letzte Änderung am 24. Juli 2003

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Zahlungskraft bricht Bürgerrecht? - Öffnung der Hochschulen zur Arbeitswelt als öffentliche Aufgabe

Bodo Zeuner

Dieser Beitrag beginnt mit einem Rückblick auf die Gründerzeit der Kooperation von Hochschulen und Gewerkschaften in den siebziger Jahren. Damit soll nicht Nostalgie gepflegt werden, zumal es sich bei genauerem Hinsehen in den siebziger Jahren keineswegs um ein "goldenes Zeitalter", sondern wie heute um eine Zeit harter Interessenkämpfe handelte. Der historische Rückblick eignet sich vielmehr für einen Vergleich, der helfen kann, die gegenwärtigen Probleme und Konflikte besser zu verstehen. Ich will mit diesem Vergleich vier Thesen belegen:

Die gewerkschaftliche Begründung der Forderung nach Kooperation der Hochschulen mit ihnen in den 70er Jahren.

"Kooperation" war zwar das wichtigste Stichwort, unter dem Gewerkschafter in den 70er Jahren die Debatte über das Verhältnis zu den Hochschulen führten, aber dieses Wort wurde stets in einem sehr spezifischen und ungewöhnlichen Sinn verwendet. Anders als in Modellen der Sozial- und Tarifpartnerschaft, wo Gewerkschaften den Arbeitgebern (oder diese den Gewerkschaften) eine Kooperation auf gleicher Augenhöhe, eine Parität des Gebens und Nehmens zum gemeinsamen Vorteil abverlangen oder anbieten, ging es den Gewerkschaften bei der Kooperation mit den Hochschulen nicht um ein Angebot, sondern um eine Forderung: Die Hochschulen sollten sich endlich zu einer Kooperation mit den Gewerkschaften und der Arbeitnehmerschaft öffnen, statt weiterhin einseitig und parteilich mit den Arbeitgebern und Unternehmern zu kooperieren. Die Hochschulen sollten durch Kooperation mit den Gewerkschaften wenigstens die im Arbeitsrecht prinzipiell anerkannte Parität von Arbeitgebern und Arbeitnehmern endlich auch für sich anerkennen, darüber hinaus aber auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die von den Gewerkschaften vertretenen Arbeitnehmer die Mehrheit der Bevölkerung sind. Die Hochschulen und die dort betriebene Wissenschaft hatten sich zu ändern, sie allein hatten eine – auch historische – Bringschuld. Die Gewerkschaften hatten sich allenfalls insofern zu ändern, als sie die Öffnungsprojekte der Hochschulen zu unterstützen verpflichtet waren.

In den Thesen des DGB zur Hochschulreform von 1973 heißt es sehr selbstbewusst: "Auf Grund ihres gesellschaftspolitischen Auftrages beanspruchen die Gewerkschaften eine führende Rolle bei der Diskussion und Durchsetzung der Hochschulreform. Für den Hochschulbereich bedeutet dies, daß die Reform von den Interessen der Arbeitnehmer bestimmt sein muß." Im einzelnen werden die Einführung der Integrierten Gesamthochschule, die Öffnung für interessierte Arbeitnehmer, ein breites Weiterbildungsangebot, die Berücksichtigung gesellschaftlicher Bedürfnisse in der Forschung und die Kontrolle von Drittmittelforschung durch die Kollegialorgane der Hochschule gefordert. Abgelehnt werden private Hochschulen und die Trennung von wissenschaftlichem und Fachhochschulstudium (Bamberg, u.a. 1979). Zur Verwirklichung dieser Ansprüche wurden in den 70er Jahren zwischen einzelnen Universitäten und Gewerkschaften bzw. Arbeitskammern – etwa in Bremen, Bochum, Oldenburg und Saarbrücken – Kooperationsverträge geschlossen, in denen sich die Hochschulen bereit erklärten, die Zuwendung zu Problemen der Arbeitnehmer und der Arbeitswelt als Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Aufgabe anzusehen.

Das Begründungsmuster für diese gewerkschaftlichen Forderungen, am markantesten in der Rede des DGB-Vorsitzenden Heinz Oskar Vetter in Marburg 1977(Vetter in: Bamberg 1979) zusammengefasst, enthielt in der Regel folgende Elemente:

Die Gegenargumentation der Arbeitgeber und der arbeitgebernahen Wissenschaft in den 70er Jahren und die Reaktion der Gewerkschaften

Als kritikwürdigste und markanteste Gegenpositionen wurden von den Gewerkschaften die Stellungnahmen der Rechtswissenschaftler Paul Kirchhof und Bernd Rüthers sowie einige Zeitungskommentare ausgemacht. Springers "Welt" hatte z.B. gewarnt, die deutschen Universitäten würden durch Kooperationsverträge mit den Gewerkschaften in "Vetters Fängen" landen.

Ich gehe auf Kirchhofs Argumente deshalb ausführlich ein, weil die Gewerkschaften damals in deren Positionen gewissermaßen die Avantgarde der Gegenseite sahen. Ich will zeigen, dass die gewerkschaftliche Kritik an der bigotten, pharisäerhaften Verteidigung hehrer, längst blamierter Ideale wie der absoluten individuellen und institutionellen "Freiheit" und "Unabhängigkeit" des einzelnen Wissenschaftlers (diese Person kam übrigens nur männlich vor) und der Institution Universität einerseits Recht hatte – dass sie aber andererseits nicht sah, wie sie sich selber den argumentativen Boden für die Zukunft entzog, wenn sie sich auf eine ideologiekritisch Entlarvung von Kirchhof, Rüthers u.a. beschränkte, nach dem Motto: "Eine Institution, die ihre Unschuld verloren hat, darf sie jetzt nicht mehr beanspruchen." – Eine zentrale normative Prämisse von Kirchhofs damaliger Argumentation kann und sollte heute Teil der gewerkschaftlichen Position sein – nämlich die Verteidigung der Idee des Gemeinwohls und damit der öffentlichen Aufgaben der Hochschulen gegen die Dominanz der Privatinteressen.

Paul Kirchhof (damals Ordinarius für Öffentliches Recht in Münster, später als Bundesverfassungsrichter 1987-1999 ein besonders engagierter Verteidiger des Privateigentums, Träger des Ludwig-Erhard-Preises 2000, des Hanns-Martin-Schleyer-Preises 2001) argwöhnte in einem Aufsatz von 1976, durch Kooperationsvereinbarungen der Universitäten mit den Gewerkschaften werde die "individuelle Freiheit jedes Wissenschaftlers" (Rüthers 1976, 239) angetastet, weil durch vertragliche Verpflichtung "eine bevorzugte Behandlung bestimmter Themen oder ein Mitwirkungsrecht von Interessengruppen an Hochschulentscheidungen" (ebd.) erzwungen werden könne. Kirchhof beharrte auf der Interessenungebundenheit und Objektivität der von professoralen Individuen betriebenen und verantworteten Wissenschaft, die nicht demokratisierbar sei: So müsse z.B. "über die Behandlung eines Patienten nicht ein demokratisch gewähltes Gremium, sondern der fachlich geschulte Arzt entscheiden" (ebd.). Des weiteren sah Kirchhof die wissenschaftliche Kreativität bedroht und scheute nicht vor großen Vergleichen zurück: "Gerade neuartige Einsichten, früher einmal die eines Galilei, widersprechen zunächst allgemeiner Anschauung und Übung und verpflichten den Wissenschaftler, seine Ergebnisse trotz und gegen mehrheitliche Zweifel zur Geltung zu bringen." (ebd.) Kirchhof sah in den Kooperationsverträgen auch eine Gefährdung der studentischen Freiheit der Wahl ihrer Ausbildungsstätte und der Prüfungsgerechtigkeit:

"Würden schließlich Interessengruppen auch Prüfungsgegenstände und Prüfungsentscheide mit beeinflussen können, so würde das Prüfungsergebnis Interessenkonformität, nicht Fachkundigkeit bestätigen." (ebd.)

Insgesamt habe lt. Urteilen des Bundesverfassungsgerichts (dem Kirchhof später selbst angehören sollte) der Gesetzgeber als "Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen" dafür zu sorgen, dass die Hochschule nicht Privatinteressen dienstbar werde:

"Grundsätzliche Bestimmungen über Aufgaben und Inhalte des Forschens, Lehrens und Lernens trifft deswegen der Gesetzgeber, nicht die Hochschule selbst, erst recht nicht durch eine gemeinsame Absprache von Hochschule und Interessengruppen." (S. 240).

Sehr ähnlich argumentierte der Konstanzer Arbeitsrechtler Bernd Rüthers in der FAZ:

"Hochschulen sind öffentlich finanzierte, gesamtgesellschaftliche Einrichtungen. Ihre Offenheit und die Erfüllung ihrer Dienstleistungspflichten zu kontrollieren, ist die Aufgabe der demokratisch kontrollierten Staatsorgane. Selbst sie haben die grenzen der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit zu achten. Für selbsternannte Kontrollinstanzen oder Kontrollansprüche gesellschaftlicher Interessengruppen ist im Hochschulbereich deshalb kein Raum."(Rüthers, 1976,13)

Auch Akteure des politischen Tageskampfes nahmen das Thema damals auf. In Landesparlamenten und in konservativen Zeitungen war die Rede von "Bekenntnisuniversität", "Gewerkschaftsuniversität" und davon, dass die Universität sich "als staatliche Einrichtung nicht in den Dienst privater Vereinigungen stellen" dürfe (Bamberg, u.a. 1979, 53). Bedroht erschien aus dieser Sicht die "Unabhängigkeit" und der "Pluralismus" der Wissenschaft. Diese Argumentation fügte sich ein in die gleichzeitig laufende Kampagne gegen einen angeblichen "Gewerkschaftsstaat", mit der die Arbeitgeber ihre – letztlich erfolglose – Klage gegen das Mitbestimmungsgesetz 1976 begleiteten.

Versuchen wir wiederum, das Argumentationsmuster der Arbeitgeber und der Konservativen zu rekonstruieren, so zeigen sich folgende, recht schlicht gestrickte, Elemente:

Es ist klar, dass dies eine unrealistische, ideologisch-interessengeleitete Sicht der Welt, der Wissenschaft und der Gesellschaft war – zumeist in der Tradition des deutschen Obrigkeitsstaatsdenkens. Sofern die Konservativen das politische Prinzip des Pluralismus für sich bemühten, blamierten sie sich sofort – ließ sich doch zeigen, dass die Universität schon immer einseitig bestimmten Interessen gedient hatte, und das nicht nur qua sozialer Osmose, sondern zuweilen durchaus vertragsmäßig[1]. Mithin dienten also gerade die Forderungen der Gewerkschaften der Herstellung von Pluralismus. Gerade weil dieser Nachweis des ideologischen, also Interessen kaschierenden Charakters der konservativen Argumente so leicht fiel, haben es sich die Gewerkschaften mit ihrer Gegenargumentation oft zu einfach gemacht. Etwa mit dem Satz "Eine Unschuld, die man nicht hat, kann man nicht verlieren!", der gleich doppelt auftaucht (Vetter 1979, 457, Preiss 1979, 485). Dabei wird die Frage beiseite geschoben, ob es denn sinnvoll oder von vornherein illusionär wäre, eine solche "Unschuld" – d.h. die wissenschaftliche Suche nach Objektivität und nach einer wie auch immer vorläufigen, aber jedenfalls nicht durch Interessen determinierten "Wahrheit" – überhaupt anzustreben. Dies ist aber eine Frage ums Ganze, auf die noch zurückzukommen sein wird: Möchten Gewerkschaften die Wissenschaft ihrerseits instrumentalisieren oder ihre Unabhängigkeit, die dann auch eine Unabhängigkeit von den Gewerkschaften wäre, resolut gegen jede Instrumentalisierung verteidigen?

Jedenfalls: Gewerkschaften und ihre Gegner waren sich in der Debatte um die Kooperationsverträge in einem Punkt einig: Universitäten und Hochschulen haben öffentliche Aufgaben, die energisch zu verteidigen sind. Die Unternehmer und die Konservativen verteidigten diese öffentlichen Aufgaben gegen angebliche Partikularinteressen der Gewerkschaften, die Gewerkschaften beriefen sich auf die Verpflichtung der Universitäten auf das Gemeinwohl, also auf deren gesellschaftliche Verantwortung. Beide waren sich einig, dass Universitäten und Hochschulen nicht private Veranstaltungen, sondern öffentliche Institutionen waren und bleiben sollten.

Der heutige Problem- und Konfliktstand

Kooperationsverträge und –formen zwischen Gewerkschaften und Hochschulen haben sich zwar deutlich ausgeweitet, wie die Beiträge dieses Bandes dokumentieren, aber sie gehören immer noch keineswegs zur Regelausstattung deutscher Hochschulen, und auch wo sie etabliert sind, droht ihnen im Rahmen von Kürzungen und Verschlankungen das Aus. Auch in anderen Punkten sind die Forderungen der Gewerkschaften aus den 70er Jahren weiterhin unerfüllt, aktuell und begründet:

An einem zentralen Punkt allerdings wäre die gewerkschaftliche Argumentation heute differenzierter zu führen als in den siebziger Jahren: Einen Alleinvertretungsanspruch für die Definition von "Arbeitnehmerinteressen" und damit auch für die sozialen Interessen der Mehrheit der Bevölkerung können die Gewerkschaften heute nicht mehr einfach behaupten. Ihnen wird aus sehr verschiedenen Richtungen der nie ganz unbegründete Vorwurf gemacht, Partikularinteressen (etwa: der Arbeitsplatzbesitzer gegen die Arbeitslosen, des Industrialismus gegen die Umwelt, der Männer gegen die Frauen, der Facharbeiter gegen die Unqualifizierten, der Deutschen gegen die Ausländer, der Firma Deutschland gegen den Rest der Welt) zu vertreten. Wenn die deutschen Gewerkschaften für sich eine besondere Nähe zum Gemeinwohl reklamieren, dann müssen sie unter Beweis stellen, dass ihre Sache die Organisation inklusiver Solidarität aller von abhängiger Arbeit lebenden Menschen ist und nicht die exklusive Solidarität (Kurz-Scherf, Zeuner, 2001) von Berufsgruppen, die um ihre Stellung kämpfen.

Indessen steht die Frage, ob Gewerkschaften entgegen ihren universalistischen politischen Grundsätzen vielleicht doch Sonderinteressen vertreten, heute keineswegs im Mittelpunkt der Diskussion um die Kooperation von Gewerkschaften und Hochschulen. Genauer gesagt: Es gibt, anders als in den 70er Jahren, gar keine öffentliche Diskussion mehr um Sinn und Unsinn dieser institutionalisierten Kooperation. Was es gibt, ist ein Abbau, teilweise auch ein Umbau, der sich weitgehend ohne politischen Konflikt vollzieht. Ein Universitätspräsident oder –kanzler, der Mittel oder Stellen für gewerkschaftsoffene Weiterbildung oder für Forschungskooperation zusammenstreicht, begründet das keineswegs mehr wie in den siebziger Jahren damit, dass die Gewerkschaften "Privatinteressen" verträten, sondern damit, dass sie das zu wenig täten, dass sie nämlich zu wenig Geld anböten, um universitäre Leistungen zu kaufen. "Refinanzierung" der Universitäten durch von außen bezahlte Dienstleistungen tritt an die Stelle der öffentlichen Aufgabe, der gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft und der Bringschuld der Universitäten gegenüber den Arbeitnehmern.

Das gesamte Feld der Wissenschafts- und Hochschulpolitik ist von Politik auf Ökonomie umgepolt worden. Früher war das wesentliche Unterscheidungskriterium für das, was Hochschulen zu tun hatten, der Gegensatz Gemeinwohl/private Sonderinteressen. Heute lautet der Gegensatz profitabel/nicht profitabel. Wir haben es also mit der Ökonomisierung der Wissenschaft, der Hochschulen, überhaupt der öffentlichen Aufgaben zu tun. Dies gilt es, ein wenig näher zu betrachten.[2]

Makro- und Mikroökonomisierung öffentlicher Aufgaben am Beispiel von Bildung und Wissenschaft oder: Zahlungskraft bricht Bürgerrecht

Die Ökonomisierung des Bildungswesens – und überhaupt der sozialen Komponente des modernen Staats – vollzieht sich gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen, die sich, einer verbreiteten Übung folgend, nach "Makro" und "Mikro" unterscheiden lassen: Makroökonomisierung soll die Unterwerfung ganzer Volkswirtschaften und Staaten unter die ökonomische Logik des Marktes genannt werden. Dazu gehört die Umwandlung von Nationalstaaten in "nationale Wettbewerbsstaaten" (Joachim Hirsch), die einerseits global wie konkurrierende Firmen agieren, andererseits intern am Gewaltmonopol und an ihrem Repressionsapparat, der dem obersten Ziel der Stärkung der nationalen Wettbewerbsfähigkeit dienstbar gemacht wird, festhalten. Dabei ändert die Zusammenlegung einzelstaatlicher Souveränitäten, etwa zur EU, nichts am globalen Konkurrenzdruck. Im Gegenteil verschärft die Formierung der EU zu einem staatsähnlichen Gemeinwesen mit schrankenlosem, vergrößertem Binnenmarkt die Wirkung von Marktmechanismen gegenüber den Begrenzungs- und Gestaltungschancen von Politik.

Was bedeutet das für das Bildungswesen und andere bislang als "öffentlich" angesehene Aufgaben? – Zunächst nationalstaatliche Unterbietungkonkurrenz im Wettbewerb um investierendes Kapital, was einzelstaatliche Regulierung, Steuererhebung, Sozialpflichtigkeiten und Gewerkschaftsrechte betrifft. Staatsverschlankung, sieht man von Steigerungen der Ausgaben für "Sicherheit" ab; Staatsverarmung, also weniger Geld für Bildung und Soziales, auch in reichen Gesellschaften. Im Bildungswesen gilt mithin erstens der Grundsatz, dass "gespart werden muss", egal wie reich die Gesellschaft eigentlich ist. Zweitens wird Bildung auf "Qualifikation" zur Verbesserung des nationalen Arbeitskraftangebots reduziert, auf Kosten nicht eindeutig wirtschaftlich nutzbaren Wissens und Könnens. Um dazu eine unerwartete und des Linksradikalismus unverdächtige Gruppe zu zitieren: "Damit wiederholt sich die Diskussion, die 1964 Georg Picht mit der sog. ‚deutschen Bildungskatastrophe‘ auslöste: Auch damals stand im Vordergrund die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands (...) Statt einer Hinführung zur Analysefähigkeit und Reflexion wird auch heute wieder Quantitätsdenken, Konzentration auf ökonomische Verwertbarkeit und Einsatz von betriebswirtschaftlichen Steuerungselementen als Ausweg aus der Misere angepriesen."[3]

Was den konservativen Bildungshütern der CDU-nahen Stiftung nicht so geläufig ist: In den sechziger Jahren standen Pichts und Eddings Entdeckung der Bildungskatastrophe und Dahrendorfs Forderung nach einem "Bürgerrecht auf Bildung" praktisch noch nicht zueinander in Widerspruch. Die Förderung von Arbeiterkindern konnte auch als "Ausschöpfung von Bildungsreserven" für den internationalen Konkurrenzkampf deklariert werden. Heute dagegen hört aus der Sicht "der Wirtschaft" der Spaß auf: Wer nicht wirtschaftsnützlich ist, hat an den Hochschulen nichts mehr zu suchen. "Orchideenfächer" in den Geisteswissenschaften haben allenfalls eine Chance, wenn sie dem Export (Sinologie) oder der neuen deutschen Rolle in der Weltpolitik (Islamistik) nützlich erscheinen. Sozialwissenschaftlich untermauerte Kritikfähigkeit hat im derzeit herrschenden Zielkatalog der Hochschulbildung ebenso wenig eine Chance wie eine Orientierung der Wissenschaft an Arbeitnehmerinteressen. In Zeiten der Globalisierung haben Marktgesetze den Vorrang vor dem Bürgerrecht auf Bildung.

Mikroökonomisierung nenne ich die Unterwerfung der einzelnen Bildungsinstitutionen unter betriebswirtschaftliche Zwänge. "Wettbewerb" soll gelten zwischen Universitäten, Fakultäten, Fächern, Instituten und Professoren. Das ist im Prinzip nicht neu: Schon immer gab es einen Wetteifer der einzelnen Wissenschaftler und der wissenschaftlichen Institutionen um Reputation, um Stellen und um Forschungsförderung. Neu ist, dass dieser Wettbewerb komplett monetarisiert, wissenschaftliche und hochschulbildnerische Leistung also in Geldeinheiten umgerechnet wird. Es gibt verschiedene Formen der Privatisierung öffentlicher Aufgaben und Institutionen, etwa: Änderung der Rechtsform, Verkauf an private Eigentümer oder auch nur die Einführung des Konkurrenzprinzips im öffentlichen Dienst.[4] All diesen Formen der Mikroökonomisierung ist gemeinsam, dass betriebswirtschaftliches Kalkül für alle Akteure zur ersten Pflicht wird. Das System setzt statt auf intrinsische und professionelle Motivation auf Gelderwerb als primären Anreiz zur "Leistung". Berufliche Beziehungen und professionelle Regeln werden durchmarktet, nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage neu organisiert.

Eine noch relativ harmlose Form dieser Verbetriebswirtschaftlichung ist es, z.B. die Gehaltshöhe von Professoren leistungsabhängig schwanken zu lassen oder Kostenstellen nach Leistungspunkten mit Ausstattungsmitteln zu bedienen. Auch hier werden Wissenschaftler zu Kleinunternehmern umfunktioniert. Aber immerhin gibt es in diesen Fällen die Chance, inhaltliche Relevanzkriterien im Punktvergabesystem zu berücksichtigen.

Krasser wird die Durchmarktung, wenn von den Hochschulakteuren auch noch eine Refinanzierung ihrer "Personalkosten" durch direkten Verkauf ihrer Leistungen an die Abnehmer verlangt wird. Etwa wenn Studenten durch Studiengebühren oder durch Vergabe von Bildungsgutscheinen – die auch ein Bildungsbeirat der Hans-Böckler-Stiftung vor einigen Jahren propagiert hat – darüber mitentscheiden, welche Hochschulen, welche Fächer, welche Institute und welche Professuren weiter geführt werden sollen und welche nicht. In diesem Modell tritt an die Stelle der Humboldt’schen Idee der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, die Mitbestimmung ermöglicht und erfordert, das Marktmodell von Anbietern und Kunden. Der Modus des Habens verdrängt den Modus des Seins (Fromm). Oder auch: Die Handlungschance voice wird durch die Verhaltensoption exit ersetzt (Hirschman). Zahlungskraft bricht Bürgerrecht. – Das gilt erst recht, wenn Hochschulen ganz oder in Teilen durch Verknappung der öffentlichen Mittel zur Anwerbung von mehr oder weniger kurzfristigen Zuwendungen vermögender Sponsoren und Mäzene gezwungen werden.

Was Mikroökonomsierung für das der Hochschulbildung verwandte Feld der Erwachsenenbildung bedeutet, hat der Theoretiker und Praktiker Klaus-Peter Hufer treffend zusammengefasst:

"Wer neuereVeröffentlichungen zur Erwachsenenbildung liest, der/die muss in Zweifel darüber geraten, ob er/sie nicht unversehens in ein anderes Fach geraten ist. Die Begriffe verdeutlichen, worum es geht: Aus Lerninhalten werden Schlüsselqualifikationen, Bildung wird zum Produkt, der Teilnehmer zum Kunden, Bildungsziele werden von Kostendeckungsgraden abgelöst, und an die Stelle der Hospitation tritt das Controlling." Hufer (Hufer,2001) zitiert dann den damaligen Präsidenten der Kultusministerkonferenz, den Bremer Wissenschaftssenator Willi Lemke, der in einem 3-seitigen Artikel über "lebenslanges Lernen" nur betriebswirtschaftliche und keine pädagogischen Begriffe benutzt, um zwei Kernaussagen zu begründen, nämlich dass lebenslanges Lernen "eine lohnende Investition" sein müsse und dass Weiterbildung ein "Standortfaktor" sei.[5]

Konkret bedeutet Mikroökonomisierung für einige an den Universitäten etatisierte Kooperationsstellen, dass sie – z.T. gemeinsam mit gesamten Weiterbildungsabteilungen der Hochschule – qua Outsourcing auf Refinanzierung verwiesen werden. Das heißt, dass sie – einschließlich der Mitarbeitergehälter, der Büroausstattung und einer fiktiven inneruniversitären Raummiete – sich ganz oder teilweise aus eigenen Einnahmen finanzieren sollen. Bildungsveranstaltungen der Universität für Gewerkschafter erfordern unter diesen Bedingungen prohibitiv hohe Teilnehmergebühren. Wenn nur auf zahlungskräftige Besucher geachtet wird, kommen als Teilnehmer/innen allenfalls Betriebsräte nach § 37, Abs. 6 BetrVG in Betracht, weil dann der Arbeitgeber zahlen muss. Aber dabei fällt z.B. eine über die unmittelbare Aufgabenschulung der Betriebsräte hinausgehende politische Bildung heraus, und außerdem konkurrieren um diese "zahlungskräftige" Zielgruppe auch die Bildungsstätten der Gewerkschaften selber mit den Kooperationsstellen.

Fazit:
Makroökonomisierung bedeutet, dass die Hochschulen weniger öffentliches Geld bekommen und sich auf wirtschaftskonforme Qualifikation ihrer Studenten konzentrieren müssen. Mikroökonomisierung bedeutet, dass die Hochschulen nicht mehr als Träger öffentlicher Aufgaben der Forschung, Bildung und Weiterbildung, sondern als private Unternehmen, die Dienstleistungen verkaufen, agieren.

Was folgt daraus für die Gewerkschaften?

Im Prinzip haben sie zwei gegensätzliche Optionen. Sie können sich der Ökonomisierung der Hochschulen anpassen und unterwerfen – oder sie können diese Umdefinition der Hochschulen zu Privatunternehmen deutlich kritisieren, ja sogar nach Kräften bekämpfen und zu delegitimieren versuchen und darauf bestehen, dass Forschung und Lehre an Hochschulen öffentliche und staatlich zu finanzierende Aufgaben sind.

Der erste Weg ist softer und "moderner". Gewerkschaften könnten, wie andere Privatunternehmen auch, universitäre Leistungen einfach kaufen. Dagegen hätte heute niemand mehr etwas. Und wenn ein Gewerkschaftsvertreter mit dieser Möglichkeit nicht so recht zufrieden ist, dann erklärt ihm ein Vizepräsident der Universität, dass "wir doch alle sparen müssen", dass doch auch die Gewerkschaften mit ihren eigenen Bildungsstätten und sonstigen nahestehenden Agenturen das Prinzip des Outsourcings und der Budgetierung längst praktizierten und dass man doch verstehen müsse, dass jeder auf seine Kosten kommen und diese möglichst selber einspielen müsse.

Und dann sagt der Gewerkschaftsvertreter entweder "Achso" und "Aha" – oder er fängt an, mit der öffentlichen Aufgabe der Universität, der Hochschule, der Wissenschaft, und – durchaus im Sinne von Heinz Oskar Vetter 1977 – auch mit ihrer historischen Bringschuld gegenüber der Arbeiterbewegung zu argumentieren.

Als Argumentationshilfe seien die oben schon genannten drei Zitate von zwei konservativen Rechtsgelehrten aus dem Jahre 1976 noch einmal kompakt zusammengestellt:

"Hochschulen sind öffentlich finanzierte, gesamtgesellschaftliche Einrichtungen. Ihre Offenheit und die Erfüllung ihrer Dienstleistungspflichten zu kontrollieren, ist die Aufgabe der demokratisch kontrollierten Staatsorgane. Selbst sie haben die Grenzen der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit zu achten. Für selbsternannte Kontrollinstanzen oder Kontrollansprüche gesellschaftlicher Interessengruppen ist im Hochschulbereich deshalb kein Raum." (Rüthers)

"Grundsätzliche Bestimmungen über Aufgaben und Inhalte des Forschens, Lehrens und Lernens trifft deswegen der Gesetzgeber, nicht die Hochschule selbst, erst recht nicht durch eine gemeinsame Absprache von Hochschule und Interessengruppen." (Kirchhof).

"Würden schließlich Interessengruppen auch Prüfungsgegenstände und Prüfungsentscheide mit beeinflussen können, so würde das Prüfungsergebnis Interessenkonformität, nicht Fachkundigkeit bestätigen." (Kirchhof)

Die gegenwärtige, von Bundes- und Landespolitikern verfolgte Tendenz der Makro- und Mikroökonomisierung des Bildungswesens, der Zwang, der auf die Schulen und Hochschulen ausgeübt wird, den staatlichen Finanzierungsausfall durch private, kapitalstarke Geldgeber "selbständig" in einem Budget zu kompensieren und nicht darüber nachzudenken, inwieweit sie von den Geldgebern abhängig werden, ist ganz offensichtlich verfassungswidrig – das folgt zwingend aus den Sentenzen von Kirchhof und Rüthers aus 1976.

Gewerkschaften haben die Wahl, ob sie öffentliche Aufgaben verteidigen oder der Privatisierung hinterherlaufen, vielleicht sich selber auch noch in Privatunternehmen umwandeln wollen. Wenn sie im Bildungs- und Hochschulsystem aufhören sollten, die Idee und die Praxis gemeinwohlorientierter, öffentlicher Dienstleistungsarbeit gegen den Markttotalitarismus zu verteidigen und dafür LehrerInnen, SchülerInnen, Eltern, BürgerInnen, StudentInnen und ProfessorInnen zu mobilisieren oder sich mit diesen zu verbünden, dann hätten die Gewerkschaften sich um jede Zukunft gebracht.

Mithin: Angesichts der drohenden Privatisierung des öffentlichen Bildungssystems wird die Forderung, dass Universitäten, Hochschulen, öffentliche und öffentlich geförderte Forschungsinstitute mit den Gewerkschaften und der Arbeitswelt kooperieren sollten, noch viel dringender als in der Gründungsphase der 70er Jahre. Dabei wird sich diese Kooperation letztlich – sozialanalytisch, ökonomisch, logisch, juristisch – niemals auf Marktbeziehungen reduzieren lassen, denn Gewerkschaften werden öffentliche Akteure, die Solidarität organisieren, bleiben, auch wenn die Hochschulen sich in Privatfirmen, die das Gemeinwohl nicht mehr kümmerteinen Dreck interessiert, umwandeln sollten. Spannende Konstellationen könnten sich ergeben. Etwa wenn Gewerkschaften sich trauen würden, an irgendeinem juristisch fixierbarem Punkt gegen die schleichende Privatisierung, genauer: gegen die Auslieferung der Hochschulen an das Kapital, unter Berufung auf u.a. Kirchhof und Rüthers Klage beim Bundesverfassungsgericht zu erheben. Und außerdem an einem politisch wichtigen Punkt für die Erhaltung öffentlicher Aufgaben zu streiken.

 

Der Beitrag ist entnommen aus: Kooperation Wissenschaft Arbeitswelt. Geschichte, Theorie und Praxis von Kooperationen. Hrsg. von Christiane Färber/Klaus Kock/Frank Mußmann/Irmtraud Schlosser (2003 - 196 S. - € 20,50 - SFR 35,50, ISBN 3-89692-543-6) im Verlag Westfälisches Dampboot. (Siehe Informationen zum Buch als pdf-Datei sowie das Vorwort der Herausgeber)

Anmerkungen

1) So konnte z.B. der niedersächsische Kultusminister Jost Grolle 1974 in der Debatte um den Kooperationsvertrag der Universität Oldenburg mit dem DGB darauf hinweisen, dass die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Göttingen schon 1958 einen Kooperationsvertrag mit dem privatrechtlichen Verein des niedersächsischen Handwerkskammertages abgeschlossen hatte, vgl. Bamberg/Kröger/Kuhlmann 1979, S.54

2) vgl. dazu auch die sehr erhellenden Aufsätze von Olaf Bartz und Klemens Himpele, die sich mit der Rolle des öffentlich-privaten Unternehmens CHE (Centrum für Hochschulentwicklung, getragen von der Bertelsmann-Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz) bei der Promotion von Studiengebühren beschäftigen bzw. die Durchmarktung des Bildungswesens mit dem Mittel der Bildungsgutscheine analysieren, in der viel zu wenig gelesenen Zeitschrift FORUM WISSENSCHAFT (Hg: BdWi), also Bartz 2002, Himpele 2002

3) "Die Zukunft der Bildung und die Bedeutung der Geisteswissenschaften" – Entwurf eines Positionspapiers der Konrad-Adenauer-Stiftung vom Juli 2002, S. 1

4) Genauer habe ich dies ausgeführt in Zeuner 1998

5) ebd. Zitiert wird aus: Lemke, Willi: Herausforderung lebenslanges Lernen. In: GdWZ 1/2000, S. 48-50

Literatur

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