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Updated: 18.12.2012 15:51
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Flüchtige Rebellion

Prekärer Alltag und soziale Bewegungen

Prekarisierung ist ein ebenso schillerndes wie hippes Thema. Bewegungen und Kampagnen der Prekakisierten entstehen oder werden proklamiert und bleiben doch eher Sternschnuppen, die nach kurzem Aufleuchten schnell verblassen. Das prekäre Leben ihrer TrägerInnen schlägt auf die sozialen Bewegungen selbst durch. Dies und die Konsequenzen für dauerhafte kollektive Solidaritäts- und Widerstandsstrukturen war das Thema eines Vortrags, den Peter Birke im Mai 2007 auf dem Kongress "Entsicherungsgesellschaft" in Wien gehalten hat. Der folgende Text ist eine überarbeite Fassung dieses Vortrags.

Der Diskurs um Prekarisierung ist auch in Deutschland nicht so neu, wie er manchmal erscheint. Was allerdings relativ neu ist, ist seine Diffusion in den linken und gesellschaftlichen Mainstream. Der Beginn dieser Ausbreitung kann für die Bundesrepublik ungefähr auf das Jahr 2004 datiert werden. Bis dahin war das Interesse an den so genannten "Randbelegschaften", aber auch den "Randgruppen" und "Marginalisierten" eher ein Spezialthema linker BetriebsaktivistInnen, linksradikaler SozialarbeiterInnen und derjenigen Linken, die sich noch auf die soziale Konfliktualität, auf Klassen und Klassenauseinandersetzungen bezogen haben - oft von einer etwas exaltierten Position in- und außerhalb der etablierten linken Infrastruktur aus. Als die Gruppe Blauer Montag 1998 diskutierte und schrieb, dass Prekarität kein neues Phänomen sei, sondern als allgemeine Grundbedingung proletarischer Existenz zu gelten habe, galt dies noch als ebenso abstrakte wie steile These. Und auch 2004 musste man sich noch heftige Anwürfe für die These anhören, dass die Sozialproteste in Frankreich seit den Massenstreiks von 1995 einen "allgemeinen Begriff der Prekarität" entwickelt hätten, der im Gegensatz zu der deutschen Debatte über "Ränder", "Ausgegrenzte" usw. stünde.

Neuzusammensetzung sozialer Bewegungen

Seitdem hat sich in sehr kurzer Zeit das Bild verschoben. Während der Prozess der Erosion sozialer Rechte wenigstens in der Bundesrepublik einen relativ langfristigen Charakter hat und im Grunde seit den frühen 1980er Jahren anhält, sind die politischen Konsequenzen erst in den letzten Jahren wirklich deutlich geworden. Dies hat damit zu tun, dass eine Verflüssigung, Dezentralisierung und Individualisierung nicht allein der Lebensverhältnisse, sondern auch der sozialen Bewegungen selbst stattgefunden hat. Die Voraussetzungen für das Bestehen kontinuierlich arbeitender und wie auch immer strategisch diskutierender Netzwerke sind prekär geworden. Dies gilt auch unabhängig davon, dass die Konstituierung der Bewegungen nie symmetrisch war. Die beste Gelegenheit, sich mit Politik zu befassen, hatten in der Vergangenheit vorrangig Männer bürgerlicher Herkunft und mit deutschem Pass. In den meisten Gewerkschaften dominierten die Facharbeiter und der aus ihnen rekrutierte hauptamtliche Kader. Und auch "Bewegungsunternehmer" haben es leichter, sich auf dem Markt zu etablieren, wenn sie entsprechende Ressourcen mitbringen. Das Problem ist nicht, dass die Dominanzverhältnisse und Hierarchien in der "Entsicherungsgesellschaft" entstehen: Aber sie verstärken sich. Die Debatte um Prekarisierung ist von daher auch eine Chance, diese Verhältnisse im Inneren der sozialen Bewegungen zu thematisieren.

Zugleich ist es eine Herausforderung, dass die Aufsplitterungen innerhalb der Bewegung(en) - zwischen "alten" und "neuen" sozialen Bewegungen, ArbeiterInnenbewegung und politischem Protest, Protesten im Produktions- und Reproduktionsbereich, den Protesten der verschiedenen Generationen usw. - anachronistisch geworden ist. Die mit den genannten Teilungen verbundenen Besetzungen und Identitäten spielen zwar weiterhin eine Rolle, sie "wirken nach", aber sie werden zugleich verflüssigt und aufgelöst. Dass die politischen Projekte rund um die Prekarisierung in den deutschsprachigen Ländern innerhalb einer kurzen Zeitspanne eine hohe Bedeutung erlangt haben, ist als wirklicher Bruch mit diesem Anachronismus zu verstehen. Die Neuzusammensetzung der sozialen Bewegungen, einschließlich der mit ihnen verbundenen neuen Hierarchisierungen und Verwerfungen, steht auf der Tagesordnung. Damit vollzieht sich zugleich etwas, was beispielsweise Immanuel Wallerstein als eine der wichtigsten Errungenschaften der "globalen Revolution von 1968" bezeichnet hat: Soziale Bewegung kann potenziell selbst als Konflikt begriffen werden, als Ort, in dem Zwangsidentitäten und Zuweisungen wirklich, d.h. nicht alleine symbolisch, sowohl produziert als auch angegriffen werden.

Aus der Einsicht in die praktische Relevanz solcher Konflikte und Kämpfe folgt, dass es falsch ist, Prekarität nur als Form zu verstehen, durch die hindurch historische soziale Ansprüche der LohnarbeiterInnen abgewickelt werden. Leider hat mit der Verallgemeinerung der Debatte in der Bundesrepublik diese Tendenz immer mehr ausgebildet: Insbesondere auf Seiten der Gewerkschaften und eines eher traditionalistischen linken Mainstreams wird der Diskurs zunehmend durch die Forderung nach (staatlicher) Re-Regulierung bestimmt, die den "desorientierten" und "entwurzelten" "Prekariern" Halt verleihen könnte. Was z.B. Klaus Dörre "Entprekarisierung" nennt, ist jedoch nicht allein deshalb fragwürdig, weil sich diese "Strategie" als eine verkauft, die sich konsensual zwischen Arbeitsmarktparteien und Staat vereinbaren ließe. Es ist auch fragwürdig, weil auf eine institutionelle "Vernunft" gesetzt wird, die unabhängig von sozialen Konflikten und Kämpfen zu existieren scheint.

Wir müssen diese Forderung nach "Entprekarisierung" vom Kopf auf die Füße stellen: Resistenz und Widerstand in ihren verschiedenen Formen sollten als aktives soziales Handeln begriffen werden, das nicht strukturell eindeutig definiert ist und hinsichtlich seiner Folgen immer ambivalent bleiben muss. Vor allem aber schafft dieses soziale Handeln selbst die Bedingungen, auf die die Sozialwissenschaft und andere institutionelle Akteure lediglich reagieren. Während ein Teil der bundesdeutschen Soziologie heute den Verfall der regulierenden Funktion der Erwerbsarbeit beklagt, stellen die sozialen Kämpfe und Bewegungen immer häufiger und dringlicher die Forderung auf die Tagesordnung, dass soziale Rechte und Bedürfnisse nicht mehr auf Grundlage der hierarchisierten Funktionen und Zuschreibungen des Arbeitsmarktes definiert werden. Die flüssige Situation des prekären Lebens und Arbeitens bedeutet vielmehr, dass Wohnbedingungen, Stadtentwicklung, die Verteilung der Sorgearbeit, Kommunikationsformen der sozialen Bewegungen selbst, Einkünfte jenseits der Lohnarbeit, direkter Verkauf von Waren, unentgeltlicher Tausch, soziale Netzwerke und Beziehungen unmittelbar politische Bedeutung erhalten.

In dem Maße, wie Prekarisierung die Grenze zwischen "Leben" und "Arbeiten" ausfranst und die Erfordernisse der ökonomischen Reproduktion in alle Lebensbereiche ausweitet, stellt sich diese flüssige Situation in einer Totalität dar, in der der Kampf um die Bedingungen der Lohnarbeit ein wichtiges, aber kein zentrales Moment mehr darstellt. Die Lebensrealitäten, die aus den Zusammenhängen der neuen sozialen Bewegungen hervorgehend dokumentiert worden sind, sprechen für diese "umfassende Definition" der Prekarisierung. "Precarias a la deriva" etwa bedeutet ausdrücklich, soziale Situationen auf dem Weg zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit zu untersuchen. Und auch gewerkschaftliche Projekte, die sich dem Organizing verschrieben haben, haben immer schnell mit der Frage zu tun, in welchen Lebensverhältnissen sich die zu Organisierenden insgesamt befinden.

Prekarität zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit

Wenn es stimmt, dass solche Verbindungslinien heute deutlicher sichtbar sind als in den 1980er und 1990er Jahren, dann lohnt es sich, kurz zu skizzieren, wie es dazu gekommen ist. Viele der sozialen Kämpfe des letzten Jahrzehntes in Europa drehten sich - lokal wie transnational - um die Verteidigung öffentlicher Güter und sozialer Rechte. Dies gilt für die weithin bekannt gewordenen Proteste im Jahr 2004 in Frankreich (Intermittents, LehrerInnen, öffentlicher Dienst) und Italien (Rentenreform, Kündigungsschutz) oder der Bundesrepublik. Die Bewegungen gegen die Hartz-Gesetze haben entscheidend dazu beigetragen, dass das Thema Prekarisierung und die Frage nach der Grundsicherung in der Bundesrepublik heute auch dem Mainstream nicht mehr völlig fremd sind. Wo soziale Kämpfe sich auf Lohnarbeit bezogen haben, verhandelten sie häufig das Verhältnis zwischen entlohnter Arbeit und sozialen Ansprüchen und nicht allein Tarife und Arbeitsbedingungen im engeren Sinne. Gleichzeitig haben lokale soziale Konflikte zumindest potenziell die Räume erweitert, um die es ging und geht: Die "soziale Frage" wird auch in Konflikten um die Ökonomisierung der Sozialpolitik, um den Flächen- und Ressourcenverbrauch großindustrieller Projekte, um die Kontrolle öffentlicher Räume usw. thematisiert.

Dass um die Erweiterung und Verbreitung dieser Agenda gestritten werden muss und dass die damit verknüpften Erkenntnisse auch wieder verloren gehen können, hängt damit zusammen, dass die Kommunikationsformen sozialer Bewegungen die beschriebene flüchtige Form angenommen haben. Der Verlust der Erinnerung und der Kontinuität, der die "neuen" sozialen Bewegungen auch früher schon prägte, hat heute eine enorme Beschleunigung erfahren. Die Sozialproteste in Westeuropa sind in diesem Jahrzehnt sozusagen immer und überall, es gibt kaum eine Atempause oder eine Zeit, in der allgemein Ruhe herrschte. Gleichzeitig sind sie überall und nirgends, absolut lokalisiert und völlig diffundiert.

Der Widerspruch zwischen einer Resistenz, die in konkretem, wenn auch öffentlich meist unsichtbarem Alltagsverhalten verortet ist, und ihrer "Verflüchtigung" stellt sich dabei durchaus als Grenze für Bewegungen dar. Im laufenden Jahrzehnt kam es europaweit zu einer Welle von Massenprotesten, Streiks, Boykotten und Besetzungen, ohne dass sich die Bewegungen verstetigt hätten und ohne dass die vielen kleinen Rebellionen nachhaltig institutionell gewirkt hätten. Während Proteste wie der Kampf um das Ungdomshus in Kopenhagen zu lokal-transnational vermittelten Ereignissen werden, ist selbst die "Bewegung der Bewegungen" in der Form von Netzwerken wie attac oder den Sozialforen in vielen Ländern heute in der Krise.

Trotz ihrer großen Bedeutung in der Zusammenfassung und kontinuierlichen transnationalen Diffusion der Protestbewegungen haben es Bündnisse und Kampagnen bislang nicht vermocht, eine dauerhafte soziale Basis zu entwickeln, die diese flüssige und flüchtige Konstitution hätte durchbrechen können. Die Versuche, eine Kontinuität des Widerstands gegen Prekarisierung zu entwickeln, halten an, treffen aber auf große Schwierigkeiten. Die Vermittlung zwischen den sozialen Kämpfen kann - sowohl im lokalen als auch im transnationalen Rahmen - wohl am ehesten als virtuell beschrieben werden. Offen ist, welche Formen der Kollektivität und der solidarischen Interaktion aus diesen Kampagnen entstehen können. In der Tendenz wird dieser Mangel dadurch verdeckt, wenn die Kampagnen zwar erklären, eine ganz andere, direkte, unvermittelte Basispolitik anzustreben, sich aber gleichwohl als exemplarisch verstehen, als eine Art Avantgarde, als zentraler Ort und Mittelpunkt.

Konkrete Resistenz - virtuelle Vermittlung

Beispielhaft kann dieses Problem anhand eines Motivs aus dem Hamburger Euromayday 2007 diskutiert werden. Ein Plakat, das zu einem Vorbereitungstreffen einlud, zeigte eine junge "Super-Heldin", die die Welt im Allgemeinen und den öffentlichen urbanen Raum im Besonderen erobert oder, wie es in der Kampagne hieß, "sich sichtbar macht": Dabei geht es um "prekäre Produktionsverhältnisse in Kunst, Kultur, Wissenschaft und mehr." Das Bild drückt eine doppelte Orientierung an den Existenzweisen der mutmaßlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer der "Euromayday"-Veranstaltungen aus: Es verabschiedet sich zum ersten wohltuend vom allgemeinen Ton der akademischen Debatte, in der viel von "strukturellen Bedingungen" und ewigen Verschlechterungen die Rede ist. Im Mittelpunkt steht hier "Wir sind die Prekären. Wir vertreten uns selbst" - eine Politik in der ersten Person ganz in der Tradition der sozialen Bewegungen seit 1968.

Doch inwiefern ist dieses Bild wirklich exemplarisch? Inwiefern regt diese Heldin zum Nachahmen an? Empirisch spricht dafür, dass "Kunst, Kultur und Wissenschaft" in der Bundesrepublik tatsächlich als Felder bezeichnet werden können, in denen die Entgrenzung der Arbeit und die Prekarisierung der Lebensverhältnisse in den letzten Jahren in beispielhafter Weise vorangetrieben wurden. Hier scheint sich die These zu bestätigen, dass Prekarität ein soziales Phänomen ist, dass "quer" zu traditionellen sozialen Schichtungen auftritt: die Zahl der Selbstständigen im Bereich von Kunst, Kultur und Medien stieg in dieser Zeit etwa vier Mal so stark wie im Durchschnitt der anderen Sektoren. Der Zuwachs an Arbeitenden in den "kreativen" Sektoren", der insgesamt außerordentliche 30% betrug, geht also weitgehend auf die steigende Zahl von Freelancern zurück. Die meisten der so Beschäftigten sind, gemessen an ihrem Geldeinkommen, arm: Die Künstlersozialkasse spricht von einem durchschnittlichen Jahresverdienst von etwa 12.500 Euro bei Männern und 9.350 Euro bei Frauen.

Die Zahlen illustrieren, was Prekarisierung heißt: in eine Situation zu kommen, die die Verantwortung für die Reproduktion der eigenen Arbeitskraft weitgehend auf das Individuum verlagert, während gleichzeitig die für diese Reproduktion notwendigen Ressourcen nicht zur Verfügung stehen. Auf diese Weise entsteht eine merkwürdige Verschiebung des Verhältnisses von Raum und Zeit, Gegenwart und Zukunft. Eine Planung des Lebens wird in dem Maße erschwert, wie wir uns an die Arbeitsmarktbedingungen anpassen. Lebensereignisse, die nicht mit dem Direktverkauf der Arbeitskraft auf dem Markt kompatibel sind, Krankheiten, ein Kinderwunsch, die Beschäftigung mit anderen Dingen als denen, die der Hype vorgibt, führen dazu, dass wir individuell vom Markt geworfen werden. Die Marktposition trägt dazu bei, dass die Konstituierung kollektiver Zusammenhänge sehr schwer ist - nicht allein, weil mensch sich in diversen sozialen und kommunikativen Zusammenhängen bewegen muss, sondern auch, weil diese selbst diskontinuierlich sind.

Verallgemeinerung und Selbstaffirmation

Die geschlechtsspezifische Polarisierung der Einkommen, die angesichts dessen, dass in den unteren Einkommensgruppen buchstäblich "jede Mark zählt", wirklich enorm ist, wird reproduziert. Gleichzeitig wird durch die Erosion der sozialstaatlichen Sicherungssysteme die traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der unbezahlten Reproduktionsarbeit erneuert. Schließlich verstärken die Armutslöhne bzw. -preise die "diskrete" Polarisierung der Lebenschancen. Oder anders gesagt: Alle sind arm, aber manche haben eine Erbschaft gemacht. Ein Austausch über solche Ungleichheiten oder gar ein solidarischer Umgang damit ist selten und fast durchgehend privatisiert. Gerade im akademischen und künstlerischen Feld werden in der Folge alle möglichen Identitäten thematisiert, konstruiert und dekonstruiert, die Kategorie "Klasse" aber wird fast immer beschwiegen.

Anhand einer Kampagne "rund um die prekäre Beschäftigung in Kunst, Kultur und Wissenschaft" könnte also vieles deutlich gemacht werden. Dennoch bleibt die Frage, welche Allgemeinheit im Mayday-Motiv tatsächlich angesprochen wird. Insgesamt gibt es 4,5 Millionen Selbstständige in der Bundesrepublik - eine recht kleine Minderheit von rund 5% der Bevölkerung. Selbst davon machen diejenigen, die in der Künstlersozialkasse versichert sind, nur einen Bruchteil aus. Und schließlich differieren noch innerhalb dieses Bruchteils die Verhältnisse stark. Die Herausforderung, eine Kontinuität zwischen prekären Lebensverhältnissen zu benennen, die zugleich deren Hierarchisierung und Zerklüftung thematisiert, bleibt also bestehen.

Dazu kommt, dass selbstständige Beschäftigung die Illusion einer sozialen Durchlässigkeit produziert: Als UnternehmerInnen sind wir alle gleich. Gerade in den "kreativen" Bereichen drückt sich diese urkapitalistische "Gleichheit" als Identität zwischen Produzenten und "moralischen" Produkten aus, die scheinbar "unabhängig" von ihren materiellen Voraussetzungen verortet ist. Obwohl Konkurrenz und entfremdete Arbeitsbedingungen allgegenwärtig sind, muss man die Illusion, eine Chance zu haben oder etwas "Spannendes" zu tun bis zu einem gewissen Grade teilen, um in diesen Bereichen zu arbeiten. Wenn es um die gemeinsame Organisierung im Kampf für gleiche soziale Rechte geht, muss diese Illusion aber durchbrochen werden, denn sie versperrt den Weg zu Kollektivität und Solidarität. In den Motiven derjenigen Kampagnen, die an ein virtuelles Prekariat appellieren, taucht leider gerade diese, zugegeben schwierige und alleine und isoliert kaum zu bewältigende Forderung nach einer Negation des beruflichen Status und der persönlichen Identifizierungen kaum auf. Doch auf Dauer werden wir wohl nicht darum herum kommen: Gegenüber den Herausforderungen, mit denen uns der soziale Gehalt der Prekarität konfrontiert, wirken Bilder und Motive universeller Stärke sowie glatter und eindeutiger politischer Entscheidungen eher wie eine hilflose Beschwörung.

Trotz der Floskel "und mehr" im Logo der Mayday-Kampagne besteht so die Gefahr, dass andere soziale Erfahrungen wieder an den Rand der Wahrnehmung verschoben werden. Dass die Erfahrungen der Prekarisierung auch im Kunst-, Kultur- und Wissenschaftsbetrieb gemacht werden, bedeutet keineswegs, dass sich daraus automatisch eine "Verallgemeinerung" ableiten lässt. Das Mayday-Logo sollte statt virtueller Verallgemeinerung zu realer Neugier inspirieren: Was ist dieses "und mehr" wirklich? Unsere sozialen Erfahrungen sind hier immer noch sehr begrenzt. Die meisten offenen sozialen Konflikte und Kämpfe, die z.B. in Hamburg seit Beginn des Jahres stattgefunden haben, sind an der akademischen Linken völlig vorbei gegangen: der Konflikt um den Stellenabbau bei Airbus, um die Privatisierung der Schulen und die Verschlechterung der Kinderbetreuung, der Verkauf öffentlichen Wohneigentums oder die Angriffe auf die soziale Absicherung in bestimmten aus der Wahrnehmung verdrängten Stadtteilen. Alle diese Konflikte sind für das Feld der Prekarisierung zentral. Doch in all diesen Konflikten hat sich wenig daran geändert, dass sie eine Sache von SpezialistInnen geblieben sind, die öffentlich und auch in "unserer" Öffentlichkeit kaum auftauchen. Untersuchungen zur Prekarisierung wie zu den Kämpfen des Prekariats sollten sich deshalb genau diesen Feldern zuwenden. Die soziale Diffusion der politischen Kommunikationsformen steht insofern auch ganz konkret und lokal auf der Tagesordnung. Sie ist Voraussetzung dafür, dass die Potentiale, die die neuesten Sozialproteste und sozialen Bewegungen entfaltet haben, im Gespräch bleiben und die Forderungen nach sozialen Rechten und einer Existenz unabhängig von den brutalen Hierarchien, die die Lohnarbeit hervorbringt, auf Dauer von der Utopie zur Wirklichkeit werden.

Peter Birke
ak
- zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 520 / 21.9.2007


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