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Updated: 18.12.2012 15:51
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Zwangsemanzipation

Anne Allex über Frauenarmut trotz Frauenarbeit

Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland wuchs von rund 34 Mio. zu Beginn der 1990er Jahre auf aktuell 38,5 Mio. an. [1] Der Anteil von Frauen an den Erwerbstätigen war mit 47 Prozent noch nie so hoch. Trotz des relativ und absolut gestiegenen Anteils an der erwerbstätigen Bevölkerung ist das Leben von Frauen unsicherer, ihr Einkommen unstetiger und eine soziale Absicherung fast unerreichbar geworden. Sowohl die einstige Zuverdienerin im Westen als auch die ehemalige DDR-Vollzeitarbeiterin sind inzwischen zwar gleichermaßen gut qualifizierte, aber überwiegend ungeschützte Lohnarbeiterinnen geworden. Denn die Zahl Erwerbstätiger hat sich vor allem durch Minijobs [2] vermehrt, und diese werden zu mehr als zwei Dritteln von Frauen ausgeübt. [3]

Reguläre Vollzeit-Arbeitsplätze mit angemessener Bezahlung wurden dagegen massenhaft abgebaut; voll sozialversichert sind nur noch 25,84 Mio. Beschäftigungsverhältnisse. [4] Zwischen 1991 und 2004 verringerte sich die Anzahl der vollzeitbeschäftigten Frauen um 1,6 Mio. Neben dem Normalarbeitsverhältnis, d.h. sozialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsverhältnissen mit angemessener bzw. tariflicher Bezahlung existieren 12,6 Mio. prekäre Beschäftigungsverhältnisse: Mini- und Midijobs, Selbstständigkeit, befristete und Teilzeitjobs, Ein-Euro-Jobs und Arbeitsfördermaßnahmen. Zu diesen Formen im Folgenden einige Zahlen:

  • Von 4,3 Mio. Selbstständigen sind ein Drittel Frauen. [5] Die Quote selbstständiger Frauen an den Erwerbstätigen lag 2004 bei 7,9 Prozent, die der Männer bei 14,1 Prozent [6], wobei der Frauenanteil seitdem aufgrund der Einführung von Ich AGen und Existenzgründungen gestiegen sein dürfte, statistisch allerdings (noch) nicht erfasst ist.
  • Fast sieben Mio. Menschen arbeiten Teilzeit. [7] Die Anzahl teilzeitbeschäftigter Frauen wuchs zwischen 1991 und 2004 um insgesamt 1,8 Mio. an. [8]
  • In insgesamt 6,8 Mio. Minijobs waren im April 2006 zu drei Vierteln Frauen tätig. 4,86 Mio. Menschen lebten ausschließlich von ihrer geringfügigen Beschäftigung [9], weitere 1,7 Mio. übten ihren Minijob als Nebentätigkeit aus. [10]

Der Großteil ungesicherter, geringfügiger oder Teilzeitjobs wird von Frauen ausgeübt. [11]

Zur sog. »stillen Reserve«, d.h. den erwerbsfähigen Menschen ohne Arbeit und eigenes Einkommen, die von ihren PartnerInnen unterhalten werden, zählten 2004 rund 1,6 Mio. Menschen, davon 837000 Frauen. [12] Ihre Anzahl dürfte sich 2005 erhöht haben, und der Anteil der Frauen dürfte weiter zugenommen haben, denn etwa zwei Drittel der 180000 ALG II-Ablehnungsbescheide sollen lt. Angaben der Berater in Arbeitslosenzentren auf Frauen entfallen sein.

In der Statistik ist wenig zu finden zur Entwicklung des Gesamtarbeitszeitvolumens bzw. zur Anzahl der Beschäftigungen je Erwerbstätigem. Obwohl der Anteil der Frauen an den Erwerbstätigen nur knapp unter 50 Prozent liegt, liegen ihre Erwerbs-Arbeitszeiten und -Einkommen nach wie vor unter denen von Männern: Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit bei Männern liegt bei 40,2 Stunden, bei Frauen bei 30,8 Stunden. [13] Im Jahr 2004 erhielten 48 Prozent der vollzeitbeschäftigten Frauen Bruttoeinkommen bis zu 2000 Euro; bei den Männern waren es 29 Prozent. [14]

Unterm Strich hat sich also hinsichtlich der Teilhabe am Erwerbsleben und der Bezahlung wenig geändert: Frauen verdienen zwar mittlerweile mehrheitlich selbst Geld, doch dies reicht oft nicht zu einem selbstständigen Leben, während zugleich die materielle Unterstützung durch ihre Partner im Schwinden begriffen ist. Letzteres ist auch eine Folge der Änderungen in den Sozialversicherungen.

Insgesamt 4,7 Mio. Menschen erhalten Leistungen der Bundesagentur für Arbeit, darunter 46,7 Prozent Frauen und 53,6 Prozent Männer. 38 Prozent (absolut: 1669000) aller LeistungsempfängerInnen der BA fallen unter das SGB III (Arbeitsförderungsrecht, regelt u.a. das ALG I) und 62 Prozent (absolut: 5202000) unter das SGB II (sog. Hartz IV-Gesetz, regelt u.a. das ALG II). [15]

Neben den LeistungsbezieherInnen im engeren Sinne befinden sich zirka 400000 Erwerbslose in einer Vielzahl von Arbeitsfördermaßnahmen: Bundesweit gibt es 7800 ABM (je nach Arbeitszeit und entsprechender Bezahlung hätten viele von ihnen Anspruch auf aufstockendes Arbeitslosengeld II), 342000 ExistenzgründerInnen, darunter 238000 in einer Ich-AG, 6600 Beschäftigte in Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM), 24900 Menschen in Trainingsmaßnahmen, 28000 Personen mit Einstellungszuschuss und 17500 mit Einstiegsgeld nach § 29 SGB II. [16]

Seit dem 1. Februar 2006 haben sich die Möglichkeiten zum Bezug von Arbeitslosengeld I verschlechtert, insbesondere für Saisonkräfte, Kultur-, Kunst-, Medien- und andere unstetig oder befristet Beschäftigte. Aufgrund ihrer unstetigen Beschäftigung wird es diesem Personenkreis künftig kaum gelingen, innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist Ansprüche auf ALG I zu erwerben. Der Gesetzgeber bietet zwar für einen eingeschränkten Kreis von Selbstständigen eine freiwillige Arbeitslosenversicherung an, doch Anspruch darauf hat nur, wer vor Beginn der Selbstständigkeit innerhalb der genannten Zweijahresfrist zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war.

1. Frauen im Hartz IV-Leistungsbezug

2,97 Mio. erwerbsfähige Hilfebedürftige sind im SGB II eingeordnet, darunter 1,33 Mio. Frauen. Hartz IV produziert, zunächst ganz unabhängig vom Geschlecht, Armut: ALG II-EmpfängerInnen liegen mit 345 Euro Regelleistung und bundesdurchschnittlich zwischen 310 und 320 Euro Kosten der Unterkunft und Heizung unter der Pfändungsfreigrenze (938 Euro). Bei einer relativen Armutsgrenze von 60 Prozent des mittleren Einkommens (auf Basis des sog. Nettoäquivalenzeinkommens von zirka 1440 Euro entspricht dies 864 Euro) müssen etwa 65 Prozent der Hartz IV-Empfänger als arm gelten. [17]

Doch Hartz IV schafft nicht nur Armut, sondern auch neue bzw. alte Abhängigkeit: So kam es nach Inkrafttreten des Hartz IV-Gesetzes Anfang 2005 zu einem Heiratsboom, um die PartnerIn zu retten und den Fallstricken der sog. Bedarfsgemeinschaften zu entgehen. Zusammenwohnende, die weder eine Ehe eingehen noch eine Bedarfsgemeinschaft bilden wollen oder können, müssen sich bei einem ablehnenden ALG II-Bescheid entweder arrangieren oder gegen den SGB II-Träger klagen.

Mit der Familienversicherung im Rahmen des ALG II-Bezugs werden die Abhängigkeitsverhältnisse der Ehe nach Art der »orientalischen Hochzeit« erledigt: Die Jobcenter können festlegen, dass diejenigen, die eine geringere Aussicht auf Erwerbseinkommen haben, familienversichert werden. Das sind meist Frauen.

Durch das Hartz IV-Optimierungsgesetz und die damit verbundene Umkehrung der Beweislast haben diese Formen von Zwangsgemeinschaft bei Einkommensarmen noch zugenommen, denn eheähnlich Zusammenwohnende gleich welchen Geschlechts müssen den Behörden nun erst mal nachweisen, dass sie keine Bedarfsgemeinschaft bilden.

Erfahrungen aus der Beratungspraxis der Arbeitslosenzentren zeigen, dass allein erziehende Frauen im SGB II-Leistungsbezug stärker diskriminiert werden als andere Personengruppen. Gerade für diesen Kreis wird vermehrt über rechtswidrige Behandlung, Mobbing durch Unterstellungen und gezielte Kontrollen - z.B. bei der Nachweisführung in Bezug auf Bedarfsgemeinschaften - berichtet. Die geschlechtsspezifische Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz setzt sich auch in der Beratungspraxis der Agenturen fort: Frauen werden häufiger zu Ein-Euro-und Mini-Jobs angefragt und erhalten in Eingliederungsvereinbarungen entsprechende Auflagen. Frauen werden stärker als Männer im ALG II-Bezug mit Telefonabfragen, Hausbesuchen, Schnüffeleien im Privatleben, mit der Nachfrage nach Kontoauszügen oder Profilings belästigt. Alleinerziehende Frauen mit Kindern erhalten ungleich mehr rechtswidrige Aufforderungen zur Senkung der Unterkunfts- und Heizkosten durch die SGB II-Träger. [18]

2. Frauen in Hartz IV-Arbeit

Rund 900000 Erwerbstätige in Minijobs, Praktika oder ABM erhalten aufgrund zu geringer Verdienste aufstockendes ALG II auf Basis des SGB II, bundesweit hätten knapp zwei Mio. Erwerbstätige Anspruch auf ALG II. [19] Sie arbeiten in den typischen Niedriglohnsektoren: Gastronomie, Einzelhandel, Textilindustrie, Gebäudereinigung, Bewachungs-, Bau- und Speditionsgewerbe. 70 Prozent der im Niedriglohnsektor Arbeitenden sind Frauen. [20] Aus dem SGB II selbst erwächst kein Vermittlungsanspruch in den ersten Arbeitsmarkt. Die Eingliederung in Arbeit soll lediglich unterstützt werden mit Kann-Leistungen aus dem Leistungsbereich des SGB III (s. den entsprechenden Verweis auf das SGB III in § 16 Abs. 1 SGB II), Kann-Leistungen wie der Vermittlung von Suchttherapien, Kitaplätzen etc. aus dem SGB II selbst (§ 16 Abs. 2 SGB II) oder durch die Zuweisung in sog. Arbeitsgelegenheiten (§ 16 Abs. 3 SGB II). Eingliederung in Arbeit meint dabei lediglich die Erhaltung, Verbesserung und Wiederherstellung der »Beschäftigungsfähigkeit«, also kurze Trainingsmaßnahmen. Weil vom Gesetzgeber auch nicht mehr als der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit - statt längerfristiger Qualifizierungsmaßnahmen - intendiert ist, wurden 2005 folgerichtig überwiegend Arbeitsgelegenheiten zur Mehraufwandsentschädigung, sog. 1-Euro-Jobs, vergeben. Im vergangenen Jahr 2005 wurden bundesweit 590000 solcher Jobs gezählt. [21] Für Niedersachsen und Baden-Württemberg wird der Anteil der Frauen daran mit 35-40 Prozent ausgewiesen, die Anteile in den anderen Bundesländern dürften höher liegen, wie die Erfahrungen der Arbeitslosenzentren zeigen. [22]

Im April 2006 wurden 266844 »1-Euro-Jobs« gezählt, hinzu kamen zirka 16000 Arbeitsgelegenheiten zur Entgeltvariante (sog. Midijobs für 900 Euro Brutto als sozialversicherte Beschäftigung nach § 16 Abs. 3 des SGB II). Insgesamt sind dies 146000 Arbeitsgelegenheiten mehr als zum Vergleichszeitpunkt im Vorjahr.

Auch wenn im Politikerjargon die Rede von »Zusatz«- oder »Hilfs«-Jobs ist: Überwiegend verrichten »1-Euro-Jobber« und Beschäftigte mit Midijobs, zu denen auch FacharbeiterInnen und HochschulabsolventInnen gehören, ganz »normale« Erwerbsarbeit und ersetzen damit reguläre Beschäftigungsverhältnisse.

Eingesetzt werden sie vorrangig in den Bereichen Jugend, Soziales, Sport, Kultur, in der Denkmalpflege, Altenpflege, als Fahr- und Hausmeisterhilfen, bei der Straßenreinigung, Parkpflege, Pflege und Bewachung von Kinderspielplätzen, als HelferInnen in Kitas, Jugendheimen, Schulen und in der Öffentlichkeitsarbeit. Erwerbslosenorganisationen bezeichnen diese Massenerscheinung auch als »kommunalen Arbeitsdienst«, denn es werde eine der regulären Erwerbsarbeit inhaltlich gleichgestellte Arbeit verrichtet, allerdings ohne dass die Beschäftigten Arbeitnehmerrechte haben. Auch hier berichten MitarbeiterInnen der Arbeitslosenzentren, dass bevorzugt sehr gut qualifizierte Frauen (Sozialarbeit, Freizeit, Beratung, Pflege) als Ein-Euro-JobberInnen eingesetzt und deren Qualifikation und Berufserfahrung abgeschöpft würden. Die Ermessensentscheidung der Jobcenter, zur Unterstützung von Wiedereingliederungsmaßnahmen einen Kitaplatz zur Verfügung zu stellen, stellt sich vor diesem Hintergrund in einem anderen Licht dar.

3. Politische Bewertung

Die Hartz-Gesetze leiteten einen politischen Systemwechsel in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik ein. Es gilt das Prinzip »Leistung nur noch gegen Gegenleistung«. Auch die sog. »Grundsicherung« für Arbeitssuchende ist, anders als der Begriff nahe legt, kein unabhängiger Rechtsanspruch, denn jede/r ist angehalten, eigenverantwortlich dafür zu sorgen, dass er/sie keine Grundsicherung mehr bezieht. Im bisherigen Sozialhilferecht dagegen hatte die Sozialhilfeleistung zur Führung eines menschenwürdigen Lebens (wie bescheiden dies auch definiert war) den Vorrang vor Arbeitsgewöhnungsmaßnahmen: Das bedeutet konkret z.B.: Im bisherigen Bundessozialhilfegesetz konnte von der Ehefrau eines verunfallten, sozialhilfeabhängigen Arbeitnehmers nicht verlangt werden, eine Arbeit aufzunehmen. Nach der neuen Grundsicherung kann von der Ehefrau sehr wohl verlangt werden, z.B. ein unbefristetes Arbeitsverhältnis aufzugeben für ein befristetes, wenn dieses ein höheres Einkommen einbringt, weil dies die Grundsicherungsleistung reduziert. Förderte die bisherige Struktur der Sozialhilfe traditionale Lebensformen wie das am männlichen Alleinverdiener orientierte Familienmodell, stellt die Neuregelung formal auf Gleichberechtigung ab. Nach § 1 Abs. 1 Satz 3 SGB II gibt es keine privilegierten Rechtsansprüche für Lebensgemeinschaften, sondern formal gleiches Recht für Männer und Frauen: »Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und Personen, die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft leben, stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können. Sie soll erwerbsfähige Hilfebedürftige bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können. Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist als durchgängiges Prinzip zu verfolgen. Die Leistungen der Grundsicherung sind insbesondere darauf auszurichten, dass ... geschlechtsspezifischen Nachteilen von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen entgegengewirkt wird...«.

Damit ist nun jede/r Einzelne, gleich ob allein, verheiratet oder eheähnlich lebend, gezwungen, Arbeit anzunehmen, um Leistungen beziehen zu können. De Facto haben Bedarfsgemeinschaften gleich welcher Art Nachteile aus ihrem Zusammenleben, denn sie haben nicht nur einen geringeren individuellen Anspruch auf Leistungen, sondern oft auch noch das Problem, dass ihre Wohnung als zu groß gilt. Nach der o.g. Beweislastumkehr durch die Novellierung des SGB II zum 1. August 2006 müssen Zusammenwohnende gegenüber den SGB II-Trägern zudem noch beweisen, dass sie keine eheähnlichen oder lebenspartnerschaftsähnlichen Gemeinschaften sind. Können sie dies nicht, müssen sie laut Gesetz füreinander einstehen. Einen individuellen Rechtsanspruch auf Leistungen verweigert der Gesetzgeber also. Dies trifft bedürftige Frauen und Männer formal zunächst gleichermaßen.

Die spezifische Betroffenheit von Frauen erklärt sich daraus, dass Frauen zwar ebenso wie Männer individuelle Leistungen zu erbringen haben (ohne individuelle Rechtsansprüche zu haben), zugleich aber weiterhin strukturell am Arbeitsmarkt benachteiligt werden, ohne noch auf die dem korrespondierenden Formen familiärer Absicherung zurückgreifen zu können.

Die strukturelle Benachteiligung zeigt sich u.a. auch in dem eingangs dargestellten Phänomen eines Zuwachses an erwerbstätigen Frauen, der sich fast ausschließlich aus der Zunahme an prekären und gering entlohnten Beschäftigungsverhältnissen speist. Das Einzige, was das SGB II (Hartz IV) hier bietet, um geschlechtsspezifischen Diskriminierung entgegenzuwirken, ist eine lapidare Vorschrift in § 16: »Über die in Absatz 1 genannten Leistungen hinaus können weitere Leistungen erbracht werden, die für die Eingliederung des erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in das Erwerbsleben erforderlich sind; die weiteren Leistungen dürfen die Leistungen nach Absatz 1 nicht aufstocken. Zu den weiteren Leistungen gehören insbesondere ... die Betreuung minderjähriger oder behinderter Kinder oder die häusliche Pflege von Angehörigen«

Für die betroffenen Frauen dürfte es schwer sein, bestehende Diskriminierungen mit dieser Kann-Leistung zu überwinden: Zum einen gibt es Kita-Plätze in hinreichender Anzahl nicht, zum anderen dürfte das Geld, das es bei den Eingliederungsmaßnahmen in Arbeit gibt, kaum ausreichen, um diese Plätze zu bezahlen. Dies gilt genauso für die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger.

Der Sozialpsychologe Peter Brückner stellte bereits Anfang der sechziger Jahre fest: »Die rechtliche Gleichstellung der Frauen hat es in der Tat erleichtert, sie schutzloser zu lassen und sie industriell auszubeuten. Brüderlichkeit war nicht das Ziel der Gleichstellung, die Emanzipation der Frau musste gelingen, weil ihre Arbeitskraft benötigt wird. Seither können Haushaltsführung und Kindererziehung einer Frau kaum noch soziale Sicherheit vermitteln oder die Prämie einer öffentlichen Anerkennung einbringen. Sie ist insofern unser, der Männer »Bruder« geworden, als sie jetzt innerhalb der Arbeits- und Geldsphäre mit uns rivalisieren kann. Eine Frau ist wie ein Mann, der Kinder kriegt. Als die Vermehrung der Nation um des Krieges und der Eroberung willen Programm wurde, Kindergebären wieder als Tugend galt, bedurfte es der Verleihung eines »Mütterehrenkreuzes«, um die Dynamik dieser gesellschaftlichen Entwicklung wenigstens partiell zu verzögern und die Frau in Haus und Bett zurückzubetrügen.« [23]

Mit den Reformen des Arbeitsmarktes und der Sozialleistungssysteme wird nunmehr das kapitalistisch objektiv intendierte Ziel der Emanzipation der Frau vollzogen: Vernutzung und Verwertung ihrer Arbeitskraft als »kinderkriegender Mann«.

Mit der ehemaligen Arbeitslosenhilfe bzw. der Sozialhilfe konnten nicht-erwerbstätige Frauen sich und ihre Kinder auf einem untersten Existenzniveau minimal sozial absichern und vor Abhängigkeit schützen. Mit Wegfall des Rechtsanspruchs auf Sozialhilfe und einem schwieriger zugänglichen ALG II entfallen für Frauen solche Formen sozialen Schutzes.

Doch Hartz IV ist nicht ausschließlich ein Armutsbeförderungsgesetz, sondern sollte, so die Vorstellungen von Peter Hartz zu der von ihm mitbeförderten »Job-Revolution«, die Figur des Arbeitskraftunternehmers etablieren. Was dies für Frauen bedeutet, führt Frigga Haug aus: »Waren Frauen im alten fordistischen Modell zuständig für die psycho-physische Balance, für Freizeit, Gesundheit, Ernährung, Erziehung - sind sie bei Hartz doppelt freigesetzt. Sie sind ihre Abhängigkeit vom Ernährer ebenso los wie diesen selbst.« [24] Weiter führt sie aus: »Kinder im alten Sinn tauchen bei Herrn Hartz ... nur kurz als Aufgabe auf, die mittels Training zu lösen ist - als individuelles Problem der Gestaltung des >work-balance-modells<«, wie z.B. die junge Mutter mit Laptop, Aktentasche, Einkaufstüte und Baby auf dem Arm. Hartz IV löst das Familienernährermodell komplett auf und ersetzt es durch ein generelles Einstehen füreinander in Zweckgemeinschaften jeglicher Art.

Bisher galt qua Artikel 6 des Grundgesetzes (Schutz von Ehe und Familie), dass diese Gemeinschaften einen besonderen Schutz genießen. De facto werden diesen Formen von Reproduktions-Gemeinschaft immer mehr soziale Rechte entzogen, während ihnen zugleich mehr Verantwortung übertragen wird. Und während Frauen einerseits »zwangsemanzipiert« und im Sinne der Verwertung ihrer Arbeitskraft den Männern gleichgestellt werden, werden ihnen andererseits Verantwortlichkeiten übertragen, die sich nur noch aus überkommenen Formen der innerfamiliären Arbeitsteilung im Rahmen des sog. Normalverdiener-Modells herleiten lassen.

Die alleinige Forderung nach gleicher Teilhabe von Frauen an der Erwerbsarbeit ist daher heute mehr denn je reaktionär, wenn sie nicht mit dem Verlangen nach existenzsichernder Bezahlung und sozialer Absicherung inner- und außerhalb der Erwerbsarbeit gestellt wird.

4. Forderungen und Widerstand

Die Vielfältigkeit des Abbaus verfassungsmäßiger Rechte verlangt von politischen Bewegungen, sich nicht auf einzelne Forderungen zu beschränken. Deshalb gewinnt das programmatische Forderungspaket des Runden Tisches der Erwerbslosen- und Sozialhilfeorganisationen von 2003 an Bedeutung: Angesichts der wachsenden Armut und Ausgrenzung von großen Gruppen von Frauen, Männern, Kindern und Alten einen individuell garantierten Rechtsanspruch in Form eines bedingungslosen Grundeinkommens von 850 Euro plus volle Wohnkosten und Krankenversicherung, einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn für alle Beschäftigten von 1670 Euro Brutto (10 Euro Brutto pro Stunde), eine allgemeine generelle Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, eine Legalisierung des Flüchtlingsrechts und des Aufenthalts Illegalisierter, die kostenlose Zurverfügungstellung sozialer Infrastruktur und eine Vergesellschaftung der öffentlichen Infrastruktur (Wasser, Gas, Strom, Transport, Information). Selbstverständlich erfordert dies auch eine andere Ausrichtung der gesamten Finanz- und Steuerpolitik, die zu Lasten der Konzerne gehen würde.

Unsere Forderungen sind antikapitalistisch, und sie gehen nicht in den Mitgestaltungsexperimenten linker Parteien auf, die damit bislang immer noch jämmerlich gescheitert sind.

Eine Entwicklung antikapitalistischen Widerstands muss auf allen Ebenen ansetzen. Doch eine zentrale Voraussetzung ist auch die Entwicklung sozialer und politischer Beziehungen auf ,gleicher Augenhöhe'. Dies verlangt auch eine Reflexion der sozialen Lebenslage bei den Linken selbst, um überhaupt fähig zu werden, gemeinsame Ziele zu formulieren und diese beharrlich zu verfolgen.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11/06

Anmerkungen:

1) Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BfA), Monatsbericht April 2006. Aus Gründen der besseren Vergleichbarkeit wird hier und im Folgenden auf diesen Monatsbericht zurück gegriffen.

2) Eine geringfügige Beschäftigung (sog. Minijob) liegt vor, wenn das Arbeitsentgelt regelmäßig 400 Euro im Monat nicht überschreitet. Für eine geringfügige Beschäftigung zahlt der Arbeitgeber eine pauschale Abgabe von 30 Prozent (bis 30. Juni 2006 25 Prozent). Davon entfallen auf die Rentenversicherung 15 Prozent (bis 30. Juni 2006 zwölf Prozent), auf die Krankenversicherung 13 Prozent (bis 30. Juni 2006 elf Prozent) und auf die Pauschsteuer zwei Prozent.

3) »Arbeitsmarkt: Strukturwandel und Reformen erhöhen Frauenerwerbstätigkeit«, in: FAZ, 20. Januar 2005

4) BfA, Monatsbericht April 2006

5) »Arbeitsmarkt: Strukturwandel und Reformen...«, a.a.O.

6) Ebd.

7) Berliner Zeitung, 14./15. Juni 2003

8) Wera Richter: »Tatort Arbeitsmarkt«, in: junge welt, 19. April 2006

9) BfA, Monatsbericht April 2006

10) Peter Bartelheimer: »Was kommt wann - Das Mengengerüst der Wirkungsforschung«, Forschungsprojekt »Monitor Arbeitsmarktpolitik«, Foliensatz und Material, vorgestellt auf der Beiratssitzung am 16. Februar 2006, S. 12

11) »Gleiche Chancen für Frauen«, Antrag an die Landeskonferenz des AsF Bayern 2002, S.1/2.

12) Elke Holst/Jürgen Schupp: »Stille Reserve ist wichtig für die Arbeitsmarktflexibilität in Deutschland«, in: Wochenbericht des DIW, Nr. 29/30, in: www.diw.de/deutsch/produkte/publikationen/

13) Wera Richter, a.a.O.

14) Tatjana Fuchs: »Prekäre Arbeit auf dem Vormarsch«, PDF-Dokument, www.isw-muenchen.de, Hrsg.: ISW (Institut für ökologische Wirtschaftsforschung München e.V.) 2005

15) BfA, Monatsbericht April 2006

16) BfA, Monatsbericht April 2006

17) Irene Becker/Richard Hauser: »Auswirkungen der Hartz IV-Reformen auf die personelle Einkommensverteilung«, Studie im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung, Auszüge in: Böckler-impuls, 22. Februar 2006, S. 1

18) Erfahrungen aus der Dokumentation der Kampagne gegen Zwangsumzüge Berlin, April 2006 (Vgl. Kurzfassung in express, Nr. 5 und 6/2006)

19) Vgl. »Millionen arbeiten auf ALG II-Niveau«, in: express, Nr. 9-10/2006, S. 8

20) Tatjana Fuchs, a.a.O.

21) Dossier des ver.di-Erwerbslosenausschusses Berlin, März 2006, S. 1

22) Da die Regionaldirektionen und die ARGEn frei sind in der Wahl der Daten, die sie erheben und dokumentieren, liegen für andere Bundesländer keine vergleichbaren Zahlen vor.

23) Peter Brückner: »Freiheit, Gleichheit, Sicherheit. Von den Widersprüchen des Wohlstandes«, Berlin 1965, S.90

24) Frigga Haugg: »Schaffen wir einen neuen Menschentyp«, Das Argument 252/2003, S. 616


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