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Updated: 18.12.2012 15:51
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Vom "Kunden" und "Fallmanager" zum Mitmenschen

Erwerbslose und Mitarbeiter der Arbeitsagentur wechseln Rollen und Blickwinkel - ein gruppendynamisches Experiment an der Evangelischen Akademie und dem BA-Bildungszentrum Meißen

Über ihre plötzliche Harmonie waren die Akteure verblüfft und die Moderatorin fast schon ein wenig verärgert. Der Erwerbslose in der gespielten Rolle des Fallmanagers zeigte weit mehr Nachsicht mit seinem "Feind" hinter dem Amtstisch der Arbeitsagentur. Im Zweifrontenkrieg zwischen drängenden oder unappetitlichen "Kunden" und den nicht minder lästigen Chefs muss er selbst zur Tablette greifen, um dem Verschleiß zu begegnen. Nicht einmal Zeit zum Essen bleibt. Der "Mann mit dem Knüppel", der mehr als nur das reale Sicherheitspersonal der Agentur symbolisiert, spielte kaum noch eine Rolle.

Als sich Erwerbslose und ArbeitsvermittlerInnen zuvor im Februar und im März 2008 separat in Meißen getroffen hatten, fielen die Rollenspiele noch wesentlich drastischer aus. Besonders bei den "Kunden" der Arbeitsagentur brachen Ängste und Aggressionen durch, die sich nach ihren Erfahrungen auf den Ämtern jahrelang angestaut hatten. Die Angestellten der Arbeitsagentur wiederum fürchteten, bei der kommenden Begegnung beider Lager nur noch als Angeklagte und völlig isoliert dazustehen. Beim ersten Abend des Kennenlernens im April war ihre Abgrenzung, das Lagerdenken noch deutlich spürbar. Doch an den beiden gemeinsamen Tagen mit denen, die sonst jeweils auf der anderen Seite des Tisches sitzen, schien die Wut entweder verraucht oder in einen fernen Winkel verbannt. Was blieb, war in der szenischen Darstellung immer noch schlimm. Zynische Äußerungen wie "Was wir hier überhaupt nicht gebrauchen können, sind Kunden" waren zu hören. Und dann war da der "Fall", der solange im Sitzstreik vor dem Schreibtisch verharren wollte, bis die drohende Stromabschaltung abgewendet ist.

Das Pilotprojekt der Evangelischen Akademie Meißen wagte gemeinsam mit dem Bildungszentrum Meißen der Bundesagentur ein bislang beispielloses Experiment. Es löst nicht die Probleme der ausgehenden Arbeitsgesellschaft. Aber es versuchte, gegenseitiges Verständnis zwischen den Betroffenen und denen zu wecken, die an der Linderung der Zustände arbeiten. Mit dem Motto "Der Ton macht die Musik" hatte Studienleiterin Bettina Musiolek auf den Geist der Begegnung eingestimmt. Die FallmanagerInnen oder die Mitarbeiter der Leistungsabteilungen werden leicht zu Zielscheiben des Generalfrustes Erwerbsloser. Umgekehrt lässt es deren permanente Überlastung oft nicht zu, in der Person "vor dem Amtstisch" den Menschen und nicht nur den "Fall" wahrzunehmen.

Beide Seiten hatten sich zunächst in getrennten Modulen jeweils von Donnerstagabend bis Sonnabend über ihre eigene Situation verständigt. Die Kluft zwischen ihnen überwand das abschließende zweitägige Experiment durch einen bewährten gruppenpädagogischen Trick. Auf die Selbstvergewisserung folgte der Rollentausch, das theatralische Hineinversetzen in die Situation des anderen. Die je zehn Teilnehmer wurden angeleitet von der Lehrerin und Theaterpädagogin Ulrike Schmidt, die als ehemalige Leiterin des Chemnitzer Arbeitslosentheaters "TACH" einschlägige Erfahrungen mitbringt. Für eine entkrampfende Atmosphäre sorgte nicht nur die sprichwörtliche "Magie des Hauses" auf dem Meißner Burgberg. Hannes Heyne von der Klanghütte Dresden hatte eine Fülle von Instrumenten aus aller Welt mitgebracht, auf denen gemeinsam improvisiert wurde. Und wer überdies noch gemeinsame Bewegungsspiele ausführt, für die man nie zu alt ist, der beißt anschließend den Nachbarn nicht mehr.

Verständlicherweise tat die offene und geradezu harmonische Atmosphäre allen gut. Widersprüche sind damit aber nicht zugekleistert worden. Das Integrationstempo in eine solche unverhoffte Gemeinschaft ist stets unterschiedlich, und ein Teilnehmer stand zwischenzeitlich einmal kurz vor der Abreise. Selbstverständlich erleichtert die Wahrnehmung des anderen als Menschen und nicht nur als Funktionär oder als "Kunde" auch die eigene Seele. Die Genugtuung über das gegenseitige Kennenlernen beherrschte das abschließende Resümee der Teilnehmer. Hinter der öffentlichen Rolle steht immer ein Schicksal, das Empathie herausfordert, und mancher der heutigen Fallmanager kam selbst aus der Arbeitslosigkeit.

Das neue Rollenverhalten innerhalb des geschützten Raumes der Akademie bedarf aber auch der Analyse. Die Erregung der Spiel-Leiterin Ulrike Schmidt kam nicht von ungefähr, und in die Erleichterung durfte sich Misstrauen mischen. Denn für das demonstrative Verständnis gibt es mindestens zwei Erklärungsmuster. Warum dämpfte die bloße Anwesenheit der Agentur-Angestellten den zuvor gezeigten Zorn? Die Vermutung liegt nahe, dass latente Ängste doch fortwirken und sich die Fallmanager weiterhin in einer unbewussten Machtstellung befinden. Nicht Empathie allein könnte den Wandel bewirkt haben. Und nicht von ungefähr wollten einige Erwerbslose unbedingt anonym bleiben und nicht einmal auf Fotos erscheinen. Für die heimliche Dominanz der Vermittler spricht auch eine Beobachtung der abschließenden Runde am Schlusstag, als genau diese Frage im Raum stand. Es waren die Agentur-Mitarbeiter, die den Erwerbslosen ihr Verhalten erklären wollten, ehe diese zu Wort kamen. War dies wirklich eine Begegnung auf Augenhöhe?

Ein zweites Erklärungsmuster galt den Teilnehmern als ebenso wahrscheinlich. Es ist die Entdeckung eines gemeinsamen Feindes, das Bündnis gegen ein Drittes, gegen die Verhältnisse nämlich, als deren Opfer sich beide Seiten verstehen können. Politiker weckten außerdem illusorische Erwartungen, hieß es übereisntimmend. Die Tatsache, dass der generelle Mangel an bezahlten Arbeitsplätzen den Arbeitssuchenden bestenfalls schonend beigebracht werden kann, stimmte ebenso nachsichtig wie der Verweis auf ein ungeschriebenes Grundrecht auf Arbeit. Zu einer solchen Annäherung mag auch ein mehrstündiges Forum beigetragen haben, in dem ein Dozent des Bildungszentrums Meißen und eine Dresdner Arbeitslosenberaterin Fragen zum Leistungsrecht beantworteten. Was hier zutage trat, waren nicht nur die bekannten Ungereimtheiten der Gesetzgebung. Darunter die Inkompatibilität von Rente und Hartz IV, die abschreckende Wirkung auf die Altersvorsorge oder der Umgang mit erworbenen Immobilien. Die Rede war auch von der "Verschleißarbeit" in einer ARGE, vom psychischen Druck auf die Fallmanager oder Leistungs-Sachbearbeiter, ihre quantitative und qualitative Überlastung, wenn es sich um Quereinsteiger handelt. Die Bereitschaft zur Toleranz wächst, wenn Erwerbslose von verordneten Erfolgsquoten bei der Vermittlung und dem daraus resultierenden Druck auf ihr Gegenüber hören. Und von der Angst, selbst wieder arbeitslos zu werden. "Wir können ganz schnell auf der anderen Seite sitzen", hieß es in einer der Runden.

Leicht fiel es, in einer ersten Auswertung Wünsche an das künftige Verhalten zu formulieren: Mehr Verständnis, Wahrung der Würde, Einhaltung von Terminen und die Vermeidung langer Wartezeiten. Fallmanagement und Leistungsgewährung sollten in einer Hand liegen. Organisatorische Reserven in den noch jungen und bald wieder umzustrukturierenden ARGEN gibt es offenbar genug. Verlegenes Schweigen aber trat nach der Frage ein, wie es denn weitergehen solle? Auf jeden Fall sollten die Ergebnisse des Workshops den Vorgesetzten übermittelt werden, die der Weiterbildung ihrer Mitarbeiter ja auch zugestimmt hatten. Kann man derartige entkrampfende Begegnungen institutionalisieren? Wo und mit wem? Denn weniger offene und diskussionsbereite Erwerbslose wird man nicht ohne weiteres erreichen. Solche Seminare sollten jedenfalls flächendeckend angeboten werden, soweit bestand Einigkeit.

Gern nähme man die Atmosphäre der gegenseitigen Wahrnehmung und Wertschätzung in den Alltag mit, war wiederholt zu hören. Im gleichen Atemzug schwang aber schon Resignation mit, ob dies gelingen könne. "Am Montag ist wieder alles, wie es war", hieß es. Ein Vorschlagswesen, mit dem Neuerungen durchzusetzen wären, gibt es nicht. Dennoch bleibt der Glaube an die sprichwörtlichen kleinen Schritte, die möglich sind. "Vor wenigen Jahren wäre ein solche Begegnung noch nicht denkbar gewesen", verbreitete Studienleiterin Bettina Musiolek Hoffnung.

Bericht von Michael Bartsch


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