. Auch die haben ihre Geldhoheit an die Europäische Zentralbank übertragen und folglich nicht mehr die Freiheit, ihren nationalen Haushalt im Ernstfall von der Notenbank finanzieren zu lassen. Diese formelle Gleichheit der nationalen Souveräne vor dem supranationalen Statut der EZB begründet tatsächlich jedoch eine materielle Ungleichheit und auf dieser Grundlage ein ziemlich einzigartiges Machtverhältnis zwischen den Partnern.

Diejenigen, die Kredit bekommen und deswegen durch das kollektive Regime über das Gemeinschaftsgeld keine Einbußen an ihrer Haushaltsautonomie erleiden, treten den anderen, die durch das Mißtrauen der Märkte in eine so fundamentale Geldverlegenheit gebracht werden, als eine Instanz gegenüber, die – natürlich »nur« als Sachwalter der von allen geschaffenen und akzeptierten Rechtslage – den Pleitekandidaten die Umwandlung ihrer Schulden in Liquidität durch die dazu prinzipiell fähige gemeinsame Notenbank verwehrt. Den finanzstarken Euro-Staaten – und letztlich dem deutschen als führendem – fällt praktisch die Entscheidungsmacht zu, die die Partner vertraglich gar nicht an sie, sondern an das Gemeinschaftskonstrukt EZB abgegeben haben.

Von ihnen hängt es ab, ob und inwieweit sie die Frankfurter Geldhüter letztlich doch das tun lassen, was die formell nicht dürfen, nämlich Haushaltsgeld bereitzustellen. Und bis auf weiteres setzen die Regierungen der solventen Führungsstaaten an die Stelle der ›Lizenz zum Gelddrucken‹, die sie der EZB weiter förmlich verweigern, ihre sehr bedingte und an Auflagen geknüpfte Bereitschaft, den insolventen Partnern das zur Schuldenbedienung unbedingt nötige Minimum an Haushaltsgeld zu leihen. Zu den finanzschwächeren Ländern stellen die Führungsmächte auf diese Art ein Gläubiger-Schuldner-Verhältnis her, das im ›Europäischen Stabilitätsmechanismus‹ (ESM) durchorganisiert ist. So wird tatsächlich die Souveränität der kreditierten Staatsmächte über ihre Staatsfinanzen weitgehend außer Kraft gesetzt.

Der Eingriff in die Autonomie der Staaten, die auf Darlehen ihrer Euro-Partner angewiesen sind, fängt also nicht erst mit den Bedingungen an, die die finanzstarken Mächte für die Auszahlung von Geldern an bankrotte Partner setzen. Wenn Griechenland und andere sich die Mittel fürs Regieren ausleihen müssen, ist ihre Hoheit selbst eine Leihgabe. Das ist die Grundlage, auf der Deutschland, Frankreich & Co. sich das Recht anmaßen können, in ihre Nachbarstaaten hineinzuregieren – so massiv und so handfest, daß in Italien und Griechenland gewählte Regierungen das Feld räumen und einer Expertenmannschaft nach dem Geschmack der Euro-Instanzen Platz machen.

Mit »Fachkompetenz«

Die Forderung an die Regierungen dieser beiden Länder, ihre Herrschaft an überparteiliche Experten zu übertragen, ist eine unmißverständliche Ansage an die Adresse der demokratischen Parteien dort, der regierenden ebenso wie derjenigen in der Opposition. Sie stehen unter Verdacht, sie würden aus parteipolitischer oder wahltaktischer Berechnung die zur Notwendigkeit erklärten Sparprogramme nicht konsequent durchführen, also die marktwirtschaftliche Staatsräson ihrem demokratischen Machtkampf um den Zuspruch der Wähler opfern. Deswegen braucht es, um EU-Partner und Finanzmärkte zufriedenzustellen, in der Regierung Repräsentanten, die auf der Unumgänglichkeit aller in Auftrag gegebenen Kürzungen und Privatisierungen beharren – »Experten« eben.

Solche Figuren kommen auch an die Macht: Von den mit so viel Mißtrauen bedachten Parlamenten werden sie ins Amt gewählt. Die Parteien handeln dabei unter erpresserischem Druck von außen, aber durchaus auch aus eigener Berechnung. Auf der einen Seite kennen sie den Unmut ihrer Wähler: die Verzweiflung der verarmten Massen über die schon vollstreckten und die noch anstehenden materiellen Zumutungen, den Zorn über die sehr klassenspezifische Verteilung der anfallenden Lasten, das patriotische Aufbegehren gegen eine Bevormundung der Nation durch auswärtige Instanzen und fremde Machthaber. Dafür wollen sie nicht haftbar gemacht werden.

Auf der anderen Seite hegen sie die Erwartung, daß die ins Amt berufenen Experten hinkriegen, was die auch selbst als ihren Auftrag begreifen: Dem Volk gegenüber sollen Papadimos und Monti sowie deren Leute mit ihrer unzweifelhaften »Fachkompetenz in ökonomischen Sachfragen« die Unausweichlichkeit und Vernünftigkeit des verordneten Politikprogramms verbürgen. Und mit ihrem überparteilichen Dienst an der nationalen Sache sollen sie dafür einstehen, daß hier keine Lakaien der EU in fremdem Auftrag ans Werk gehen, sondern die Nation aus eigenem souveränem Beschluß das Nötige tut und alle vernünftigen Patrioten stolz sein dürfen auf ihr tapferes Vaterland. Insoweit geht es den ansonsten zerstrittenen »staatstragenden Parteien« schon ziemlich überparteilich um die grundsätzliche Versöhnung des Volkes mit der Staatsgewalt, von der es gerade so brutal behandelt wird.

Die Fachleute an der Macht geben sich dementsprechend alle Mühe. Sie fungieren als Garanten dafür, daß der Maßnahmenkatalog, den sie abarbeiten, nur ein Ziel hat, nämlich die Rückgewinnung der nationalen Autonomie durch Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit des Landes.

Abbruchunternehmen

Montis Regierungsantritt in Italien und seine demonstrative Anerkennung als Dritter im Bunde durch Merkel und Sarkozy hatte auf die Märkte die beabsichtigte Wirkung: Die zeigen sich neu interessiert an italienischen Anleihen und führen damit praktisch vor, was für eine spekulative Angelegenheit die Kreditwürdigkeit eines Staates ist. Der griechische Kollege Papadimos hingegen übernimmt die Regierungsgewalt über ein Land, das einen Offenbarungseid eigener Art erleidet. Daß Griechenland seinen Kredit in der Finanzwelt so komplett verloren hat, ist Folge des kritischen Ländervergleichs, den diese an den Staaten der Euro-Zone durchexerziert, nachdem diese, namentlich die führenden Mächte, den Zusammenbruch eben dieser Finanzwelt mit Massen von Staatskredit und Notenbankgeld storniert haben.

In diesem Vergleich schneiden Geldanlagen in Hellas besonders schlecht ab. Der Abzug von Finanzmitteln aus dem Land deckt gnadenlos auf, daß die an Konkurrenzmacht weit überlegenen Firmen aus den großen Euro-Ländern den griechischen Binnenmarkt ziemlich komplett erobert, die landeseigene Wirtschaft kaputtkonkurriert haben. Als Absatzgebiet funktioniert diese Nation schon lange nur mehr durch Darlehen aus dem europäischen Ausland. Der Staatshaushalt zehrt gleichfalls von auswärtigen Geldanlagen. Mit denen ist es vorbei. Und prompt ist das Land mit seinem Schuldendienst hoffnungslos überfordert. Die Rettung der staatlichen Zahlungsfähigkeit durch die solventen Euro-Mächte ist von deren Seite – je länger sie dauert, desto härter – darauf angelegt, die unbedingte Solidität des Euro-Kredits und die Stabilität der diesen Kredit repräsentierenden Währung zu beweisen. Bezweckt ist, erklärtermaßen, die »Beruhigung der Märkte«.

Die Konditionen, die dem Schuldnerstaat auferlegt werden, dienen dem demonstrativen Nachweis, daß dessen Ausstattung mit dem Minimum an Geld, das fristgerecht an auswärtige Gläubiger zu zahlen ist, die nachdrücklich beschworenen Kriterien einer verantwortbaren Kredit- und Geldschöpfung in Wirklichkeit gar nicht verletzt: Alle Welt soll sehen, daß die Euro-Hüter den Wert ihrer Währung wichtiger nehmen als die Überlebensbedingungen eines Volkes ohne konkurrenzfähiges Kapital. Die unplanmäßig, aber folgerichtig fortschreitende Ruinierung des Landes quittieren die maßgeblichen EU-Politiker mit immer deutlicheren Bekundungen ihres schwindenden Vertrauens in die Entschlossenheit der Regierenden, die Fähigkeit des Staatsapparats und die Bereitschaft des Volkes, die verlangten Sanierungserfolge abzuliefern, ohne daß die griechische Regierung dafür ein anderes Mittel einzusetzen hätte als rigoroses Zusammenstreichen jeglichen Geldbedarfs.

Damit stehen die Anforderungen an die überparteiliche Expertenregierung in Athen fest: Papadimos und die Seinen sollen das Mißtrauen der Kreditgeber entkräften und durch erste Erfolge beim Defizitabbau die Glaubwürdigkeit des griechischen Reformwillens beweisen. Tatsächlich führen sie auftragsgemäß das Abbruchunternehmen am Lebensunterhalt des Großteils ihres Volkes fort, mit dem die sozialdemokratischen Vorgänger es bereits weit getrieben haben; freilich mit dem Ergebnis, daß die planmäßig herbeigeführte soziale Katastrophe die nationale Ertragskraft überhaupt nicht steigert, sondern sogar noch schrumpfen läßt. Die Sparpolitik verringert zwar die Unkosten, als welche die materielle Existenz des Volkes veranschlagt wird. Sie dezimiert allerdings zugleich weiter die Restbestände an kapitalistischen Reichtumsquellen, die für Staatseinnahmen sorgen könnten. Entsprechend verhalten sind Lob und Anerkennung für Papadimos und sein Kabinett von Seiten der Partner. Immer ernsthafter diskutieren die Freunde Griechenlands, einen »Sparkommissar« nach Athen zu entsenden – ganz so als wäre die Sanierung des Landes eine Frage der Rücksichtslosigkeit und die Expertenregierung noch immer zu weich im Umgang mit den nationalen »Strukturen«. Die Alternative dazu sei, das Land »pleite gehen zu lassen«, was Europa mittlerweile leichter verkraften könne als noch vor Monaten.

EU-Plan droht zu scheitern

Kein Wunder, daß die Regierung ihre andere Aufgabe ähnlich schlecht erfüllt. Der ökonomische Niedergang des Landes blamiert das Versprechen, die Verelendung der Massen von Staats wegen würde nach der alleinseligmachenden Logik der Marktwirtschaft irgendwann und irgendwie zu einem neuen Aufschwung führen. Deswegen läßt die Aussöhnung des Volkes mit Europas Kapitalismus zu wünschen übrig. Linksradikale Parteien, d.h. solche außerhalb des Konsenses der konservativen Nea Dimokratia (ND) und der sozialdemokratischen PASOK, die einander traditionell in der Regierungsführung abwechseln und nun unter Papadimos koalieren, agitieren nicht ohne Erfolg gegen die Staatsräson, die eine fortschreitende Verelendung zur unumgänglichen Notwendigkeit macht: Auf Demonstrationen wird immer öfter die Meinung laut, angesichts seines eigenen Bankrotts könnte dem Fußvolk der Nation der Bankrott von Staat und Finanzwelt doch egal sein. Und auch der überparteiliche Appell an die patriotische Gesinnung erweist sich als wenig tauglich, um die Bevölkerung auf Linie zu bringen. Der patriotische Zorn richtet sich zum Teil gegen die Regierenden, denen man einfach nicht abnimmt, fürs griechische Vaterland zu streiten. Ein anderer Teil der Bevölkerung geht zwar mit der Staatsgewalt konform, allerdings gilt diese Zustimmung nicht der politischen Linie, sondern dem Schein, die Verhandlungen mit den Gläubigern seien ein Widerstandskampf gegen Fremdbestimmung und Bevormundung.

So ist das Konzept der EU, mit der Festlegung der bisher einander an der Macht ablösenden Wahlvereine jede aus den anstehenden Neuwahlen hervorgehende Regierung auf das Sanierungskonzept zu verpflichten und derart dessen Durchsetzung ohne Abstriche sicherzustellen, gefährdet. Denn ein Großteil der PASOK-Basis »driftet nach linksaußen ab«, so daß die ND, der selber die Wähler davonlaufen, vom Stimmenschwund der bis zur Einsetzung der Expertenregierung mit absoluter Mehrheit regierenden Sozialdemokraten nicht profitiert. Damit droht die Vorabfestlegung der bisherigen Volksparteien ins Leere zu laufen, da das Parlament nach der Neuwahl im Frühjahr womöglich von der Kommunistischen Partei (KKE), der Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA) und anderen Linksparteien dominiert wird, die das »Spardiktat« ablehnen. Die KKE verlangt sogar den Austritt nicht nur aus der Euro-Zone, sondern auch aus der EU, die sie als »imperialistischen Zusammenschluß« kritisiert, »der von kapitalistischen Interessen gelenkt wird«. Insofern muß die europäische Wertegemeinschaft sich eventuell doch noch praktisch mit dem Problem herumschlagen, daß ein Stück Demokratie am falschen Platz zur Störung der europäischen Staatsräson namens ›freie Marktwirtschaft‹ gerät.

Artikel von Theo Wentzke, zuerst erschienen in junge Welt vom 26.03.2012

Theo Wentzke ist Redakteur der Zeitschrift GegenStandpunkt.


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