letzte Änderung am 11. Juli 2002 | |
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Abseits der geplanten »Reformen« im staatlichen Gesundheitswesen läuft schon lange ein groß angelegter Praxistest, der Aufschluss darüber gibt, wie weit die Individualisierung der Verantwortung für die Gesundheit getrieben werden kann. Wo lässt sich wirkungsvoller gegen den angeblichen »Volkssport Blaumachen« zu Felde ziehen als in Unternehmen und Verwaltungen, in denen anschaulich zu verfolgen ist, wie seit Anfang der 90er Jahre aus dem immer nur gesellschaftlich zu begreifenden Phänomen Krankheit ideologisch zunächst die Absentismusrate und dann das Fehlzeitenmanagement wurde.[1] Der »Erfolg«: Nachdem die durchschnittliche Rate des Krankenstands in der Bundesrepublik rund 40 Jahre lang immer um die im Vergleich zu anderen Ländern ohnehin niedrigen fünf Prozent herum pendelte, ist sie seitdem auf mittlerweile knapp über drei Prozent gesunken. Und dies nicht, weil Krankheiten aus der Welt geschafft worden wären, sondern indem das Kranksein sanktioniert wurde. Bei den Mitteln, die dafür zur Verfügung stehen, zeichnet sich indes eine Veränderung ab. Während das Potential standardisierter Instrumente des »Fehlzeitenmanagements« wie prototypisch des »Anwesenheitsverbesserungsprogramms« bei Opel mit seinen gestuften Rückkehrgesprächen ausgeschöpft scheint, deutet sich ein vermehrter Einsatz individualisierter Fehlzeitkontrollen an. Hermann Bueren hat die auf dem Beratermarkt zirkulierenden Konzepte des Fehlstandsmanagements in seiner Publikation »Weiteres Fehlen wird für Sie Folgen haben!« zusammengetragen. Wir dokumentieren daraus ein für den express leicht überarbeitetes Kapitel zur »Fehlzeiten-Einzelberatung« des »Simulanten«jägers Michael Schmilinsky.
1986 fing alles an. Michael Schmilinsky, gelernter Diplom-Kaufmann, arbeitete in Genf bei der Firma Du Pont de Nemours als Trainer, spezialisiert auf die Bereiche Mitarbeitermotivation und Gesprächssysteme. Als er von einem seiner Kunden, Personalleiter der Teroson GmbH in Heidelberg, gefragt wurde, ob er mit Fehlzeitenschulungen für Meister dienen könne, erkannte er hierin eine große Chance zur Erweiterung seines bisherigen Arbeitsbereichs. »Als langjährige Führungskraft einer US-Firma mit europäischem Sitz in Genf«, erklärt er zurückblickend, »war mir das Absentismusproblem noch nicht begegnet. Also Neuland: und ich hatte Lust auf eine neue Herausforderung.«[2]
Was Schmilinsky als persönliche Herausforderung schildert, war gleichzeitig die Entstehung eines neuen Zweiges in der Unternehmensberatung: Die Fehlzeitenberatung erblickte das Licht der Welt. Sie entwickelte sich zum eigenständigen Bereich innerhalb des breiten Spektrums der Betriebs- und Managementberatung. Dieser Zweig ist bunt gemischt: Neben den Krankenkassen sind hier externe Berater und private Institute aus dem Bereich Psychologie, Kommunikation und Management tätig.
Schon 1987 tauchten in verschiedenen Arbeitgeberzeitschriften und Fachzeitschriften für Personalmanagement erste Artikel zum Thema Fehlzeitenreduktion und Rückkehrgespräche auf, geschrieben von Autoren, die sich gleichzeitig den Firmen als Berater anboten. Neben Schmilinsky ist hier Peter Nieder zu nennen, der Ende der achtziger Jahre an der Universität Bremen arbeitete und eine eigene »Organisationsberatung für Information Motivation Akzeptanz Reaktion« (IMAR) unterhielt. Dazu gehört auch Josef Pohen, ehemaliger Personaldirektor der Philips GmbH, der zu diesem Thema publiziert und sein Wissen bereits seit Ende der achtziger Jahre auf Seminaren der Arbeitgeber weiter vermittelt. Später kamen andere hinzu. Zum Beispiel Bernd Bitzer, ehemaliger Mitarbeiter von Nieder in Bremen. Er empfiehlt den Unternehmen, »Fehlzeiten durch intelligente Menschenführung« zu begreifen und bezeichnet Erkrankte in seinen Veröffentlichungen als »Edelabsentisten«.[3]
Wie Nieder und Bitzer kommen einige dieser Berater aus den Bereichen Organisation und Personal der Uni-versitäten. Andere, wie Schmilinsky und Pohen, haben zuvor selbst Führungspositionen in Industrie, Dienstleistung oder in der öffentlichen Verwaltung bekleidet. Für ihre Rolle als Unternehmensberater scheinen sie damit geradezu prädestiniert. (...)
In vielen Betrieben hat sich Schmilinsky nach eigenen Worten den Ruf eines »Fehlzeiten-Gurus« erworben, der Probleme in diesem Bereich radikal löst und obendrein Hunderttausende von Euro eingesparter Krankheitskosten in die Firmenkasse zurück spült. In manchen Betrieben führt sein Auftreten aber eher zu einer Polarisierung zwischen Management und Interessenvertretung der Beschäftigten. Letztere wehren sich, wenn das Management plant, Schmilinskys Beratungsleistung in Anspruch zu nehmen oder seine Fehlzeitenschulungen im Betrieb durchführen zu lassen.
Wenn die Medien spektakuläre Äußerungen zum Thema Fehlzeiten suchen, was immer dann eintritt, wenn in der BRD über den »Volkssport Krankfeiern« diskutiert wird, ist Schmilinsky zur Stelle und begehrter Interviewpartner. Zwei, drei Sätze reichen ihm, grollend sein Lieblingsthema runter zu rasseln: Das leichtfertige Krankschreiben der Ärzte, die auf Kosten der Wirtschaft ihren Kundenstamm sichern; das weitmaschige So-zialnetz in der BRD, das jeden Blaumacher geradezu einlädt, es sich in der sozialen Hängematte gemütlich zu machen; die schlappen Werksleiter, die ihren Laden nicht im Griff haben und bei ihrem Versuch, den Blaumachern an den Kragen zu gehen, vor ihren Betriebsräten buckeln. In seinen Rundumschlägen lässt er niemanden aus, auch nicht das oberste Management. Diesem wirft er eine Strategie der Konfliktvermeidung gegenüber Erkrankten vor.
Fragen weicht er nicht aus, er wartet förmlich darauf. Seine Antworten sind knapp und polemisch. Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung? »Die deutschen Unternehmen haben viel zu spät angefangen, sich zu wehren und den Wahrheitsgehalt des gelben Scheins anzuzweifeln.« Erkrankte Beschäftigte? »Perfekte Gauner. Die feiern krank, obwohl sie arbeiten könnten.« (...) Fehlzeitenmanagement? »Firmen, die das verschlafen ich nenne sie Gurken GmbHs , haben irgendwann nur noch die Schwächsten.« Sein Rat an Kunden? »Mit der eisernen Hand in Samthandschuhen durchgreifen.«[4]
Ohne Frage: Schmilinsky will provokant sein. Das unterscheidet ihn von anderen Fehlzeitenberatern. Deren Ansprüche, den Erkrankten Fürsorge angedeihen zu lassen, ihre Motivation und Kommunikation zu fördern, sind Schmilinskys Sache nicht. Dieses Vokabular, mit dem Maßnahmen des Fehlzeitenmanagements üblicherweise begründet werden, kennt und benutzt er bisweilen auch, aber nur zur Füllung und Abrundung. Auch mit Fragen der Standardisierung und Stufung der Gespräche hält sich Schmilinsky nicht auf. Sein Kon-zept ist einfach und eindeutig: Aufspüren des Betrugs; alle diejenigen unter den Erkrankten heraus fischen, die kommen könnten, aber lieber zu Hause bleiben.
Man spürt die kriminalistische Leidenschaft, die Schmilinsky in seinen Seminaren auch an Meister und Vorgesetzte weitergibt. Ein großer Teil seines Seminar- und Fehlzeitenkonzepts besteht aus der Vermittlung von Tricks und Verhaltensratschlägen zur Einschüchterung von zurückkehrenden Erkrankten und zum Ausspionieren ihrer Krankheitsgründe. Seitenweise publiziert er Fragensammlungen, mit denen Vorgesetzte wahlweise ihre Beschäftigten »einlullen« oder »einschüchtern«, ihre Krankheitsgründe »erkunden« und auf ihr Verhalten »einwirken« sollen. Aus diesen Fragekatalogen einige Beispiele im Original[5]:
»Erkundungsfragen: Wie ist Dir das passiert; worunter hast Du besonders gelitten; worauf führst Du Deinen Ärger zurück; (...) welche Art von Fortbildung würdest Du erwägen; welche Empfehlungen Deines Arztes sollten wir kennen?
Einwirkungsfragen: Solltest Du Dich nicht etwas schonen; hättest Du nicht eine Kur verdient; wäre eine gründliche Untersuchung nicht zu erwägen; sollten wir uns nicht gelegentlich mal über Fortbildungsmaßnahmen unterhalten; wäre es nicht gut, eine leichtere Tätigkeit zu akzeptieren?«
»Erkundungsfragen: Für wann planst Du den nächsten Gelben; wie bist Du aufs Blaumachen gekommen; wie lange, meinst Du, dulden wir das noch; war dem Arzt bei der Krankschreibung wohl; warum wechselst Du so oft den Arzt; welchen Kollegen sollten wir als Deinen Nachfolger aufbauen; welche Gründe könnten Deine Clubkameraden haben, mit einem stadtbekannten Blaumacher Tennis zu spielen?
Einwirkungsfragen: Haben die Kollegen nicht recht, sauer zu sein; weißt Du eigentlich nicht, was Du uns kostest; wäre es nicht gut, Du würdest selber kündigen; was willst Du eigentlich noch bei uns; wozu bist Du überhaupt noch zu gebrauchen; wie kann ein Kerl wie Du nur so wehleidig sein; schämst Du Dich denn wirklich nicht; hat Deine Freundin Gabi nicht gute Gründe, über Deine berufliche Zukunft besorgt zu sein?«
Seinem Klientel empfiehlt Schmilinsky, diese Fragensammlungen als Spickzettel zu benutzen. »Diesen sollten sie immer in ihrer Schreibtischschublade haben, um sich bei jedem Fehlen Ideen zu holen ....«
Die Fragen erinnern an ein Verhör. Respekt bleibt dem Beschäftigten versagt, jegliche Rücksichtnahme ge-genüber dem Erkrankten unterbleibt. Schmilinsky hat sich das Ziel auf die Fahnen geheftet, Fehlzeiten zu mindern, egal wie. Zu der Frage, ob seine Methoden legitim sind, ist seinem Schulungskonzept nichts zu entnehmen. Das deutet eher darauf hin, dass er von erkrankten Beschäftigten eine klar umrissene Vorstellung hat: Sie gelten ihm als Scheinkranke, Simulanten und Betrüger.
Wie ein roter Faden durchzieht diese Vorstellung Schmilinskys Konzept. »Zielsetzung eines Fehlzeitengesprächs«, sagt er, »ist es, vom Mitarbeiter Gründe für sein Fehlen zu erfahren, die in der persönlichen Situation, der familiären Situation oder der betrieblichen Arbeitssituation liegen können, d.h. konkret die Probleme des Mitarbeiters herausfinden. Dabei ist es notwendig, dass der Mitarbeiter spricht, und nicht, wie bei vielen Mitarbeitergesprächen zu beobachten, dass der Vorgesetzte selbst viel redet«. Von den Vorgesetzten fordert er, sich immer Haupt- und Nebenziel dieses Gesprächs vor Augen zu führen. Hauptziel sei es einzig und allein, Beweise zu finden, Klarheit zu gewinnen, ob der Mitarbeiter wirklich krank war oder simuliert hat. Und das Nebenziel sieht er darin, »die Zunge des Mitarbeiters durch Klimapflege lange genug gelöst zu halten, bis das Hauptziel erreicht ist«. Dass ein solcher Beweis manchmal nicht in einem Gespräch zu erbringen ist, weiß Schmilinsky. Deshalb empfiehlt er Vorgesetzten im ersten Schritt die Einlullstrategie: Am Tag der Rückkehr des Erkrankten mit dem Gespräch beginnen, dabei zuerst einmal den Beschäftigten in Sicher-heit wiegen, in den folgenden Tagen Fragen nach seiner Erkrankung nebenbei und in anderen Worten zu wiederholen. »Einlullfestigung« heißt das im Vokabular Schmilinskys.
Wenn das nicht reicht, erfolgt der nächste Schritt: die Erkundungsphase. Sie dient dazu, die nötigen Auskünfte zu erlangen, die der Vorgesetzte für eine Einschätzung braucht, ob er es mit einem Erkrankten oder einem Simulanten zu tun hat. Der Vorgesetzte geht nun auf den Rückkehrer zu und überrumpelt ihn mit möglichst geschickten Fragen. Auch für diese Situation hat sich Schmilinsky eine Palette von Fragemöglichkeiten ausgedacht, beispielsweise:
»Ich weiß, Sie mögen Ihren Arbeitsplatz und Ihren Kollegenkreis und würden ungern z.B. wegen gesund-heitlicher Belastung versetzt werden. Um Ihnen diesen Arbeitsplatz so wie er ist oder mit nötigen Änderun-gen möglichst zu erhalten, erlaube ich mir, im Interesse Ihrer Freude an der Arbeit und Ihrer Gesundheit einige Fragen zu stellen. Da helfen sie mir doch sicher gerne? Das finde ich chic, besten Dank.«
»Im Zusammenhang mit der baldigen Besetzung der tollen neuen Maschine sollten wir etwas über Ihre körperliche Belastbarkeit sprechen; es geht um Ihre Zukunft. Mir passts Mittwoch um 11.15 Uhr. Ok? Gut so.«
»Ich erwäge für Sie Qualifizierungsmaßnahmen für anspruchsvollere Verantwortungen, muss aber wegen der dadurch entstehenden Fortbildungskosten & Ihrer Belastung durch Reisen an die entfernten Kursorte nach oben rechtfertigen können, dass sie als der richtige Mann diesem fordernden Stress gewachsen sein werden. Daher einige Fragen zu Ihrer Gesundheit. Das passt Ihnen wie ich sie kenne sicher? Gut.«
Diesem Überfall, dem sich Beschäftigte kaum entziehen können, folgt das Erkundungsgespräch. Es dient dazu, herauszufinden, ob eine echte Erkrankung und welche Diagnose vorliegt. Auch hierfür hat der Fehlzeitenberater nützliche Tipps und Hinweise. Er empfiehlt den Vorgesetzten, mit Bauernschläue vorzugehen, denn die Beschäftigten sollen möglichst nicht merken, wie ihnen mitgespielt wird: »Nicht verhörend, aushorchend und inquisitorisch wirken, da sonst zugenähter Mund. Erkundungsfragen sollten allgemein, schwammig & dümmlich wirken, also nicht nach Daten, Uhrzeiten, Fiebergraden, Häufigkeiten usw. fragen. Zeigen Sie deutlich medizinische Ignoranz.«
Zur Tarnung der Absichten empfiehlt Schmilinsky den Vorgesetzten auch, keine Protokolle oder Notizen im Beisein des Beschäftigten anzufertigen. »Da die meisten Mitarbeiter Verdacht schöpfen, wenn der Chef protokolliert, machen Sie sich bitte erst nach dem Gespräch Notizen, diese aber sofort und detailliert. Diese Notizen besprechen Sie mit Ihren Helfern (zum Beispiel mit Ihrem Vorgesetzten und/oder dem Personalleiter), und Sie planen mit deren Hilfe das nächste Erkundungsgespräch; ferner erarbeiten Sie gemeinsam, welche anderen Beweismittel wie Zeugen, Urkunden oder Sachverständige Sie sich besorgen sollten, und Sie prüfen, welche anderen Saiten Sie demnächst aufziehen sollten.«
Nun folgt die Einwirkungsphase als dritter Schritt. Welche Form der Einwirkung der Beschäftigte über sich ergehen lassen muss, hängt von den Ergebnissen der Erkundungsphase ab. Schmilinsky unterscheidet drei Fälle.
Fall 1 ist der einfachste. Das Ergebnis der Erkundung führt zu der Einschätzung, dass der Beschäftigte tatsächlich krank war. Dann hat der Vorgesetzte die Aufgabe, für die Informationen zu danken und ihm beste Wünsche für die Zukunft zu übermitteln. Doch über soviel Anteilnahme sollte sich sein Gesprächspartner nicht zu früh freuen. Die Sache hat nämlich einen Haken: Ist die Erkrankung selbstverschuldet, »wenn etwa gefährliche Sportarten; Übergewicht, falsches Fahrverhalten, Missachtung der UVV (Unfallverhütungsvorschrift, H.B.) oder Alkoholmissbrauch die Anwesenheit des Mitarbeiters gefährden«, soll der Rückkehrer eine Vereinbarung unterschreiben. In dieser Zielvereinbarung wird dann festgehalten, wie und bis wann der Beschäftigte die Ursachen für die selbstverschuldete Erkrankung abzustellen hat.
Fall 2 ist schwieriger, weil nicht eindeutig: Das Ergebnis der Erkundung hat nicht genügend Klarheit erbracht. Der Vorgesetzte weiß noch immer nicht genau, ob er einen Simulanten oder Erkrankten vor sich hat. Dann hat er die Aufgabe, ihn weiter zu bearbeiten. Je nach persönlicher Vorliebe des Vorgesetzten oder mutmaßlichem Charaktertyp des Beschäftigten Schmilinskys Einteilung der Beschäftigten reicht von »nett«, »Sensibelchen« bis »Hartgesotten« kann er nun auswählen zwischen zwei Beeinflussungsvarianten.
Variante 1: »Mir scheint, das Vertrauen zwischen uns hat gelitten; wie sehen Sie das, und was würden Sie an meiner Stelle tun? Bisher habe ich Sie geschont, aber ich gefährde mich dadurch selber. Was raten Sie mir? Ich mag sie gern, arbeite gern mit Ihnen zusammen; aber der Direktion gegenüber gehen mir langsam die Argumente aus; Was könnten Sie da tun, um mir zu helfen? Ich habe auch Tage, an denen ich mich frage, ob ich nicht besser im Bett bin; doch rettet mich mein Pflichtgefühl immer.« (...)
Variante 2: »Für wen planen Sie Tolpatsch die nächsten Feierschichten? Für Leute mit dieser widerlichen Haltung bin ich offenbar zu nett; Sie werden sich wundern, wie brutal ich sein kann, wenn die Lage es fordert. Gestatten Sie eine sehr deutliche Frage: Sollte ein Vorgesetzter bei Leuten, die sein Verhalten so schamlos missbrauchen, eher den gutmütigen Trottel spielen, oder eher scharf zuschlagen? Was raten Sie mir für Ihren Fall. Ich bin zäh, besser jetzt die Wahrheit sagen und damit eine Chance für Ihre Zukunft, als wenig später unser brutales Zuschlagen. Sagen Sie doch Ihrem Medizinmann bitte, dass er durch seine lockere und nur für ihn profitable Gelbscheinschieberei Ihre berufliche Zukunft in den Bach haut.«
Fall 3 ist wieder einfach. Die Erkundung führt zu dem Ergebnis, dass der Beschäftigte nachweisbar nicht krank war. Dann kann der Vorgesetzte je nach Stimmungslage oder charakterlicher Verfassung seines Gesprächspartners entscheiden, ob er ihm die Kündigung mitteilt oder ihm eine letzte »Chance« gewährt. Gegenüber den »hartgesottenen« Beschäftigten empfiehlt Schmilinsky, die reine Mitteilungsform zu wählen: »Folgende Schritte führen zu Ihrer Entlassung (sich daher vorher bei der Personalabteilung klug machen). Hier unsere Beweismittel und die für uns solide rechtliche Grundlage: ...«
Andere Fälle haben eine letzte Bewährungschance: »Sie machen mir Sorgen: Die Direktion hat Sie deutlich im Visier; Sie sind schon fast gefeuert, doch will ich Ihnen gerne helfen, wenn Sie wenigstens mitmachen. Sie gefährden Ihre Stelle und Ihre Aufstiegsmöglichkeiten; das ist schade. Zum Thema Ihrer Arbeitslosigkeit ein persönlicher Tipp: Überzeugen Sie uns schnell, dass Sie ihr Verhalten ändern können; eine Schonfrist von drei Monaten setze ich oben für Sie durch, mehr nicht. Machen wir einen Vertrag über drei Monate; dann kann ich der Direktion sagen: Ich hab den Mann gerettet. Ok? ...«
Mit diesem Konzept zur Durchführung von Fehlzeitengesprächen erfreute sich Schmilinsky einer stetig wachsenden Anhängerschar in den deutschen Unternehmen. Eine gewisse Änderung trat 1995 ein. AVP das Fehlzeitenkonzept der Firma Opel wurde unter dem Titel »Einer fehlt, und jeder braucht Ihn!« als Buch veröffentlicht. Schnell nahm es einen ähnlichen Aufstieg wie zuvor Schmilinskys Konzept. Plötzlich redeten alle über AVP, das Interesse der Medien war ungeheuer groß. Auf Fehlzeitenkongressen und Seminaren in Arbeitgeberkreisen war der »Anwesenheitsverbesserungsprozess« das Thema. Aufmerksamkeit erregte besonders der vierstufige Aufbau des Instruments und die detaillierten Leitfäden zur Durchführung der Gespräche. Für Schmilinsky war diese Entwicklung ein Anlass, über die geistigen Fähigkeiten seiner Kunden nachzudenken. »Wieder einmal zeigt sich«, sinnierte er im Rückblick auf eine Tagung, an der er 1997 in Berlin teilnahm, »dass die ihr kluges Fehlzeitenkonzept darlegenden Redner aus namhaften Unternehmen zwar ihre globalen Krankenstandszahlen kennen, nicht aber die Frage beantworten können, was sich im Einzelnen dahinter verbirgt und welche Senkungspotentiale pro Kategorie errechnet worden sind.« Er attestierte seinem Klientel Unkenntnis, denn »Hunderte von Firmen werden aktiv, ohne zu wissen, welche spezifischen Ziele sie erreichen können und anstreben sollten, weil sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben.«
Plötzlich begann er auch, Fehlzeitengespräche zu kritisieren. Besonders AVP nahm er aufs Korn. »Solche Strategien«, schimpfte er, »leiden unter undifferenziertem Schlichtdenken. Standardgespräche, ob nett, scharf oder irgendwo dazwischen, sind genauso töricht wie etwa eine Breitbandtherapie gegen Knochenbrüche, Malaria und Schuppenflechte. Firmen, die Unschuldslämmer und Gewitzte durch die gleiche und sich steigernde Beschuldigungszeremonie hetzen, senken zwar kurzfristig das Blaumachen über den Angstfaktor, vergiften aber das Betriebsklima über Jahre.«
Deutet sich hier Einsicht an, wenn auch reichlich spät? Der Eindruck täuscht. Die Distanzierung von AVP dient vor allem dazu, sein neues Produkt namens »Fehlzeiten-Einzelberatung«, das er inzwischen zur Anwendungsreife entwickelt hat, marketingmäßig herauszustellen. Unter der Überschrift »Kultur der Kundennähe« wirbt er seit 1997 für dieses Produkt bei seinen Kunden. Erklärung und Kritik dieses Produkts sind eigentlich überflüssig. »Denken bedeutet: Differenzieren« spricht für sich hier ein Auszug:
»April 1997 schlug mir ein Hanauer Anlagenbauer vor, in Einzelberatungen mit DV (direkte Vorgesetzte, d.h. Meister, Schichtführer, Gruppenleiter usw.) schwer einstufbare Fehlzeitkünstler analytisch aufzufächern, fer-ner Strategien, Maßnahmenkataloge und Gesprächspläne mit ausgefeilten Formulierungen zu entwickeln. (...)
Da hat es bei dem alten Marketinghasen Schmilinsky seit 1960 im internationalen Verkauf kräftig geklingelt: Wenn ein knackiger »hi-tec« Kunde, der mich als Persönlichkeit und als Fehlzeitentrainer gut kennt, von mir ein neuartiges Fehlzeitenberatungsprodukt wünscht, dann darf ich nicht schlummern. Bei der ersten Chance 1986 in Heidelberg ging es mir eher ums Geldliche; diesmal vor allem um das Vergnügen, mich mit 61 Jahren und finanziell sorglos noch einmal im Markt als Pionier zu bewähren, als Innovator neuen geistigen Reiz zu erleben.
Für eine erste Übung sagte ich dem innovationsfreudigen Mittelständler den 14. Mai 1997 zu. Er sorgte dafür, dass jeder DV für seine als Fehlzeiten-Problemfälle eingestuften Mitarbeiter detaillierte An-/Abwe-senheitsstatistiken der letzten fünf Jahre mitbrachte. Ich hatte, meinerseits, für diese gemeinsame Analysearbeit einen verästelten Fragenkatalog entwickelt, bei dessen Ausfüllen sich zeigte, dass in der Mehrzahl der Fälle Mischformen aus verschiedenen Elementen vorlagen, wie etwa:
A: Echte Arbeitsunfähigkeiten aufgrund von Krankheiten bzw. Unfällen privater oder betrieblicher Art. Ziele: Ursachen abstellen und Dauer verkürzen.
B: Blaumachen der Art »gekränkte zarte Seele« mit vor allem menschlichen Ursachen im Betrieb. Ziel: Ursachen abstellen durch Führungskulturschulung, mein Beruf.
C: Blaumachen der Art »Schlaumeier«, der sich als durchtrieben und das Unternehmen als lasch bis trottelig einschätzt und das soziale Netz keck missbraucht; hier muss das Unternehmen lernen, dass man im Geschäftsleben nicht immer der »Geleimte« sein darf!
D: Diverse Abstufungen zwischen dem Pol »Super-Verantwortungsgefühl« mit evtl. allzu vorzeitiger Rückkehr und dem anderen Pol des »ungerechtfertigten Missbrauchs« des AU-Attests bis zum Ende oder sogar unlauterer Verlängerung. Mittel: Oft telefonieren.
E: Komplexer werden Verknüpfungen obiger Erscheinungen durch zusätzliche Faktoren wie Suchtursachen, Persönlichkeitsschwankungen und schwer durchschaubare psychosomatische Leiden. Ich arbeite offenbar in einem arg komplexen Geschäft, doch mit viel Spaß!
Dank der statistischen Darstellung der Jahre 1993 bis 1997 und deren gemeinsamer Analyse waren in mehreren Fällen im Zeitablauf Schwerpunktverlagerungen zwischen obigen Faktorengruppen a) bis e) zu erkennen, so dass z.B. ein Vorgesetztenverhalten, das der DV sich vor vier Jahren aus guten Gründen angewöhnt hatte, bei der inzwischen eingetretenen veränderten Situation das falsche war.
Durch beharrliches Hinterfragen zu Ursachenarten und Persönlichkeitsstruktur der Mitarbeiter und deren Wandel im Zeitablauf konnte ich in der Mehrzahl der 12 Fälle (...) mit den DV einen Strategiewechsel entwickeln, den sie weder alleine noch mit Hilfe ihrer Vorgesetzten hätten finden können. Dieser Behauptung bin ich sicher! Meine Gesprächspartner waren so begeistert, dass der Kunde sofort einen zweiten Beratungstag orderte. Da war ich selbst von den Socken, wie man in Deutschland so putzig sagt.
Deutlich ergibt dieser erste Probelauf einer »Fehlzeiten-Einzelberatung«, dass ich aufgrund meines enormen Fehlzeitenwissens, meiner präzisen Denkweise und meines hartnäckigen Nachbohrens meinen Kunden, bei geringem Zeit- und Kostenaufwand, hohen Nutzen bringen kann. Als vorteilhaft mögen manche Firmen auch den Umstand einstufen, dass im Vergleich mit den sich wie ein Lauffeuer herumsprechenden Fehlzeitenseminaren diese Individualberatungen, sofern gewünscht, extrem diskret z.B. in einem Hotelzimmer abgehalten werden können.
Ferner wurden am 14. Mai 1997 diese gemeinsamen Kreativitätsgespräche mit dem dazu speziell aus Genf eingeflogenen »Freizeit-Guru« M. Schmilinsky von den DV als aufwertend empfunden; für die Geschäftsführung ist dieser Motivationsschub deutlich billiger als eine Incentive-Woche (Bonus-Reise) z.B. in Bad Kleinhungersdorf oder auf den Seychellen.
Ich biete Ihnen also dieses neuartige Produkt »Fehlzeiten-Einzelberatung« guten Gewissens an. Am besten beginnen wir mit einem Probetag (DM 3500 einschl. Kosten für An- & Abreise; Übernachtung & Abendessen im Hotel übernehmen meine Kunden), in dem ich zwölf Fälle in jeweils 30 Minuten mit den DV durchackere. (...).
Wo stehen wir? Ich bin meine Botschaft los; ich liege in der Sonne auf der Wiese und genieße das Leben. Sie Ärmster müssen entscheiden: »Werf ich den Schmilinsky-Vorschlag weg? Was taugt dieses unbekannte Produkt? Mit welchen Argumenten sollte/könnte ich weg? Was taugt dieses unbekannte Produkt? Mit welchen Argumenten sollte/könnte ich meine Geschäftsleitung für den ersten Tag Fehlzeiten-Einzelberatung gewinnen? Sie haben mein volles Vertrauen, dass ihnen die richtige Entscheidung leicht fallen wird.«[6]
Die »Fehlzeiten-Einzelberatung« ist kein Extrembeispiel aus dem Maßnahmenarsenal des Fehlzeitenmanagements. Und Michael Schmilinsky ist kein verirrter Einzelgänger unter den Fehlzeitenberatern. Vielmehr ist diese individualisierte Form der Suche nach »Blaumachern« das vorläufig letzte Glied in einer Kette, zu denen auch kollektive bzw. standardisierte Maßnahmen zur Senkung von Fehlzeiten zählen.
* Hermann Bueren ist Mitarbeiter bei Arbeit und Leben NRW.
1) Vgl. Mag Wompel: »Jagd auf Kranke Rückkehrgespräche auf dem Vormarsch«, hg. von AFP e.V., 5. Auflage, Offenbach 2002
2) Schmilinsky, M.: »Vor gelben Scheinen bitte nicht resignieren«, in: PERSONAL 6/1989
3) Bitzer B., Bürger K. H.: »Fehlzeitenreduzierung durch intelligente Menschenführung«, in: PERSONAL 8/1997, S. 426ff.
4) Schmilinsky, M., in: Der Spiegel, 5. August 1996: »Perfekte Gauner, Interview mit dem Managementtrainer Michael Schmilinsky über den richtigen Umgang mit kranken Mitarbeitern und Blaumachern«, Heft 32/1996 sowie M.S.M. Michael Schmilinsky Management, Genf-Schweiz, interne Veröffentlichung, Juni 1997
5) Im Folgenden alle Zitate aus M.S.M., interne Veröffentlichung von Seminarunterlagen und Zeitschriftenartikeln, Genf, Juni 1997
6) »Kultur der Kundennähe«, interne Veröffentlichung von M. Schmilinsky
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