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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Exzellente Entwertung Zu den Auswirkungen des Bologna-Prozesses auf die Arbeits- und Bildungsbedingungen Der folgende Text wurde von Lehrenden* des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften an der Frankfurter Goethe-Universität als Beitrag zum Bildungsstreik verfasst und diversen Gremien des Fachbereichs als Resolutionsentwurf vorgelegt, fand dort jedoch keine Mehrheit (s.u.). Der Text, im Handgemenge des Bildungsstreiks entstanden, klammert spezifische Probleme, die sich aus dem Hessischen Hochschulgesetz und der Verwandlung der J.W. Goethe-Universität in eine Stiftungsuniversität ergeben, aus. Seinen Zweck, eine Diskussion unter den Lehrenden über den Bildungsstreik anzustoßen, hat er gleichwohl erfüllt. Insbesondere thematisiert er die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen an Hochschulen und skizziert Alternativen zur Bologna-Reform. Wir dokumentieren. Der Bildungsstreik der SchülerInnen, Studierenden und LehrerInnen thematisiert schwerwiegende Probleme des Bildungswesens und verdient unsere Unterstützung. Für die Hochschulen gilt: Der Bologna-Prozess führt zu einer stärkeren Selektivität der Hochschulbildung. Die Masse der Studierenden soll mit einem Kurzstudium abgespeist werden, während der Zugang zu weiterführenden Master-Studiengängen (MA) durch Numerus Clausus, Auswahlgespräche oder ähnliche Maßnahmen eingeschränkt wird. Inwieweit die Bachelor-Abschlüsse (BA) tatsächlich ausreichende berufliche Qualifikationen vermitteln können, ist unklar. Die Möglichkeiten zu forschendem Lernen, zur kritischen Infragestellung des vermittelten Wissens werden für die Masse der Studierenden eingeschränkt. De facto wird die Masse der akademisch gebildeten Arbeitskraft durch die Verkürzung der Studienzeiten entwertet. Die Verkürzung der Studienzeiten steht im Widerspruch zur fortschreitenden Steigerung der Arbeitsproduktivität und dem wachsenden gesellschaftlichen Reichtum, die eigentlich eine Verkürzung der Zeiten der Erwerbstätigkeit und eine Ausdehnung der Zeit für Bildung im biographischen Verlauf erlauben würden. Wir unterstützen daher die Forderung nach einem freien Zugang zu den MA-Studien. Während der Bologna-Prozess für das BA-Studium eine Regelstudienzeit von sechs bis acht Semestern vorsieht, wurden die meisten BA-Studiengänge auf eine Regelstudienzeit von lediglich sechs Semestern ausgelegt. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die Dichte an Veranstaltungen und Prüfungen vielfach zu groß ist. Bei einer notwendigen Reform der Reform sollte die Regelstudienzeit in den BA-Studiengängen generell auf mindestens acht Semester erhöht und die Prüfungsdichte reduziert werden. Die Probleme werden auch dadurch verschärft, dass die Studien- und Prüfungsordnungen auf ein Vollzeitstudium ausgelegt sind, während die meisten Studierenden de facto Teilzeitstudierende sind, die in mehr oder minder großem Umfang der Erwerbsarbeit nachgehen (müssen). Der Zwang zur Erwerbstätigkeit sollte durch Einführung elternunabhängiger Stipendien für alle Studierenden beseitigt werden. Das Studium sollte auch dadurch als gesellschaftlich notwendige Tätigkeit anerkannt werden, dass es auf die Rente angerechnet wird, wie dies früher üblich war. Obwohl die Studierendenzahlen seit den 1970er Jahren stark angewachsen sind, wurde das Personal an den Hochschulen nicht in gleichem Maße erhöht. Vielmehr stagniert der Ausbau der Hochschulen seit Mitte der 1970er Jahre, so dass sich die Arbeitsbelastung des Personals stark erhöht hat. Alleine um die Betreuungsrelationen der 1970er Jahre wiederherzustellen, wäre schätzungsweise eine Verdopplung des derzeitigen Personals notwendig. Berücksichtigt man, dass das deutsche Bildungssystem sozial extrem selektiv ist, dass die Studierendenzahlen in Deutschland im internationalen Vergleich unter dem Durchschnitt liegen, dass die Bildungsausgaben relativ gering sind und geht man von einer weiterhin wünschenswerten Öffnung der Hochschulen aus, so ist noch eine weit stärkere Erhöhung des Personals notwendig. Die Hochschulpolitik der vergangenen Jahre zielte stattdessen auf eine stärkere Hierarchisierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse. Hierarchische und prekäre Arbeitsverhältnisse stehen jedoch grundsätzlich im Widerspruch zur Freiheit von Forschung und Lehre und zu einer wissenschaftlichen Diskussion, die letztlich nur unter Gleichberechtigten stattfinden kann. Ein großer Teil des Lehrangebots wird von Lehrbeauftragten erbracht, die oft keinerlei Bezahlung für ihre Lehrtätigkeit oder bestenfalls eine lächerlich geringe Vergütung erhalten. Wir fordern als Sofortmaßnahme eine angemessene Vergütung aller Lehraufträge. Diejenigen, die wissenschaftlich tätig sind, müssen auch von ihrer Arbeit leben können. Perspektivisch müssen prekäre Arbeitsverhältnisse an den Hochschulen durch reguläre Beschäftigungsverhältnisse ersetzt werden. Die Einrichtung von Hochdeputatstellen zielte darauf, die Engpässe in der Lehre zu beseitigen und die Professoren zu entlasten, ohne neue Professuren zu schaffen. Es handelt sich hier um eine weitere Form der Entwertung wissenschaftlicher Arbeitskraft. Die InhaberInnen dieser Stellen sind in der Regel nur befristet beschäftigt und haben praktisch keine Möglichkeit zu eigenständiger Forschung oder zur Weiterqualifizierung. Wir fordern hier die Reduzierung des Lehrdeputats, die Entfristung dieser Stellen und ihre Umwandlung in reguläre Professuren. Die Einrichtung von Juniorprofessuren war ein halbherziger Versuch, den Weg zur Professur zu reformieren, ohne die Habilitation im gleichen Zuge abzuschaffen. Die JuniorprofessorInnen haben alle Pflichten eines regulären Professors einschließlich der Teilnahme an der Verwaltungsarbeit, aber in der Regel keine Aussicht, dass ihr befristeter Vertrag in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis umgewandelt wird. Vielfach wird weiterhin die Habilitation als Voraussetzung für eine Professur verlangt. Wir fordern die Abschaffung der Habilitation und die Umwandlung von Juniorprofessuren und Assistentenstellen in Assistenzprofessuren mit tenure track nach amerikanischem Muster. Eine Hierarchisierung unter den ProfessorInnen durch »Exzellenzinitiativen« und die entsprechende Differenzierung des Lehrdeputats, der Prüfungsbelastungen, der Einkommen usw. lehnen wir ab. Die Autonomie der wissenschaftlichen MitarbeiterInnen muss dadurch gestärkt werden, dass sie nicht einzelnen Professuren, sondern Arbeitsschwerpunkten zugeordnet werden. Die Funktionen des Vorgesetzten und des »Doktorvaters« oder der »Doktormutter« müssen grundsätzlich getrennt werden. Die Arbeitsanforderungen für die nichtwissenschaftlichen MitarbeiterInnen sind ebenso wie diejenigen für das wissenschaftliche Personal gestiegen, ohne dass sich dies im Entgelt irgendwie widerspiegeln würde. Die Löhne der nichtwissenschaftlichen MitarbeiterInnen müssen deutlich erhöht werden. Viele KollegInnen fühlen sich zu überlangen Arbeitszeiten genötigt, um den Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs zu genügen, Arbeitszeiten, wie sie für den Frühkapitalismus typisch waren oder heute noch für die Peripherie des kapitalistischen Weltsystems charakteristisch sind. Andere Strategien bestehen darin, die Studierenden abzuschrecken, die mangelnde Kontrollierbarkeit der Arbeitsprozesse an den Hochschulen auszunutzen und die Arbeit auf andere KollegInnen oder MitarbeiterInnen abzuwälzen. Wir halten beides für unvertretbar. Die Probleme können nur durch eine deutliche Erhöhung des Personals gelöst werden. Wir sind nicht länger bereit, überlange Arbeitszeiten zu akzeptieren, die auf Kosten unserer Gesundheit, unserer Familien und sozialen Beziehungen gehen. Wir streben eine ausgewogene Balance zwischen unserer Tätigkeit an der Hochschule und anderen gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten an. Wir erklären daher, dass wir ab dem 1. Mai 2010 nicht länger als 35 Stunden pro Woche arbeiten werden und danach eine weitere Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden pro Woche anstreben. Eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung im Wissenschaftsbereich ist auch angesichts der zunehmenden AkademikerInnenarbeitslosigkeit dringend notwendig. Versuche, die Wissenschaft durch ihr fremde Prinzipien wie z.B. durch das Konkurrenzprinzip politisch zu steuern, lehnen wir ab. Wir fordern eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Hochschulen, die die Freiheit von Forschung und Lehre gewährleistet. Es ist nicht akzeptabel, dass die staatliche Mittelzuweisung zunehmend an die Einwerbung von Drittmitteln gekoppelt wird. Wir werden uns nicht mehr an »Exzellenzinitiativen«, an der Datensammlung für Hochschulrankings und ähnlichen wissenschaftsfremden Prozessen beteiligen. Wir lehnen auch den durch die neuen Hochschulgesetze vorgezeichneten Übergang zur Präsidialdiktatur an den Hochschulen ab. Hochschulen lassen sich nicht wie Unternehmen führen. Wissenschaftliche Rationalität wird durch die Rückkehr zur Autokratie zunehmend zerstört, wie sich etwa an den Eingriffen der Präsidien in die Arbeit von Berufungskommissionen zeigt. Notwendig ist dagegen eine Demokratisierung der Hochschulen, die den Interessen aller an den Hochschulen arbeitenden Gruppen gerecht wird. Wir verwehren uns in diesem Zusammenhang auch gegen inhaltliche Eingriffe in die Arbeit der verfassten Studierendenschaft und angedrohte Mittelkürzungen. Am Ende der Resolution wurden alle Lehrenden aufgefordert, die regulären Veranstaltungen in der Woche vom 30.11. bis 4.12. ausfallen zu lassen und den Streik durch alternative Workshop- und Diskussionsangebote zu unterstützen. Der Fachbereichsrat konnte sich lediglich dazu durchringen, sich dieser letzten Forderung anzuschließen. * Juliane Hammermeister ist Pädagogische Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der J.W. Goethe-Universität Frankfurt. Dr. Thomas Sablowski vertritt zurzeit eine Professur für Politikwissenschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der J.W. Goethe-Universität Frankfurt. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 12/09 |