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Updated: 18.12.2012 16:00
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Berlin in Brüssel

Zur deutschen Ratspräsidentschaft der EU

Während Franz Müntefering bereits vor einem Jahr die Agenda 2010 als »weitreichenden Fortschritt bei der nationalen Umsetzung der Lissabon-Strategie« lobte, wird der enge Zusammenhang zwischen den wirtschafts-, beschäftigungs- und sozialpolitischen Strategien der EU und neoliberaler Politik in Deutschland in der Öffentlichkeit bislang wenig thematisiert. Anlässlich der bevorstehenden Präsidentschaft Deutschlands im Europäischen Rat, in dem die 25 Staats- und Regierungschefs der EU sowie der Präsident der EU-Kommission die allgemeinen politischen Ziele der EU-Entwicklung festlegen und der das wichtigste politische Gremium der EU ist, ohne ein EU-Organ zu sein, beleuchtet Annette Groth* die Rolle deutscher Regierungspolitik sowie der Interessenverbände von Unternehmen und Arbeitnehmern in der Durchsetzung der Lissabon-Strategie. Und sie macht deutlich, dass der neoliberale Umbau hierzulande keineswegs als Resultat ferner EU-Beschlüsse von »denen da oben« in Brüssel zu begreifen ist.

Die im Januar 2007 beginnende EU-Ratspräsidentschaft ist eine gute Gelegenheit, die Zusammenhänge zwischen neoliberaler Politik in Deutschland und in der EU stärker zu thematisieren. Ein Schwerpunkt der deutschen EU-Präsidentschaft ist - neben dem Versuch, die gescheiterte EU-Verfassung wieder auf die Tagesordnung zu setzen - die sog. Lissabon-Strategie der EU. Diese wurde auf dem EU-Frühjahrsgipfel 2000 verabschiedet und verfolgt das Ziel, die EU bis 2010 zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt« zu machen. Zum nationalen Lissabon-Koordinator wurde Wirtschaftsminister Glos erklärt. Er hat bereits angekündigt, dass er nächstes Jahr die vollständige Liberalisierung der Postmärkte in Europa voranbringen und sämtliche »Widerstände dagegen brechen« will.

Um das Lissabon-Ziel zu erreichen, strebt die EU die Durchsetzung folgender flankierender Maßnahmen an:

  • Schaffung bzw. Vollendung des Binnenmarkts für Dienstleistungen (Beispiel EU-Dienstleistungsrichtlinie),
  • Öffnung bisher abgeschirmter und geschützter Sektoren, d.h. zunehmende Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und Güter,
  • Schaffung unternehmensfreundlicherer Rahmenbedingungen, z.B. durch Entlastung bei Steuern und Sozialversicherungen und mehr »Eigenverantwortung« der Einzelnen für Bildung, Gesundheit, Rente etc. und
  • Steigerung der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt.

KritikerInnen bezeichnen die Lissabon-Strategie als »soziale Abrissbirne«, die den Konzernen Riesengewinne beschert, Kosten für soziale Absicherung wie Alters- und Gesundheitsversorgung zunehmend den Einzelnen aufbürdet, Arbeitsplatzabbau beschleunigt und zugleich Arbeitssuchende in zunehmend prekäre Beschäftigungsverhältnisse zwingt. Sofern dabei von einer »Harmonisierung« der Arbeits- und Lebensverhältnisse die Rede sein kann, orientiert sich dieser Prozess der Angleichung offenbar an den jeweils niedrigsten Arbeits- und Sozialstandards, wie z.B. bei den Ladenschlusszeiten: Viele Läden und Supermärkte in den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern sind auch am Sonntag geöffnet. Damit sich »Arbeit wieder lohnt« (für die Unternehmer), werden europaweit die Sozialleistungen gedrückt. Suggeriert wird, dass die tendenzielle Angleichung der Löhne (und ihrer als »Nebenkosten« titulierten Bestandteile) nach unten die einzige Möglichkeit sei, in der Konkurrenz mit Billiglohnländern inner- und außerhalb der EU bestehen zu können. Woher stammen solche Parolen, und was begründet ihre Durchsetzungsfähigkeit?

Lobbyismus und Mythenproduktion

Es ist nicht zu übersehen, dass die transeuropäischen Konzerne und ihre Lobbyverbände die EU-Politik entscheidend mitbestimmen und die Hauptantriebskräfte für Deregulierung und Kommerzialisierung sind. Einer der einflussreichsten Lobbyverbände ist die Union der Industrie- und Arbeitgeberverbände Europas (UNICE). Die Arbeitsgruppen der UNICE »zerlegen jede Empfehlung, jede Vorschrift, jede Richtlinie und jeden Gesetzesartikel, der in Brüssel entsteht. Das Resultat geht dann in Form von Positionspapieren in den politischen Apparat von Brüssel zurück... Die UNICE ist seit 1958 die amtlich anerkannte Stimme der Wirtschaft innerhalb der EU, was ihr eine Carte Blanche für den ungehinderten Zugang zu allen EU-Institutionen verschafft.« »Man kann die UNICE als eine Produktionsanlage sehen, in der wir die Dokumente erzeugen, und meine Arbeit hier in der Kommunikationsabteilung ist, sie den Entscheidungsträgern zu verkaufen«, so der UNICE-Kommunikationschef.[1]

Es gibt ca. 15000 Lobbyisten in Brüssel, wobei allein rund 4500 beim Europäischen Parlament mit seinen 732 Abgeordneten registriert sind. Zum Vergleich: Beim niederländischen Parlament mit seinen 150 Abgeordneten sind 100 Lobbyisten tätig.

Neben der UNICE gehört der Europäische Runde Tisch der Industriellen (ERT), in dem die Vorstandschefs der größten transnationalen Konzerne Europas Mitglied sind, zu den mächtigsten Lobbyverbänden. Wie bei vielen andere EU-Projekten (Währungsunion, Transeuropäische Netze) war der ERT auch ein Strippenzieher der EU-Ostweiterung, die vom ehemaligen Generalsekretär wie folgt kommentiert wurde: »Es ist, als ob wir ein neues Südostasien auf unserer Türschwelle entdeckt hätten.« Besser kann man den Zweck der EU-Erweiterung nicht ausdrücken - Osteuropa hat ein enormes Potenzial an gut ausgebildeten ArbeiterInnen mit niedrigen Löhnen und einen Markt von 150 Millionen KonsumentInnen.

Auch die Lissabon-Strategie geht auf eine Initiative des ERT zurück. Bereits 1993 empfahl der ERT der EU-Kommission, eine Europäische Wettbewerbskommission mit dem Mandat ins Leben zu rufen, die Wettbewerbsfähigkeit als höchste Priorität auf der politischen Agenda zu erhalten. Der Erfolg dieses ERT-Appells ist durchschlagend, denn nahezu alle Politiker beten die Formel nach, dass eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu mehr Wachstum und in der Folge zu mehr Arbeitsplätzen führen werde.

Der ehemalige EU-Kommissionspräsident Santer folgte dem Wunsch der Industriellen und berief 1995 ein »Beratergremium zur Wettbewerbsfähigkeit« mit 13 prominenten Industriellen, Gewerkschaftern, Bankmanagern, Akademikern und Politikern ein. Den Vorsitz dieser Gruppe hatte Floris Maljers, Vorsitzender von Unilever. Diese Gruppe konzipierte die Lissabon-Strategie, deren Verabschiedung als »doppelte Revolution« gefeiert wurde: »Auf der einen Seite reduzieren wir Macht und Einfluss des Staates und des öffentlichen Sektors durch Privatisierung und Deregulierung. Auf der anderen Seite transferieren wir viel von der Macht der Nationalstaaten hin zu einer international ausgerichteten Struktur auf europäischer Ebene. Die europäische Integration entwickelt sich und hilft internationalen Industrien wie unserer.« [2] Mit anderen Worten: Neoliberale Politik lässt sich auf europäischer Ebene offenbar leichter durchsetzen als auf der Ebene der Nationalstaaten, die über demokratisch gewählte Parlamente, deren Abgeordnete ihren WählerInnen verantwortlich sind, eher noch vor Legitimationsproblemen stehen.

Missbrauch von Gewerkschaften?

Mit dem Ziel der »Vollbeschäftigung« als einem der Lissabon-Ziele wurden die Gewerkschaften mit ins Boot geholt. »Vollbeschäftigung« ist definiert als Beschäftigungsquote von 70 Prozent im EU-Durchschnitt. Der Begriff der Vollbeschäftigung ist damit rein quantitativ definiert und entbehrt jeglichen sozialen Gehalts: Vollbeschäftigung schließt alle Varianten prekärer Beschäftigung ein. In diesem Zusammenhang ist auch auf ein geändertes System zur Erfassung und Definition von Arbeitslosigkeit zu verweisen, das die EU von der ILO übernommen hat. Demnach gelten nur noch diejenigen Personen als arbeitslos, die während der jeweiligen Berichtswoche nicht erwerbstätig waren, aktiv einen Arbeitsplatz suchen und innerhalb von zwei Wochen eine Arbeit antreten können. Als erwerbstätig hingegen gelten Personen, die in der Berichtswoche mindestens eine Stunde gearbeitet haben.[3] So lässt sich Arbeitslosigkeit nominell senken und die Statistik schönen.

Gewerkschaftsführer und VertreterInnen anderer Interessengruppen werden als »Reform«-Vermittler ge- und missbraucht und lassen sich in neoliberale Politik einbinden. Der DGB unterstützt in seiner Stellungnahme die Grundzüge der Lissabon-Strategie, wobei er sich neben der »Herbeiführung eines schnelleren und nachhaltigen Wachstums« auch für wirksame Maßnahmen »gegen Armut und soziale Ausgrenzung« ausspricht.[4]

Um die Akzeptanz der Lissabon-Strategie zu erhöhen, sollen Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen »konstruktiv« an den »Reformen« mitarbeiten. Die EU-Mitgliedsstaaten sollen »nationale Programme ausarbeiten, mit denen sie sich zur Durchführung von Reformen verpflichten und Bürger und Stakeholder (beteiligte Interessengruppen) in den Prozess einbinden.« [5] Dieser Appell steht in der im November 2004 publizierten Halbzeit-Studie der Lissabon Strategie mit dem schönen Titel: »Die Herausforderung annehmen«. Mitautor ist der ehemalige Vorsitzende des Österreichischen Gewerkschaftsbundes Fritz Verzetnitsch.

Die Studie wurde auf dem EU-Gipfel im März 2005 diskutiert, im Abschlusscommuniqué des EU-Gipfels betonte die EU-Kommission, dass »der Lissaboner Strategie unverzüglich neue Impulse zu geben sind«. Bei den »Impulsen« handelt es sich u.a. um ein »attraktives Umfeld für Unternehmen, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die Senkung staatlicher Beihilfen, die Reform der Sozialschutzsysteme und die Erschließung des Humankapitals«. Da das Humankapital der wichtigste »Aktivposten« Europas ist, soll »lebenslanges Lernen, geographische und berufliche Mobilität« der Arbeitnehmer die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Konzerne erhöhen, wozu auch »neue Formen der Arbeitsorganisation und eine größere Vielfalt der Arbeitsverträge« zählen.[6]

Die UNICE setzt noch eins drauf und verlangt in ihrer Stellungnahme zum EU-Gipfel - neben der Senkung der Unternehmenssteuern und flexiblen Arbeitsmärkten - auch eine Bewertung von Gesetzesvorschlägen durch Unternehmen.[7]

Doch auch ohne diese explizite unternehmerische Kontrolle hat Berlin die Vorgaben aus Brüssel mit der Einführung von Agenda 2010, Hartz IV, den Mini- und Ein-Euro-Jobs, der Rente mit 67 und den beschlossenen Steuersenkungen für Unternehmen bislang gut erfüllt. Mit der kürzlichen Verabschiedung der umstrittenen Dienstleistungsrichtlinie durch das Europäische Parlament ist man dem Ziel der Vollendung des Binnenmarkts für Dienstleistungen etwas näher gerückt. Die Unternehmen sind aber noch nicht zufrieden und fordern schon seit langem Erleichterungen bei der Sitzverlegung ihrer Firmen. Diesen Gefallen möchte ihnen EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy nun erfüllen und kündigte eine »Niederlassungsrichtlinie« an, die es Unternehmen erleichtern soll, ihren Unternehmenssitz in einen anderen EU-Staat zu verlegen. Das würde den Firmen jene »uneingeschränkte Mobilität« geben, die sie »innerhalb der EU haben sollten«, so McCreevy.[8]

Durch Sitzverlegung könnten Firmen von günstigeren Standortfaktoren (z.B. niedrigeren Steuern) in einem anderen EU-Land profitieren, aber auch eine andere Unternehmensstruktur erreichen. »Ein deutscher Konzern könnte dann vom hierzulande üblichen dualistischen System mit Vorstand und Aufsichtsrat zum etwa in Großbritannien herrschenden monistischen System mit nur einer Führungsebene wechseln... Die Vorgaben, die im jeweiligen Herkunftsland die Mitbestimmung regeln, sollen Unternehmen durch die Sitzverlegung allerdings nicht einfach umgehen können«, so der Kommentar in der Financial Times.[9] Was die Niederlassungsrichtlinie auch ohne explizite Eingriffe in die Mitbestimmungsstrukturen bedeuten könnte, lässt sich leicht vorstellen, wenn man ein Steuerparadiesland wie Estland mit Hochsteuerländern wie Schweden oder Dänemark vergleicht.

Externe Wettbewerbsfähigkeit der EU: Lissabon-plus

Komplementär zur Lissabon-Strategie und zur geplanten »Niederlassungsrichtlinie« stellte EU-Handelskommissar Mandelson Anfang Oktober eine neue »Handelsstrategie« vor, die auf eine Verbesserung der »externen Wettbewerbsfähigkeit« abzielt. Die EU will freien Zugang zu den Wachstums-Märkten der Schwellenländer, wobei vor allem der lukrative öffentliche Beschaffungssektor interessant ist. Um die »externe Wettbewerbsfähigkeit« zu stärken, will die EU-Kommission alle Hürden inner- und außerhalb der EU beseitigen, so dass gesetzgeberische Maßnahmen den freien Handel so wenig wie möglich behindern. Alle »nicht-tarifären Handelshemmnisse«, das sind z.B. Umwelt- und arbeitsrechtliche Standards, sollen sukzessiv abgeschafft werden. [10]

Zeitnah zur Strategie der Stärkung der externen EU-Wettbewerbsfähigkeit hat die Bundesregierung ihr Positionspapier: »Globalisierung gestalten: Externe Wettbewerbsfähigkeit der EU steigern - Wachstum und Arbeitsplätze in Europa sichern« veröffentlicht. Auch dort wird als »Hauptanliegen der künftigen EU-Handels-politik ... für europäische Dienstleister die Marktzugangsbedingungen in Drittländern, insbesondere den aufstrebenden Schwellenländern« betont. Darüber hinaus empfiehlt die Regierung der EU, die Einführung der Reziprozität für öffentliche Beschaffungsmärkte zu erwägen. [11] Das bedeutet, dass die EU-Mitgliedsstaaten diesen Sektor dem Wettbewerb für ausländische Firmen öffnen müssen, mit denen die EU ein derartiges Abkommen schließt.

Die zeitnahe Veröffentlichung der beiden Strategie-Papiere ist sicher kein Zufall; die deutsche Regierung nimmt eine neoliberale Vorreiterposition in der EU ein. Was auf nationaler Ebene nicht geht, wird auf europäischer Ebene durchgesetzt, so scheint das Motto in Berlin.

Workfare statt Welfare?

Der Zusammenhang zwischen Lobbyismus, Lissabon-Strategie und den neoliberalen »Reformen« auf nationaler und EU-Ebene ist weder für die deutsche noch für die europäische Öffentlichkeit transparent und ein Thema. Die Ersetzung des bisherigen Wohlfahrtsstaats durch einen »workfare«-Staat, der jegliche Form sozialer Sicherungen an das Prinzip von Leistung und Gegenleistung koppelt, wird immer noch weitgehend im nationalen Kontext diskutiert, die europäische Dimension außer acht gelassen. Nach einer Studie des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) könnten 800000 Langzeitarbeitslose durch das Workfare-Konzept in Beschäftigung gebracht werden: »Kern des Workfare-Gedankens ist es, den Bezug von Arbeitslosengeld II konsequent an eine Gegenleistung in Form gemeinnütziger Arbeit zu knüpfen.« Diese Studie wurde im Handelsblatt am 10. Oktober vorgestellt, kam aber bei den anderen großen Zeitungen nicht in die Schlagzeilen.

Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Workfare-Konzept während der Ratspräsidentschaft Deutschlands unter dem Label »Reform der Hartz-Gesetze« mehr Aufmerksamkeit erhält, schließlich wäre die Realisierung eines solchen Konzepts eine geeignete Maßnahme zur Erreichung des »Vollbeschäftigungsziels« der Lissabon-Strategie. Und die Durchsetzung der Lissabon-Ziele soll im Rahmen der deutschen Ratspräsidentschaft mit mehr Energie verfolgt werden.

Die deutsche Ratspräsidentschaft wäre ein guter Anlass, den oben genannten Zusammenhang öffentlich und transparent zu machen. Die Lissabon-Strategie müsste als das neoliberale Konzept, mit dem sämtliche sozialen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts im Interesse von Konzernen und Kapital beseitigt werden sollen, wesentlich stärker im Fokus von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen stehen. Das Lissabon-Paket ist eine gigantische »Enteignung« der ArbeitnehmerInnen, und die Hartz-Gesetze - aus der Feder eines unter Korruptionsverdacht stehenden deutschen Managers - waren ein bedeutsamer Schritt in diese Richtung auf der Ebene nationaler Politik.

Schluss mit dem Mantra der Wettbewerbsfähigkeit

Gewerkschaften und soziale Bewegungen sind daher aufgerufen, das vielbeschworene Mantra zu entlarven, dass Wettbewerb und Wachstum Arbeitsplätze schaffen würden. Deutschland ist das wettbewerbsfähigste Land der Welt mit einer der höchsten Produktivitätsraten, und trotzdem - oder gerade deshalb - werden weiterhin Arbeitsplätze wegrationalisiert.

Lohnkürzungen - ob direkt oder indirekt, über unbezahlte Arbeitszeitverlängerung - haben den Konzernen in den letzten Jahren Rekordgewinne verschafft. Gleichzeitig wurden in den 20 größten Volkswirtschaften der Welt zwischen 1995 und 2002 mehr als 30 Millionen Arbeitsplätze abgebaut. Dieser Trend hält an. Eine der Hauptursachen für die Vernichtung von Arbeitsplätzen ist die mit dem technischen Fortschritt verbundene kapitalistische Rationalisierung. Doch davon reden PolitikerInnen und sog. »Experten« nicht, sondern verweisen auf angeblich zu hohe Lohnkosten in Deutschland. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen: Deutschland ist das einzige EU-Land mit sinkender Lohnquote, während in anderen EU-Staaten, wie z.B. in Großbritannien, die Löhne erheblich gestiegen sind.

Der Produktivitätszuwachs wird nicht mehr wie früher mit den Beschäftigten in Form höherer Löhne geteilt oder durch Arbeitszeitverkürzungen weiter gegeben, sondern kommt in Form von Dividenden den Aktionären und in Form von Bonuszahlungen den Managern zugute. ArbeitnehmerInnen dagegen wird der Lohn gekürzt und die Arbeitszeit verlängert.

Internationale Vergleiche zeigen, dass gerade beschäftigungspolitisch erfolgreiche Länder die kürzesten Arbeitszeiten haben. Arbeitszeitverlängerung führt dagegen zur Arbeitsplatzvernichtung und damit zu einer höheren Arbeitslosenquote. Insofern ist Elmar Altvater zuzustimmen, wenn er die Arbeitszeitverlängerung als den »größten ökonomischen Schwachsinn und marktökonomisch als das sicherste Mittel zur Steigerung der Erwerbslosigkeit« bezeichnet!

Gegen die zunehmenden Lohnkürzungen, gegen die Arbeitszeitverlängerungen und gegen die Hartz-Gesetze, die selbst ein Kapitalvertreter wie der Chef der Drogeriekette DM Götz Werner öffentlich als »offenen Strafvollzug« geißelte, müssen wir uns massiver als bisher zur Wehr setzen. Sonst wird der Sozialabbau und die damit eingehende Entdemokratisierung weiter gehen: Jesse Jessen bezeichnete den »neuen Kapitalismus« in der Zeit vom 21. Juli 2005 als eine »totalitäre Bewegung«, die alles in private Hände legen will, was bislang noch der staatlichen oder bürgerschaftlichen Kontrolle unterworfen ist. Die Privatisierungen öffentlicher Güter und Dienstleistungen sind Teil dieser totalitären Strategie; dazu gehört auch die Erpressung durch Konzerne: Wenn ihr nicht länger arbeitet und Lohnsenkungen nicht zustimmt, dann verlagern wir die Produktion ins Ausland. Die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes hat sich noch wesentlich verschärft: Mit Hartz IV vor Augen sind ArbeitnehmerInnen leichte Opfer für Erpressungsmanöver der Unternehmer und willigen ein, länger und zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten, um nur den Arbeitsplatz zu behalten.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sollte dazu genutzt werden, um europäische Politik und die Rolle der Bundesregierung in der EU stärker zu thematisieren. Die »Lissabon-Reformen« sind als gigantische Umverteilungsmaschinerie zu brandmarken, die die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer macht - europaweit.

* Annette Groth ist Entwicklungssoziologin und arbeitet als Beraterin für gerechte Handelspolitik in Europa und Afrika

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11/06


(1) Balany / Doherty / Hoedeman u.a.: »Konzern Europa - Die unkontrollierte Macht der Unternehmen«, Rotpunktverlag, 2001, S. 74, S. 76

(2)»The Pace of Economic Change in Europe «: www.trilateral.org externer Link

(3) Jan Sauermann: »Registrierte Arbeitslosigkeit oder Erwerbslosigkeit: Gibt es das bessere Messkonzept?«, Wirtschaft im Wandel 4/2005: www.iwh-alle.de externer Link

(4) Stellungnahme des DGB zum EU-Sondergipfel »Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialer Zusammenhalt« in Lissabon, 23.-24. März 2000, www.dgb.de externer Link

(5) »Die Herausforderung annehmen. Die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung«, Bericht der Hochrangigen Sachverständigengruppe unter Vorsitz von Wim Kok,
http://europa.eu.int
externer Link

(6) Rat der Europäischen Union: »Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Brüssel, 22. und 23. März 2005, 7619/05, II. Neubelebung der Lissaboner Strategie: eine Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung«, http://ue.eu.int externer Link

(7) »Support the Commission Initiative Growth and Jobs - Presentation of UNICE Economic outlook Spring 2005«, www.unice.org externer Link; siehe auch »Die Strategie von Lissabon« unter: www.euractiv.com externer Link

(8) »McCreevy macht Unternehmen mobiler«, www.ftd.de externer Link

(9) Ebd.

(10) http://ec.europa.eu externer Link

(11) Positionspapier der Bundesregierung: »Globalisierung gestalten: Externe Wettbewerbsfähigkeit der EU steigern - Wachstum und Arbeitsplätze in Europa sichern«, www.bmwi.de externer Link


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