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Updated: 18.12.2012 15:51
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Sozialabbau im europäischen Kontext

Die Lissabon-Strategie bestimmt die deutschen Wirtschafts"reformen"

Für den 21. Oktober planen die Gewerkschaften einen bundesweiten Aktionstag gegen die Politik der Großen Koalition. Der Kahlschlag in der Sozial- und Bildungspolitik in der Bundesrepublik ist vor allem die Folge der europäischen Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik. Ihren "theoretischen Überbau" finden die sogenannten "Reformpakete" in der im März 2000 von europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossenen Lissabon-Strategie, der zufolge die EU bis 2010 der "wettbewerbsfähigste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaftsraum in der Welt" sein soll.

Dieses Ziel soll erreicht werden durch die Schaffung bzw. Vollendung des Binnenmarkts für Dienstleistungen, der Öffnung bisher abgeschirmter und geschützter Sektoren, d.h. Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Güter und stärkere Unternehmerfreundlichkeit, u.a. durch niedrigere Steuern für Unternehmen. Den ArbeitnehmerInnen wird eine Verlängerung der Arbeitszeit und mehr "Eigenverantwortung" der Einzelnen für Gesundheit und Rente abverlangt, was durch die Steigerung der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt, also die Aushöhlung des Kündigungsschutzes und die Einführung von Mini- und 1-Euro-Jobs, verstärkt wird. Kritiker bezeichnen die Lissabon-Strategie als die "europäische soziale Abrissbirne", die den Konzernen Riesengewinne beschert, Arbeitsplätze vernichtet und den Einzelnen nicht nur neue Steuerlasten, sondern auch zunehmend finanzielle "Eigenverantwortung" für die Alters- und Gesundheitsversorgung aufbürdet. Der Zusammenhang zwischen dieser Strategie, dem umstrittenen Entwurf für eine Dienstleistungsrichtlinie, der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen wird in der Öffentlichkeit bislang kaum thematisiert. Und das, obwohl Franz Müntefering bereits schon vor einem Jahr die Agenda 2010 als "weit reichenden Fortschritt bei der nationalen Umsetzung der Lissabon Strategie" lobte.

Der EU-Kommissionspräsident Barroso versprach der UNICE - die europäische Vereinigung der Industrie- und Arbeitgeber und einer der bedeutendsten Lobbyverbände in Brüssel - das Vorantreiben der Lissabon-Strategie sei höchstes Ziel seiner Regierungsmannschaft. Als sein Stellvertreter bei der Koordination des Vorhabens fungiert Industrie-Kommissar Günter Verheugen. Bei der Anhörung durch das EU-Parlament führte Verheugen aus, dass "die Kommission sämtliche Instrumente einsetzen werde, um allen Unternehmen so günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, dass sie auf dem Weltmarkt mithalten können". Dem Industrie-Kommissar obliegt es, das Primat der Ökonomie durchzusetzen. Er kann alle Gesetzes-Entwürfe auf ihre Wirtschaftsverträglichkeit hin prüfen und gegebenenfalls ein Veto einlegen.

Wie viele andere EU-Strategiepapiere ist auch die Lissabon-Strategie auf Initiative der European Round Table of Industrialists (ERT), zu Stande gekommen. Der ERT ist ein mächtiger Industriellenclub, in dem die Vorstandschefs der 45 größten transnationalen Konzerne Europas Mitglied sind.

Bereits 1993 empfahl der ERT der EU-Kommission eine Europäische Wettbewerbs-Kommission mit dem Mandat ins Leben zu rufen und die Wettbewerbsfähigkeit als höchste Priorität auf die politische Agenda zu heben. Der Erfolg dieses ERT-Appells ist durchschlagend, Wettbewerbsfähigkeit ist seit einiger Zeit in aller Munde.

Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Santer folgte dem Wunsch der Industriellen und berief 1995 ein "Beratergremium zur Wettbewerbsfähigkeit" mit 13 prominenten Industriellen, Gewerkschaftlern, Bankmanagern, Akademikern und Politikern. Vorsitz dieser Gruppe hatte der ehemalige stellvertretende Vorsitzende des ERT und Vorsitzender von Unilever Floris Maljers. Diese Gruppe hat die Lissabon-Strategie konzipiert. Dementsprechend verbuchte Baron Daniel Janssen, ehemaliger Vorsitzender des Großkonzern Solvay und Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Wettbewerbsfähigkeit des ERT", die Verabschiedung der Lissabon-Strategie als Erfolg des ERT. Er beschrieb die neoliberalen Reformen der EU als "doppelte Revolution": "Auf der einen Seite reduzieren wir Macht und Einfluss des Staates und des öffentlichen Sektors durch Privatisierung und Deregulierung. Auf der anderen Seite transferieren wir viel von der Macht der Nationalstaaten hin zu einer international ausgerichteten Struktur auf europäischer Ebene. Die europäische Integration entwickelt sich und hilft internationalen Industrien wie unserer." [1]

Lissabon-Strategie als soziale Abrissbirne

In ihrem Abschlusscommuniqué des EU-Gipfels im März 2005 betonte die EU-Kommission, dass "der Lissabonner Strategie unverzüglich neue Impulse zu geben und die Prioritäten auf Wachstum und Beschäftigung auszurichten" sind: "Europa muss nämlich die Grundlagen seiner Wettbewerbsfähigkeit erneuern, sein Wachstumspotenzial sowie seine Produktivität erhöhen und den sozialen Zusammenhalt stärken, indem es vor allem auf Wissen, Innovation und Erschließung des Humankapitals setzt ... Der Europäische Rat ersucht die Mitgliedstaaten, zusätzlich zu einer aktiven Wettbewerbspolitik das allgemeine Niveau der staatlichen Beihilfen weiter zu senken... Da das Humankapital der wichtigste Aktivposten Europas ist, soll ,lebenslanges Lernen, geographische und berufliche Mobilität` der Arbeitnehmer die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Konzerne erhöhen, wozu auch neue Formen der Arbeitsorganisation und eine größere Vielfalt der Arbeitsverträge zählen." [2]

Mit der Einführung von Hartz IV und der Rente mit 67 Jahren hat Berlin die Vorgaben aus Brüssel bislang gut erfüllt. Daher gilt es nun, weitere Vorhaben wie die Gesundheitsreform und die geplanten Änderungen des Kündigungsschutzes zu vereiteln. Es ist aber auch Zeit, der EU-Politik mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der Zusammenhang zwischen Lobbyismus, der Lissabon-Strategie, der Dienstleistungsrichtlinie und anderen Privatisierungsstrategien der EU sind der deutschen und europäischen Öffentlichkeit noch weithin verborgen. Die Notwendigkeit von "Reformen" die den "welfare"-Staat (sozialen Wohlfahrtsstaat) durch einen "workfare"-Staat ablösen sollen, wird nur im nationalen Kontext diskutiert, die europäische Dimension wird weithin außer acht gelassen.

Die EU sowie die überwiegende Mehrzahl unserer PolitikerInnen predigen das Hohe Lied vom Wachstum und von "Wettbewerbsfähigkeit" und suggerieren, dass Wachstum Arbeitsplätze schafft, obwohl das schon lange nicht mehr der Realität entspricht. Trotz Wachstum, erhöhter Produktivität und Rekordgewinnen der großen Unternehmen werden zunehmend Arbeitsplätze vernichtet. In den 20 größten Volkswirtschaften der Welt sind zwischen 1995 und 2002 mehr als 30 Millionen Arbeitsplätze abgebaut worden. Dieser Trend hält an, wie alle Ankündigungen zur weiteren "Rationalisierung", sprich Vernichtung von Tausenden von Arbeitsplätzen, belegen. Der wirkliche Jobkiller ist der technische Fortschritt. Davon reden PolitikerInnen und sog. "Experten" nicht. Sie verweisen auf angeblich zu hohe Lohnkosten in Deutschland.

Wie ein Mantra wird uns eingetrichtert, dass wir "wettbewerbsfähig" sein müssen und darum länger arbeiten und Lohnkürzungen akzeptieren sollen, weil unsere Arbeitskosten im europäischen Vergleich zu hoch seien. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen: In Deutschland stiegen die Arbeitskosten und die Bruttolöhne und -gehälter im vergangenen Jahr so wenig wie in keinem anderen Land der Europäischen Union.

Wettbewerbsfähig durch Mobilität und Flexibilität

"Der ,neue Kapitalismus` ist zu einer Weltanschauung geworden. Er begnügt sich nicht mehr mit der Wirtschaft, er will unser Leben und Denken beherrschen" war letztes Jahr in der ZEIT zu lesen. Der Autor bezeichnete den "neuen Kapitalismus" als eine totalitäre Bewegung, die alles in private Hände legen will, was bislang noch der staatlichen oder bürgerschaftlichen Kontrolle unterworfen ist. Die Privatisierungen öffentlicher Güter und Dienstleistungen sind Teil dieser totalitären Strategie; dazu gehört auch die Erpressung durch Konzerne: Wenn ihr nicht länger arbeitet und Lohnsenkungen nicht zustimmt, dann verlagern wir die Produktion ins Ausland.

Die zunehmende Unsicherheit und die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes hat sich mit Hartz IV noch wesentlich verschärft. Mit Hartz IV vor Augen sind ArbeitnehmerInnen leichte Opfer jeglicher Erpressung der Unternehmer und willigen ein, länger und zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, um nur den Arbeitsplatz zu behalten.

Dass die "Senkung der staatlichen Beihilfen" auch dem Ziel dient, die EU zum "wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum in der Welt" zu machen, wissen die meisten Hartz IV EmpfängerInnen wohl nicht, aber Gewerkschaften und Linke sollten öffentlich gegen die Lissabon-Strategie Stellung beziehen. Höchste Zeit also, die Lissabon-Strategie öffentlich zu diskutieren, um weitere "Reformen" als das zu brandmarken, was sie sind: Eine Umverteilung von unten nach oben, eine "Enteignungsstrategie" der ArbeitnehmerInnen, der RentnerInnen und des Mittelstandes.

Annette Groth

Erschienen in ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 509 / 15.9.2006

Anmerkungen:

(1) www.trilateral.org/annmtgs/ trialog/trlgtxts/t54/jan.htm

(2) Rat der Europäischen Union: Neubelebung der Lissabonner Strategie: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/ docs/pressData/de/ec/84347.pdf pdf-Datei

Zum bundesweiten Aktionstag am 21. Oktober unter dem Motto "Das geht besser - aber nicht von allein! Für die soziale Erneuerung Deutschlands." ruft der DGB zu Demonstrationen in Berlin, Dortmund, München, Stuttgart und Wiesbaden auf.


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