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Updated: 18.12.2012 15:51
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Gesamtgesellschaftlicher Gewinn?

Mohssen Massarrat* zur Kontroverse um Arbeitszeitverkürzung

Zeit ist ein vertracktes Ding: an sich nichts, geht ohne sie doch gar nichts. Es scheint zu ihrem Wesen zu gehören, dass sie nie um ihrer selbst willen interessiert, sondern immer für anderes herhalten muss. Was das allerdings jeweils ist, darüber streiten die Geister. So auch und erst recht in der Krise. In der letzten Ausgabe des express hatte Werner Sauerborn für einen »Neustart Arbeitszeitverkürzung« geworben und dabei die Gleichung von AZV und Lohnausgleich in Frage gestellt – im Interesse der Arbeitsumverteilung innerhalb und zwischen den Klassen. Mag Wompel hatte dieser Instrumentalisierung von Arbeitszeit als »zentralem Hebel zur Bekämpfung von Massenarbeitslosigkeit« und damit Mittel zum Zweck widersprochen. Stattdessen plädierte sie für eine positive Bestimmung des Kampfs um Zeit als Kampf für ein »gutes Leben«. Mohssen Massarat bezieht sich im folgenden Beitrag auf die Kontroverse und schlägt nun seinerseits vor, Zeit als Mittel der Wachstumsregulierung zu begreifen. Dies empfahl er zusammen mit Peter Grottian und Stephan Krull von der Attac AG »Arbeitfairteilen« auch der Sozialdemokratie für deren Deutschland-Plan, der nun vorerst von anderen interpretiert und umgesetzt wird (siehe Freitag, 23. September 2009). Möglicherweise wird die Vorstellung, dass Arbeitszeitverkürzung zu einer »gesamtgesellschaftlichen win-win-Situation« führen könnte, von denen nicht geteilt, für die Zeit immer noch wesentlich Geld ist. Darum ist weiter zu streiten.

Legen wir die offizielle Arbeitslosenstatistik zu Grunde, waren Ende 2008 einschließlich einer stillen Reserve ca. 4,4 Millionen Menschen in Deutschland erwerbslos. Dank der Agenda 2010 fielen Millionen aus der Arbeitslosenstatistik heraus, die in Wahrheit dem Potential der Arbeitslosen zuzurechnen sind. Dazu gehören 2,3 Millionen angeblich arbeitsunwilliger Hartz IV-Empfänger, die sich aber den menschenunwürdigen Hartz IV-Regeln unterwerfen müssen, weil sie keinen Job finden. Hinzu kommen die 1,6 Millionen Ein-Euro Jobber, denen ebenfalls keine existenzsichernde Arbeit angeboten wird. Des Weiteren müssen 1-2 Millionen Beschäftigte hinzugenommen werden, die aller Wahrscheinlichkeit nach als Folge der Weltwirtschaftskrise in 2009/2010 vor der Entlassung stehen. Von den drei Millionen Minijobbern einmal abgesehen, sind alles in allem de facto ca. zehn Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos.

Zur Schaffung dieses beachtlichen Bedarfs an neuen Arbeitsplätzen bieten sich drei Möglichkeiten an:

  • hohe Wachstumsraten von jährlich vier Prozent und mehr; diese Alternative scheidet angesichts schrumpfender Wachstumsreserven und ökologischer Grenzen des Wachstums grundsätzlich aus;
  • die Option des qualitativen Wachstums durch Umleitung der Kapazitäten in umweltfreundliche und Dienstleistungs-Sektoren führt in erster Linie zur Umverteilung, jedoch unter dem Strich nicht zu neuen Arbeitsplätzen;
  • bleibt einzig die Option der drastischen Verkürzung der Arbeitszeit und zwar nach Berechnung der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik auf durchschnittlich 28 Stunden pro Woche.

Daher gehört neben der Forderung nach flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen und der Einführung einer repressionsfreien Grundsicherung anstelle von Hartz IV die radikale Arbeitszeitverkürzung auf die gewerkschafts- und sozialpolitische Agenda sowohl national wie europäisch und international. Wenn nicht jetzt – wann denn? Während der Neoliberalismus als Folge der Weltwirtschaftskrise gegenwärtig ideologisch seinen Tiefpunkt erreichte, trägt die FDP, der Hort des Neoliberalismus in Deutschland, bei den Bundestagswahlen kurioserweise den historischen Sieg davon, um in der Regierung die Fahne des Neoliberalismus weiterhin hochzuhalten.

Der Neubeginn der Arbeitszeitdebatte, wie im express 7-8/2009 mit dem Beitrag von Werner Sauerborn er-folgt, ist insofern sehr verdienstvoll. Eine kritische Reflexion darüber ist dabei unumgänglich, weshalb die Gewerkschaftsführung, aber auch Betriebsräte in ihren Bemühungen, bestehende Arbeitsplätze zu erhalten und Arbeitslosigkeit zu überwinden – wie gerade jetzt bei Opel und zahlreichen anderen vor Massenentlassungen stehenden Betrieben – ausgerechnet um das Instrument Arbeitszeitverkürzung am liebsten einen Bogen machen. In diesem Zusammenhang spielen meines Erachtens mehrere Aspekte eine wichtige Rolle: erstens die institutionalisierte Entsolidarisierung innerhalb der Arbeiterschaft, zweitens die Finanzierung und drittens die historischen Versäumnisse der Gewerkschaften bei früheren Arbeitszeitverkürzungs-Kampag-nen.

Systemimmanente Entsolidarisierung

Sauerborn arbeitet in seinem Beitrag den Aspekt der Entsolidarisierung systemimmanent, d.h. unter Berücksichtigung der Wettbewerbslogik, sehr präzise heraus. Tatsächlich sind die Ängste der KollegInnen in den Betrieben unter der herrschenden Konkurrenz – zumal wegen des Fehlens des gesetzlichen Mindestlohns – sehr real, durch Arbeitszeitverkürzung und Mehrbelastung für die Unternehmen den eigenen Job zu verlieren. Auch durch die Zerschlagung der Flächentarifverträge ist die Entsolidarisierung längst institutionalisiert, da Betriebsräte sich bei Androhung von Entlassungen in der Regel dem Diktat der Unternehmen unterwerfen. Dem Spaltpilz innerhalb der Arbeiterschaft kann daher nur betriebs- und branchenübergreifend mit gesetzlicher Arbeitszeitverkürzung begegnet werden.

Schwer nachvollziehbar ist allerdings die Kritik von Mag Wompel in derselben express-Ausgabe, die – ausgehend vom »Zweck« der Erwerbsarbeit, nämlich »gute Lebensbedingungen« – für den »Kampf um möglichst gute Lebensbedingungen gerade der Erwerbslosen, der Ärmsten« plädiert. Obgleich der Kritik Mag Wompels bezüglich der Fetischisierung von Erwerbsarbeit zuzustimmen ist und zuweilen der Wunsch nach Erhalt des Arbeitsplatzes in dem einen oder anderen Betrieb alle anderen sozial- und gesellschaftspolitischen Themen überlagert, bleibt ihre Schlussfolgerung, dass »das Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen wichtiger werden« (müsste) als der ›Besitz‹ oder ›Erhalt‹ von Arbeitsplätzen, eine Konstruktion. Es macht jedenfalls weder logisch noch historisch Sinn, die zwei sozialpolitischen Ziele Arbeitsplätze und gute Lebensbedingungen gegeneinander auszuspielen. Die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit steht im Kapitalismus nicht im Widerspruch zu guter Arbeit und guten Lebensbedingungen, sondern ist ihre Grundvoraussetzung. Erst dadurch können Gewerkschaften stark genug werden, um ihren Anteil am produzierten Mehrwert zum Zwecke der Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zu erhöhen. Die gewerkschaftliche Blütezeit von Lohnerhöhungen zwischen fünf und zehn Prozent, dazu noch das Urlaubsgeld und das 13. Monatsgehalt, gehörten eben zur Periode der Beinahe-Vollbeschäftigung in den 1970er und Anfang der 1980er Jahre. Zu dieser Zeit konnte auch die 35-Stundenwoche für die verarbeitende Industrie durchgesetzt werden.

Die Gewerkschaften verloren seit Mitte der 1980er Jahre sukzessive ihre Kampfkraft und gerieten in die neoliberale Falle des permanenten Verzichts und der zunehmenden Erpressbarkeit, gerade weil sie es versäumt haben, ihre Strategie der Arbeitszeitverkürzung der 1980er Jahre weiterzuentwickeln und in Verbindung mit Produktivitätssteigerungen ihren Kampf für die Fortsetzung von Arbeitszeitverkürzung über die 35-Stundenwoche hinaus weiterzuführen. Nun gilt es, die gegenwärtige Wirtschaftskrise zu nutzen und das Versäumte nachzuholen. Arbeitszeitverkürzung durch Umverteilung kann so zum Dreh- und Angelpunkt und zur Voraussetzung der Minimierung von Erpressbarkeit der Lohnarbeit und der Angst um den Arbeitsplatzverlust, somit zu einer Strategie der offensiven gewerkschaftlichen Politik werden, die neoliberale Umverteilung von unten nach oben in ihr Gegenteil zu verwandeln. Offensichtlich übersieht Mag Wompel den unstrittigen Zusammenhang zwischen Massenarbeitslosigkeit, Erpressbarkeit der Lohnarbeit, Lohnsenkung, Prekarisierung, Hartz IV und Zementierung dieser Verhältnisse, die der Neoliberalismus in den letzten Jahrzehnten zu einer einzig möglichen Alternative erklärte, um angeblich den Bestand an Arbeitsplätzen zu sichern.

Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich

Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich – damit komme ich zum zweiten Aspekt: dem Finanzierungsproblem – bedeutet Einkommenssenkung bei den unteren Einkommensgruppen gar unterhalb des Existenzminimums; mit teilweisem Lohnausgleich bedeutet sie Mehrbelastung für alle Kapitalgruppen; mit vollem Lohnausgleich eine Mehrbelastung, die Mittelstandbetriebe mit niedriger Profitrate in den Ruin treiben könnte. Eine Erfolg versprechende Strategie der Arbeitszeitverkürzung muss auf dieses Dilemma eine Antwort geben. Ganz zu Recht stellt Sauerborn diesen Aspekt in der erwähnten express-Ausgabe besonders heraus. Die Forderung der gewerkschaftlichen Befürworter der Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich, wie z.B. bei der Partei »Die Linke«, mag moralisch richtig und nach mehreren Jahrzehnten Umverteilung von unten nach oben auch verteilungspolitisch gerechtfertigt sein. Machtpolitisch ist sie jedoch nicht nur schwer durchsetzbar, sie treibt obendrein die gesamten weniger rentabel arbeitenden Mittelstandsunternehmer in den Schoß der großen Konzerne und stärkt so die große neoliberale Koalition, die die Arbeitszeitverkürzung weniger aus Wettbewerbsgründen, sondern aus machtpolitischen Erwägungen heraus mit Vehemenz blockieren würde. Warum sollte sich die Kapitalseite auch auf eine Forderung einlassen, die kurzfristig für sie höhere Kosten und langfristig stärkere Gewerkschaften hervorbringt, wenn sie – wie seit längerem der Fall – längere Arbeitszeiten sogar ohne Lohnausgleich durchsetzen kann.

Zur Überwindung der eigenen machtpolitischen Schwäche müsste daher der Abbau der Massenarbeitslosigkeit durch Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung der Arbeit zum strategischen Ziel gewerkschaftlicher Beschäftigungspolitik (»Arbeitszeitverkürzung auf jeden Fall«, Sauerborn) erklärt werden. In welchem Umfang dabei ein Lohnausgleich herausgeholt werden könnte, ergibt sich aus der realen Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, die in dem Maße zu- wie die Massenarbeitslosigkeit abnimmt. Die Forderung nach maximalem Lohnausgleich, wie Sauerborn vorschlägt, liefert insofern den strategischen Begriff, der den jeweils herrschenden Machtverhältnissen Rechnung trägt und der im Unterschied zum vollen Lohnausgleich den Weg zur Erlangung von breiten Bündnissen – wohl auch gesellschaftlichen Mehrheiten für eine gesetzliche Arbeitszeitverkürzung – ebnet.

Bei der Debatte um den Umfang des Lohnausgleichs sollte übrigens auch berücksichtigt werden, dass eine eventuelle Einnahmesenkung bei Arbeitszeitverkürzung nicht – wie jetzt durch Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich – einen einseitigen Verzicht der Beschäftigten darstellt. Die Beschäftigen erhalten im Austausch gegen Lohnverzicht mehr Freizeit.

Nullwachstum im Kapitalismus durch Arbeitszeitverkürzung

Der gewerkschaftliche Kampf um die 35-Stundenwoche in den 1980er Jahren in Deutschland steht in der historischen Tradition des Kampfes für Arbeitszeitverkürzung und stellte insgesamt einen Erfolg dar. Das VW-Modell mit der 4-Tage- und 30-Stundenwoche bewies, dass sogar auch gesamtgesellschaftlich ein größeres Potential für eine Arbeitszeitverkürzung vorgelegen hat. Dieser Kampf war die historische Antwort nicht nur in sozialer Hinsicht und für die Verbesserung der Lebensbedingungen durch mehr Zeit für Familie und individuelle Entfaltung, sondern auch in ökologischer Hinsicht angesichts der Grenzen des Wachstums und der steigenden Arbeitsproduktivität. Die Arbeitszeitverkürzung ist tatsächlich die wirksamste Strategie für ein Nullwachstum im Kapitalismus, sofern sie an die Steigerung der Arbeitsproduktivität gekoppelt wird. In ihrer Fixierung auf die herrschende Wachstumsideologie übersahen aber die Gewerkschaften – um den dritten Aspekt, nämlich die historischen Versäumnisse an dieser Stelle ins Gedächtnis zu rufen – diesen Zusammenhang und ließen nach ihrem Sieg für die 35-Stundenwoche obendrein auch zu, dass die Kapitalseite die Arbeitszeitverkürzung teilweise durch Arbeitsverdichtung für die Beschäftigten wieder zurückholte, statt Arbeitslose einzustellen. So gesehen hat man es versäumt, durch die Kopplung von weiterer Arbeitszeitverkürzung mit Produktivitätssteigerung ein ökologisches und soziales Modell der Wachstumsregulierung zu etablieren, das geeignet ist, die doppelte Herausforderung von zunehmender Massenarbeitslosigkeit und schrumpfender Wachstumsressourcen kreativ und im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen win-win-Strategie zu meistern.

Des Weiteren hat Arbeitszeitverkürzung durch Umverteilung nicht nur eine tarifpolitische, sondern auch eine gesellschaftspolitische Dimension. Ein Mehr an Freizeit eröffnet eine neue Perspektive für neue und geschlechtergerechtere Beziehungen in Familie und Gesellschaft, es bedeutet neues Nachfragepotential für Weiterbildung und Sport, mehr Zeit für ehrenamtliche und kreative Tätigkeiten. Hinzu kommt auch die ökologische Perspektive durch Schrumpfung des kapitalistischen Sektors und sukzessive Reduktion des Erwerbsarbeitsvolumens, somit die Möglichkeit der Entwicklung von alternativen Produktionsweisen. Die Kampagne zur 35-Stundenwoche wurde jedoch auf eine rein tarifpolitische Angelegenheit reduziert und die gesellschaftspolitische Dimension weitgehend ausgeblendet. Eine neue Kampagne für Arbeitszeitverkürzung müsste im Unterschied dazu daher von vornherein als ein gesellschaftspolitisches Zukunftsprojekt begriffen und von sozialen Bewegungen in ihrer gesamten Breite und darüber hinaus getragen werden. [1]

* Mohssen Massarrat ist Hochschullehrer für Politik und Wirtschaft im Ruhestand und Mitglied in der attac-AG ArbeitFairTeilen.

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9-10/09

1) Ausführlicher s. zu diesen Überlegungen: Mohssen Massarrat: »Weniger wachsen – weniger arbeiten. Eine realistische Alternative«, in: Wissenschaft & Umwelt Interdisziplinär, Nr. 13, Herbst 2009


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