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Updated: 18.12.2012 16:00
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Kein Ort - Nirgends? Viele Orte - überall?

Eine Veranstaltung der Workers Center-Gruppe Rhein-Main

Ein großes Wort, doch mit oft entweder diffuser oder vorschnell vereinheitlichender Bedeutung: Prekarisierung. Noch schwerer wird es entsprechend, wenn es um Antworten auf den so genannten Prekarisierungsprozess geht. Ein Blick über die Grenzen kann hier erhellend sein: Er zeigt, dass MigrantInnen und prekär Beschäftigte schon seit den 80er Jahren angefangen haben, eigenständige Strategien zu entwickeln, wo traditionelle Formen gewerkschaftlicher Interessenvertretungspolitik an ihre Grenzen stoßen oder gar nicht erst greifen - weil wechselseitige Vorbehalte bestehen, weil Kapazitäten oder Interessen fehlen oder weil »der Betrieb« nicht mehr als sozialer Ort und Anlass für die Bildung von Gemeinsamkeiten funktioniert und »Orte der Begegnung« fehlen. Workers Center sind ein solcher Versuch, lokale Treffpunkte außerhalb des Betriebs zu bilden. Inwieweit dies ein fruchtbarer Ansatzpunkt unter hiesigen Bedingungen sein könnte, damit beschäftigte sich eine Veranstaltung der Workers Center-Gruppe Rhein-Main, über die Nadja Rakowitz berichtet.

Für Sonntag, den 24. April, hatte die Workers Center-Gruppe im türkischen Volkshaus Frankfurt a.M. eine Veranstaltung zum Thema Selbstorganisation in prekären Beschäftigungsverhältnissen organisiert, zu der Menschen aus verschiedenen Zusammenhängen zusammen kamen, um zum einen eine Bestandsaufnahme über prekäre Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland bzw. ganz konkret im Rhein-Main-Gebiet zu versuchen und zum anderen aus den so gewonnenen Erkenntnissen und ausgetauschten Erfahrungen Handlungsmöglichkeiten, Forderungen und nicht zuletzt Organisierungsperspektiven zu entwickeln.

Eingeladen wurden hierzu Vertreter von antirassistischen Gruppen, wie z.B. kein mensch ist illegal, von Beratungsstellen - vor allem für Migranten und Illegalisierte, und auch Betriebsräte aus Betrieben, die inzwischen in ganz unterschiedlicher Form mit prekären Beschäftigungsverhältnissen zu tun haben. Leider war es den Vertretern des Polnischen Sozialrats bzw. der ZAPO (Zentralen Anlaufstelle für Pendler aus Osteuropa) aus Berlin nicht möglich, nach Frankfurt zu kommen, da diese inzwischen aufgrund der finanziellen Kürzung der Unterstützung ihrer Arbeit selbst teils unter sehr prekären Bedingungen arbeiten müssen, teils - nach der Schließung der ZAPO - anderweitig beschäftigt sind. Ebenfalls kurzfristig abgesagt hatten Vertreter der IG BAU aus dem Bereich Reinigungsgewerbe sowie aus dem Bauhauptgewerbe und auch ein Vertreter des Wanderarbeiterverbands der IG BAU. Es sollte sich zeigen, dass damit wichtige Aspekte des Themas leider gefehlt haben.

Für die Veranstalter saßen auf dem Podium Kirsten Huckenbeck vom express, Hagen Kopp von kein mensch ist illegal (kmii) und Martina Denk als Mitglied der seit Ende 2003 bestehenden Arbeitsgruppe »Workers Center Rhein-Main«. Als Referenten waren Thomas Schmidt, ver.di, Betriebsrat bei Neckermann/Frankfurt, Mate Dosen, aus der IGM rausgeworfen, Betriebsrat bei DaimlerChrysler/Stuttgart und Judith Rosner von der Frankfurter Beratungsstelle Frauenrecht ist Menschenrecht (FiM) gekommen. Im Publikum saßen ca. 35 Menschen aus sichtbar unterschiedlichen Zusammenhängen - Menschen, die in antirassistischen Initiativen arbeiten, Kollegen aus verschiedenen Betrieben und verschiedenen »Communities«, Gewerkschafter und Gewerkschaftskritiker, Mitarbeiter von tie, Wissenschaftler etc.

Zu Beginn erläuterte Hagen Kopp zunächst einige Überlegungen der Workers Center-Gruppe Rhein-Main. Dankenswerterweise wollte er das Publikum nicht langweilen mit abstrakten Thesen zum globalisierten Arbeitsmarkt, sondern verwies darauf, dass es vor allem um so genannte Standort-ungebundene Sektoren, wie zum Beispiel die Textilindustrie, gehe, die längst ihre Produktionsstätten nach Osteuropa bzw. auch nach China ausgelagert haben, und dass es umgekehrt hier um Versuche gehe, den Niedriglohnsektor auszubauen, wobei migrantische und zum Teil illegale Arbeit zunehmend wichtig wird. Beide Phänomene zeigen, dass eine nationalstaatliche politischen Perspektive deshalb völlig unzureichend ist und uns diese Verhältnisse zwingen, international zu agieren und kooperieren.

Kurz berichtete er auch über bisherige Aktivitäten der Workers Center-Gruppe. So gab es in den Jahren 2001 und 2003 mehrere Veranstaltungen mit Kollegen von einem Garment Workers Center aus Los Angeles und aus der US-amerikanischen Gewerkschaft SEIU, die die Workers Center-Gruppe, in der antirassistische Gruppen wie kanak attak und kmii und das Bündnis gegen Abschiebung mit »Gewerkschaftslinken« kooperieren, inspiriert hatten, im breiteren Rahmen eine Diskussion darüber anzufangen, ob es auch im Rhein-Main-Gebiet möglich sei, ein Workers Center zu gründen. Vor dem Hintergrund der völlig fragmentierten und von hoher Beschäftigtenfluktuation charakterisierten Textilindustrie in den USA arbeiten die Kolleginnen dort mit einem, wie Hagen Kopp referierte, »holistic approach«, also mit einer Perspektive auf die Arbeitsbedingungen und Alltagsfragen der - zum Teil illegalisierten - Migranten. Dies beinhaltet die Frage nach Bildung(smöglichkeiten), nach Frauenrechten und Aufenthaltsrechten bzw. nach sozialen und politischen Rechten überhaupt. Dabei geht es explizit um eine ethnisch übergreifende Perspektive und Praxis und um die Verbindung des Kampfs gegen Ausbeutung mit dem um Aufenthaltsrechte. Bei zwei Millionen illegal in Los Angeles lebenden Menschen hat dieses Problem natürlich andere Ausmaße als in Deutschland.

Die Workers Center-Gruppe Rhein-Main treffe sich seit über einem Jahr regelmäßig, befinde sich jedoch noch in der Sondierungsphase. Diskutiert worden sei bislang über die Frage, welche Zugänge zu den verschiedenen migrantischen Communities bereits bestehen und wie weitere Zugänge entstehen könnten. Schon das stellte sich als ein Problem dar, weil die Arbeit - vor allem der illegalisierten - Migranten zunächst unsichtbar bleibt und auch insofern bleiben muss, als die Betroffenen ansonsten Ausweisungen und Abschiebungen befürchten müssen. Das heißt aber, dass man sich sehr genau mit den Bedingungen illegaler Arbeit auseinandersetzen muss, ohne dabei in einen Paternalismus zu verfallen, so Hagen Kopp. Die Frage, wie man mit dem »Ihr und Wir«-Problem umgeht, sei weiter zu diskutieren. Der Prekarisirungsprozess treffe jedoch mittlerweile verstärkt auch deutsche Beschäftigte, so dass der Zusammenhang zwischen den Ausbeutungsverhältnissen der Migranten und denen der vermeintlich Einheimischen immer offensichtlicher werde.

Hagen Kopp berichtete darüber hinaus von konkreten Befragungen, die kein mensch ist illegal mit Beschäftigten aus dem Reinigungsgewerbe (insbesondere der Fa. Piepenbrock) gemacht habe und von einer ersten »Intervention«: So gelang es, in der Auseinandersetzung mit einem Spargelbauern in Südhessen, der rumänische Saisonarbeiterinnen um ihren Lohn geprellt hatte, durch einen einfachen Anruf mit förmlichen Verweis auf entsprechende rechtliche Konsequenzen, diesen zur Zahlung der ausstehenden Löhne zu bewegen. Weitere Konflikte seien jedoch vorprogrammiert, da der Bauer, wie die rumänischen Arbeiterinnen berichtet hätten, abermals rückständig sei. (S. dazu auch den Film »Spargelernte«, Bestellungen über www.thistuesday.org externer Link; Anm. d. Red.)

Kirsten Huckenbeck reflektierte zunächst noch einmal den seit etwa Anfang der 90er Jahre gebräuchlichen Begriff der Prekarisierung, der zunächst immer unsichere Arbeitsverhältnisse in Abgrenzung zu den so genannten Normalarbeitsverhältnissen meine. Diese Trennung sei allerdings äußerst unscharf, denn selbst die Normalarbeit sei stets auch unsicher gewesen und sei dies noch trotz ihrer Regulierung. Außerdem müsse man hier genauer hinschauen, wer je in einem solchen Normalarbeitsverhältnis gearbeitet habe, insbesondere weltweit, aber auch innerhalb Deutschlands. Zur Illustrierung verwies sie auf das Faktum, dass es in rund 2800 derzeit geltenden Tarifverträgen in Deutschland 130 gebe, in denen Tariflöhne von sechs Euro und drunter festgelegt seien; das liege noch unter dem Mindestlohn in der Baubranche, der im Zusammenhang mit dem Entsendegesetz für ausländische Arbeitskräfte vereinbart worden sei. Auch der Dienstleistungsbereich sei in der Regel - von den vielzitierten Computerspezialisten mal abgesehen - überwiegend ein Niedriglohnbereich, in dem überwiegend Frauen unter »Zuverdienst«-Bedingungen arbeiteten. Die Löhne und Arbeitsbedingungen der Migranten lägen aber, so K.H., noch weiter unter denen der deutschen Beschäftigten. Oft bestünden zwischen migrantischen Beschäftigten und ihren Arbeitgebern nicht einmal bürgerliche Vertrags-, sondern personelle Abhängigkeitsverhältnisse, die durch die Illegalität noch verschärft werden.

Es gelte also, die Differenzen und Differenzierungen genauer in den Blick zu bekommen, um vorschnelle Abgrenzungsstrategien und darauf basierende Spaltungen zu vermeiden und Gemeinsamkeiten bestimmen zu können. Bei der Debatte um die ausländischen Spargelstecher, die nicht von Deutschen ersetzt werden könnten, weil die Arbeit »zu hart« (ohne Zweifel!) und deshalb einem Deutschen »nicht zumutbar« sei, habe man sich doch fragen müssen, warum es hier keinen gemeinsamen Aufschrei gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen auf der deutschen Scholle gab. Vereinzelt gebe es zwar gemeinsame Auseinandersetzungen und Kämpfe gegen diese Bedingungen, aber in Zukunft müsse die Perspektive sein, aus den vielen (aber immer noch zu wenigen) Einzelbaustellen eine gemeinsame Baustelle zu machen. (Schade noch mal, dass die Expertin von der IG BAU nicht kommen konnte!) Dafür sei die Kenntnis und ein wechselseitiges Verständnis der unterschiedlichen Realitäten der Prekarisierung Voraussetzung.

Thomas Schmidt, Betriebsrat in der Neckermann-Zentrale in Frankfurt, berichtete als nächstes, wie sich prekäre Arbeitsverhältnisse bei ihnen darstellen. Er schickte voraus - und unterstützte damit noch mal Kirsten Huckenbecks Argument - dass ein Beschäftigter im Lager bei Neckermann für einen Vollzeitjob mit 1683 Euro brutto nach Hause gehe, womit nach seinen Begriffen auch ein regulär Beschäftigter schon zumindest finanziell unter sehr prekären Bedingungen arbeiten muss. Neckermann hat im Jahr 2004 angefangen, Leiharbeitskräfte für die Lagerarbeit anzustellen, und der Betriebsrat habe nichts dagegen machen können. Auch die Berufung auf den im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz verankerten Grundsatz des Equal Pay, der besagt, dass für gleiche Arbeit auch gleicher Lohn bezahlt werden muss, war nicht möglich, da es in diesem Gesetz einen Tarifvertragsvorbehalt gibt. Dieser greift bei den Leiharbeitern, da sowohl der CGB als auch der DGB Tarifverträge mit den Leiharbeitgebern abgeschlossen haben. Laut DGB-Tarifvertrag arbeitet ein Leiharbeiter im Lager bei Neckermann für 6,85 Euro bzw. künftig, nach der jüngsten »Tariferhöhung« (s. express, Nr. 3/2005) für 7,02 Euro, womit er bei einem 35-Stunden-Vollzeit-Job auf 1039 Euro Brutto kommt. Damit kann man, so Thomas Schmidt, zum ersten Mal in der Geschichte der BRD von einem Vollzeitlohn nicht mehr leben. Verschärft werde die Situation für die Kollegen noch durch den aktuellen Druck der Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen und die vollständige Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die die Suche nach einem Zweitjob verunmöglichten. Der von Hartz beschworene »Klebeeffekt« durch die Erleichterung von Leiharbeit wirke - nur umgekehrt wie propagiert: Aus halbwegs regulären Neckermann-Arbeitsverhältnissen würden immer mehr Leiharbeitsverhältnisse - unter ganz regulären Bedingungen. Die einzige Bremse, die der Betriebsrat durchsetzen konnte, sei eine Quote von nicht mehr als 25 Prozent Leiharbeitern gewesen.

Für die Betriebsräte von Neckermann, die für die Leiharbeiter formal nicht zuständig sind, sei es sehr schwierig, mit den Kollegen in Kontakt zu kommen. Die unausgesprochene und zunächst auch unsichtbare Unternehmensgrenze zwischen Neckermann und den Leiharbeitsfirmen überträgt sich auch auf die Mitarbeiter bzw. Kollegen, und Gespräche untereinander kommen nur schwer in Gang. Hier sei manchmal die gemeinsame Nationalität eher hilfreich: So gebe es über die Zugehörigkeit zur gleichen Community durchaus z.B. Kontakte des marokkanischen Neckermann-Beschäftigten zu dem marokkanischen Leiharbeiter.

Das Phänomen Leiharbeit bei Neckermann sei jedoch kein Einzelfall, sondern breite sich im Versandhandel insgesamt aus.

Mate Dosen ist Betriebsrat bei DaimlerChrysler/Stuttgart und vor kurzem aus der IGM rausgeschmissen worden, weil er öffentlich Gewerkschaftskritik betrieben hat. Er erzählte, dass die Leiharbeit bei(m) Daimler kein brennendes Problem sei. In der »glorreichen« Zukunftsvereinbarung aus dem Sommer 2004 sei festgehalten, dass es bei Daimler nur drei Prozent Leiharbeiter geben dürfe. Das heiße aber nicht, dass es dort kein Problem mit prekärer Beschäftigung gebe. Ihr Problem seien die »Fremdfirmen«, also Firmen, die Daimler z.B. für die Reinigung, die Entsorgung und demnächst auch die Kantine anheuert. Diese Beschäftigten werden deutlich schlechter bezahlt, haben längere Arbeitszeiten und überhaupt schlechtere Arbeitsbedingungen. Deshalb versuchten auch einige dieser Beschäftigten, sich Rat beim Daimler-BR zu holen, für den das gleiche gilt wie bei Neckermann. Als dann 65 der »Fremden« mit Unterstützung einiger Daimler-BR einen eigenen Betriebsrat gründen wollten, seien gleich drei Kollegen entlassen worden - inzwischen habe Daimler die Fremdfirma komplett ausgetauscht. Jetzt habe man sich ein Unternehmen geholt, das zum Thyssen-Krupp-Konzern gehört. Die Firma zahlt den Beschäftigten ca. 1000 Euro für eine Vollzeitstelle und arbeitet mit der Angst der Beschäftigten vor dem Rausschmiss, der Arbeitslosigkeit und Harz IV.

Innerhalb des BR vom Daimler sei umstritten, so Dosen, wie man mit diesen Zuständen umgehen soll. Während Mate und einige Kollegen gegen die Arbeits- und Ausbeutungsbedingungen der Fremdfirmen offensiv kämpfen wollten - was bei der just-in-time-Produktion relativ einfach ist: »Wenn wir streiken, liegt am nächsten Tag Sindelfingen lahm« -, wollen der Mehrheits-BR und die IGM nicht kämpfen, sondern den Rückwärtsgang einlegen und einen Ergänzungstarifvertrag für die Dienstleistungsbeschäftigten aushandeln. Zur Dienstleistung sollen in Zukunft beim Daimler die Logistik, die Küche und die Kantine gemacht werden. Für die Beschäftigten dort wird das heißen, dass sie deutlich schlechter gestellt werden. Nachdem Mate und ein paar Vertrauensleute die Kollegen in den entsprechenden Bereichen darüber aufgeklärt haben, was das denn für sie heißen wird, scheinen diese den BR inzwischen allerdings ein wenig unter Druck zu setzen und ihm deutlich zu machen, dass sie die von der IGM geteilte Linie, die Verluste mitgestalten zu wollen, nicht unbedingt hinnehmen wollen.

In diesen Auseinandersetzungen sei nicht die Werksleitung das Hauptproblem, so Dosen, sondern der BR und die IGM, deren Standardargument die Konkurrenz mit den anderen Autoherstellern sei, der man sich stellen müsse, wenn man Ausgliederung verhindern wolle. Dosen erinnerte noch mal daran, dass auch die 35-Stunden-Woche und die 30-Tage-Urlaubsregelung durch Kampf gegen diese Wettbewerbslogik erreicht worden seien und kann berichten, dass auch die Kollegen aus der Stammbelegschaft langsam begreifen würden, dass die prekären Verhältnisse bei den Fremdfirmen durchaus als Konkurrenz und Druckmittel für sie eingesetzt werden können.

Eine ganz andere Perspektive eröffnete Judith Rosner von der Organisation Frauenrecht ist Menschenrecht. Das FiM ist eine Beratungs- und Informationsstelle für Frauen aus Südostasien und Mittel- und Osteuropa. Es wendet sich gegen Menschenhandel, Prostitutionstourismus und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess und setzt sich gegen ihre Diskriminierung und Ausbeutung ein.

Im Jahr 2004 kamen rund 640 Frauen in die Beratungsstelle. In der Mehrzahl hätten diese, so Rosner, darüber berichtet, dass ihr Hauptproblem die Suche nach einem Arbeitsplatz sei, um ihren Aufenthaltsstatus zu verlängern oder überhaupt eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Die Bereitschaft, jeden Arbeitsplatz anzunehmen, und seien die Arbeitsbedingungen auch noch so katastrophal, sei sehr hoch. Die meisten der Frauen arbeiteten halb legal - 400 Euro im Monat für 20 Stunden/Woche seien völlig normal - und halb illegal, meistens auf mehreren Arbeitsstellen parallel. Die wenigsten von den Frauen und mitunter auch Männern, die sie berate, hätten ein Interesse daran, dass man sich organisiere und für seine Rechte kämpfe, wie etwa die illegalisierten Bauarbeiter letztes Jahr in Berlin. Selbst wenn sie von Schweinereien der Arbeitgeber erzählten, würden sie keinen Namen nennen wollen, wenn FiM ihnen anbiete, gegen den AG vorzugehen oder zumindest die Schweinereien zu dokumentieren. Wenn man den Menschen nicht 100-prozentig garantieren könnte, dass sie nicht abgeschoben oder ausgewiesen würden, riskierten sie nichts. Dabei sei trotzdem ihre größte Angst die vor dem AG. Judith Rosner beschrieb dann einige typische Arbeitsverhältnisse: die meisten der Frauen, die sie betreut, arbeiten in Privathaushalten als moderne »Dienstmädchen« bzw. Putzhilfen für 7-10 Euro in der Stunde. Diese wie die »Live-in«-Arbeitsverhältnisse (die Beschäftigten leben im Haushalt der Arbeitgeber und sind in der Regel für die Pflege der Angehörigen da), scheinen sich im Zuge der EU-Osterweiterung zumindest für die Osteuropäerinnen zunehmend zu legalisieren. Viel schlechter bezahlt seien die Beschäftigten in der Gastronomie, die mit 3-5 Euro die Stunde und nach elend langen Arbeitszeiten nach Hause gehen. Aber, das betonte sie noch einmal, nur die Wenigsten hätten ein Interesse daran, sich zu organisieren und politisch für Aufenthaltsrechte oder bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.

Judith Rosner erinnerte noch an die Menschen, die schon in Abschiebehaft sitzen und die oft auch um ihren Lohn geprellt worden sind, worum sich niemand kümmere. Hier könnte sie sich eine Kooperation mit den Gewerkschaften vorstellen, die allerdings nur dann funktionieren würde, wenn die Gewerkschaften unbürokratisch - also ohne Beitrittsfristen etc. - mitmachen würden. Wenn man die Leute erst dazu bringen müsste, in die Gewerkschaft einzutreten, damit diese sich dann engagiere, habe man wenig Chancen.

Der Vortrag und die Perspektive von Judith Rosner wirkte für diesen Anlass phantasielos und fatalistisch - vielleicht auch nur pragmatisch. Es blieb dem Zuhörer auch bei ihren weiteren Beiträgen unklar, ob der Fatalismus, den sie schilderte, der ihrer gepeinigten KlientInnen oder ihr eigener war. Sie bemühte sich allerdings redlich, die Idee des Workers Centers zu verstehen und bekundete weiteres Interesse an Mitarbeit und Kommunikation.

Kirsten Huckenbeck griff nach dieser ersten Runde noch einmal das Problem des Aufenthaltsstatus und der Nationalität auf und fragte, welche Bedeutung Migration in den geschilderten Zusammenhängen der großindustriellen Betriebe habe. Mate Dosen drängte es sichtbar, zur Beantwortung dieser Frage groß auszuholen und sie in einen globalen gesellschaftskritischen Kontext zu stellen. Der Druck, unter dem die Beschäftigten - Stammbelegschaft wie Fremdfirmenbeschäftigte, Inländer wie Ausländer - immer mehr leiden, werde jeweils von der nächst höheren Ebene nach unten weitergegeben. Von der Unternehmensleitung auf die Werksleitung (und damit auch auf die Werksleiter), von diesen auf die Centerleitung, von diesen auf die Abteilungsleitung und so weiter bis runter ans Band. Wenn man mit einem Werksleiter spreche, der sich - wie das früher noch üblich oder zumindest möglich war in dieser Branche - »hochgearbeitet« habe, dann könne man feststellen, dass sie ähnlich unter dem Druck, also der nationalen und internationalen Konkurrenz leiden wie die Beschäftigten auch. »Das Problem ist«, so Dosen - und mit seinem Erfahrungshintergrund hatte das durchaus Bodenhaftung - »eben das System«, nämlich der Kapitalismus insgesamt, der dazu zwinge immer mehr in immer kürzerer Zeit aus den Betrieben, also den Kollegen auszupressen. Zum Beispiel gebe es bei Daimler das CORE-Konzept (s. express Nr.3/2005), das schlichtweg darin besteht, dass in den nächsten drei Jahren drei Milliarden Euro eingespart werden sollen. Dass darunter nicht nur die Belegschaft, sondern auch die Qualität der Autos leidet und jede dritte S-Klasse auf der Straße liegen bleibt, sei dann anscheinend egal... Das System insgesamt müsse verändert werden...

Das sei »hoffnungslos richtig«, meinte Thomas Schmidt dazu, dürfe aber nicht zum Fatalismus verleiten, weshalb er auf die konkrete Frage zurückkam und schilderte, dass bei Neckermann im Lager Menschen aus ca. 50 Nationen arbeiten, die alle eine ordentliche Arbeitserlaubnis bzw. Aufenthaltserlaubnis hätten. Trotzdem - er teilte die Ansicht von Judith Rosner - wäre das größte Problem auch hier, dass die Leute überhaupt einen Arbeitsplatz haben, wovon man nicht abstrahieren dürfe. Die Angst, arbeitslos zu werden, die sich jetzt mit Hartz IV noch verschärft hat, lähme auch die Kollegen, die scheinbar in gesicherten Verhältnissen arbeiten. Sie sei deshalb kein »Privileg« derer, die »berechtigt« Angst haben müssen.

Mate Dosen hat den Eindruck, dass sich bei den Kollegen allerdings etwas tut, dass sie - auch durch den Druck der Verhältnisse - einen genaueren Begriff von den kapitalistischen Zusammenhängen bekommen.

Gespräche im Betrieb und in der Kantine bestätigten ihm das. Aber auch die verlogene Kapitalismus-Kritik-Debatte der SPD hätten ihr die Berater doch wahrscheinlich deshalb empfohlen, weil sie meinen, dass damit populistische Punkte zu sammeln sind.

Als die Diskussion mit dem Publikum eröffnet wurde, stellte Heiner Köhnen vom tie-Bildungswerk zunächst fest, dass es kaum Orte gibt, an denen man über die Schwierigkeiten und die prekären individuellen und gesellschaftlichen Verhältnisse reden kann. Er begrüßte deshalb die Veranstaltung und deren Verlauf noch einmal ausdrücklich, weil er zunächst sehr skeptisch gewesen sei, ob überhaupt eine Kommunikation zwischen Leuten aus so unterschiedlichen Zusammenhängen möglich sei. Eine Frau aus dem Publikum betonte, dass ein wichtiger Aspekt der Prekarisierung die Prekarisierung der gesamten sozialen Beziehungen sei. Durch die z.T. illegalisierten, aber auch einfach durch die flexibilisierten und fragmentierten Arbeitsverhältnisse komme kaum noch ein sozialer Zusammenhang zustande bzw. könne ein solcher kaum noch gepflegt werden, weil die Menschen schlichtweg zu sehr eingespannt würden, um ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Was bleibe, seien noch Familien, manchmal noch Community-Zusammenhänge, doch Stadtteilarbeit, politische Arbeit etc. sei kaum noch möglich.

Stefanie Hürtgen machte auf die Zweiteilung des Podiums in zum einen betrieblich und zum anderen eher »sozialarbeiterisch« Aktive aufmerksam und fragte nach, welche Rolle außerbetriebliche Belange im Verhältnis zu betrieblichen Belangen für die Konstitution eines Workers Centers spielen.

Ein anderer Diskussionsteilnehmer kam auf die IGM zurück, deren betriebszentrierte Strategie im Moment gerade genauso scheitere, wie die gerade nicht betriebszentrierte Strategie der unionistischen Bewegung in den 70er Jahren an den fordistischen Strukturen gescheitert sei. Die Frage nach einem gemeinsamen sozialen Ort, nach Betrieb, Branche o.ä. als Organisierungsprinzip lasse sich offenbar pauschal nicht beantworten.

Daraufhin entspann sich eine Debatte über die Gewerkschaften und ihre Rolle heutzutage. Ein junger Mann hatte augenscheinliches Unbehagen bei der Vorstellung, dass die IGM-Führung die Beschäftigten, also die Basis, daran hindere oder gehindert habe (wie bei der von Mate Dosen geschilderten Besetzung der B 10 in Mettingen), sich offensiv und aktiv zu wehren gegen kapitalistische Zumutungen, und meinte noch einmal betonen zu müssen, dass es auch genug Kollegen gebe, die die gleiche fetischistische Standortlogik und die entsprechenden Lösungsstrategien im Kopf hätten wie die Unternehmer selbst - was niemand im Publikum und auf dem Podium bestritten hatte. Die implizite Verteidigung der Gewerkschaftsführung gegen die Renitenz der selbstbewussten Kollegen, ob bei Daimler oder bei Opel, schien aber eher eine Minderheitenmeinung zu sein. Die große Mehrheit des Publikums schien die Sicht von Dosen zu teilen.

Schwieriger wurde die Diskussion bei der Frage »was nun und wie weiter«? Judith Rosner begann sich mit der Idee des Workers Centers anzufreunden und meinte, dass ein Workers Center die Arbeitgeber offensiv angehen und ausstehende Löhne einfordern könnte, und dass sie ihren Klienten in der FiM dann auch explizit und offensiv raten könnte, sich dort zu organisieren. Bei der Frage, wie ein solches Workers Center zu organisieren sei, warnte sie davor, sofort ein neues Büro aufzumachen und neue Strukturen schaffen zu wollen und riet - auch aus pragmatischen Gründen - ein Workers Center in bestehende Strukturen oder Organisationen zu integrieren. Heiner Köhnen plädierte dafür, zunächst eher konkrete Kontakte herzustellen, z.B. zwischen den Frauen, die als Putzhilfen arbeiten und die die FiM berät, und Reinigungskräften, die bei verschiedenen Firmen im Rhein-Main-Gebiet arbeiten. Es sei wichtig, dass die Leute überhaupt erst einmal voneinander erfahren und miteinander reden könnten. Dafür müsste man konkrete Orte und damit Möglichkeiten schaffen. Erst über solche Kontakte könnte gemeinsame Organisation als Selbstorganisation entstehen. Judith hielt das für sehr schwierig, weil sie sich nur wenige ihrer Klienten vorstellen konnte, die dazu bereit wären. Hinzu käme das Sprachproblem und ein bei aller Selbstorganisation enormer Organisationsaufwand im Vorlauf.

Auch Hagen Kopp betonte, dass es im Moment nicht darum gehen kann, ein Workers Center aus dem Boden zu stampfen, sondern erst einmal darum, Räume zu schaffen, sich zu verständigen und einen größeren Kreis zu bilden, der arbeitsfähig sei. Er versteht den Begriff Workers Center hier und jetzt zunächst einmal als Chiffre für einen Kommunikationsraum, vom Büro mit eigener Telefonnummer etc. sei man noch weit weg, aber die Veranstaltung sei dafür doch schon ein guter Anfang. Das war eine Einschätzung, die viele teilten.

Thomas Schmidt erinnerte noch einmal an den Besuch von Monica Santana im letzten Sommer, die über das Latino Workers Center in New York berichtet hatte. Dort gebe es keine Mitgliedsbeiträge, weil das immer dazu führen würde, dass die Leute sich zurücklehnten und glaubten, mit einem finanziellen Beitrag sei das Nötige getan. Diese Haltung ist uns aus der Gewerkschaftsmitgliedschaft nur allzu bekannt. Im Workers Center in New York gelte das Prinzip, dass diejenigen, die Vertretung wünschten, »etwas geben müssten«. Geld werde dagegen nur dann gesammelt, wenn es für eine konkrete Aktion gebraucht werde, genauso wie die Geldgeber und ihre tätige Mithilfe. Auch der Bericht von Agnes Schreieder über die Organizer in den USA (s. express, Nr. 3/2005) sei, so Schmidt, eine schöne »Lockerungsübung für den Kopf« gewesen. Gewerkschaftsarbeit kann eben auch anders aussehen, als wir das hier kennen...

Nadja Rakowitz

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 4/05


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