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Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Spannende Suchprozesse rund um Prekarisierung

Mehr als eine Replik auf Dirk Hauers Artikel im letzten express

Im Juni letzten Jahres fand in Dortmund unter dem Titel »Die Kosten rebellieren« eine Konferenz zu Prekarisierung und Migration statt. Initiiert von Labournet- und »kein mensch ist illegal«-AktivistInnen erbrachte dieses Zusammentreffen von rund 200 Leuten sicher keine schnellen sensationellen Ergebnisse. Aber es verdichteten sich Kontakte zwischen gewerkschaftlicher und antirassistischer Linken, und vertieft wurden doch einige zentrale Fragestellungen wie z.B. über neue Formen von Organisierung angesichts fragmentierter und ethnisch gespaltener Beschäftigungsverhältnisse.

Am 1. Mai diesen Jahres fand in Hamburg und damit erstmals in Deutschland der sog. Euromayday statt. In 18 Städten in 13 europäischen Ländern gab es zeitgleich Paraden und Aktionen zur Thematisierung prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Mit bis zu 4 000 TeilnehmerInnen sorgte schon die Größe der Demo in Hamburg für eine positive Überraschung. Doch es war vor allem die gelungene Zusammensetzung, die den Erfolg dieser Mobilisierung ausmachte: selbstorganisierte Flüchtlinge an der Spitze des Zuges und migrationspolitische Forderungen überall präsent, Hunderte von StudentInnen in gelben »Summer of resistance«- T-Shirts und mehrere stimmungsvolle Samba-Bands, Erwerbsloseninitiativen und sich spontan anschließende Menschen auf der Reeperbahn.

In der letzten Ausgabe des express war bereits die Stellungnahme des Frassanito-Netzwerks zum Euromayday-Prozess dokumentiert: dass Auseinandersetzungen rund um »Mobility and Multiplicity« zentral für den weiteren Prekarisierungsdiskurs sind, und dass über solche Events wie Euromayday hinaus vor allem die Frage und der Austausch über alltägliche lokale Praxen gestellt werden muss.

Es zeugt entweder von einer guten Portion Arroganz oder schlichter Ignoranz, wenn in Dirk Hauers Kritiktext all diese Ansätze, die sich ja zudem in zahlreichen Veranstaltungen sowie Zeitungen und Artikeln der vergangenen Monate widergespiegelt haben, keinerlei Erwähnung finden. »Der neue Prekarisierungsdiskurs der letzten ein, zwei Jahre reproduziert viele Momente einer sozial entpolitisierten Linken, einer Linken, die inzwischen oft genug regelrecht sprachlos ist, wenn sie sich mit anderen sozialen und kulturellen Milieus konfrontieren muss oder will.« Völlig pauschalisiert wird diese Kritik vor allem mit dem Vorwurf eines »identitären Selbstverständnisses« gekoppelt und zu Beginn des Textes daran festgemacht, dass der Prekarisierungsdiskurs die beiden bedeutendsten sozialen Kämpfe der letzten Zeit ignoriert hätte: die Montagsdemonstrationen und die Kämpfe der AutomobilarbeiterInnen. Nun, ich stimme zunächst zu, dass diese Kämpfe besondere Bedeutung haben, ich würde sie allerdings in und mit ihren Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen nicht zur emanzipativen Speerspitze verklären.

Damit gehöre ich weder zu denen, die die Montagsdemos als nationalistisch-protektionistische Versammlungen abtun noch die Opelstreiks auf einen marginalisierten Abwehrkampf reduzieren. Beide Kampfzyklen folg(t)en berechtigten partikularen Interessen, was gleichzeitig aber auch ihre Grenzen markiert, die es wiederum zu überwinden gilt. Insofern greife ich die Kritik von Dirk Hauer auf, erweitere sie allerdings in beide Richtungen: dass nämlich die mangelnde Verbindung und Bezugnahme unterschiedlicher Kämpfe ein übergreifendes Problem ist, das genau auf die erwähnte »Multiplicity« anspricht, auf die Unterschiedlichkeit der Ausgangsbedingungen und subjektiven Interessen. Und der Begriff des »Prekariats«, der im Rahmen des Euromayday vor allem in Italien und Spanien Verwendung findet, war vor diesem Hintergrund nicht nur im Prekarisierungsdiskurs in Deutschland schnell in Kritik geraten: eben weil damit ein komplexer Prozess in eine vereinfachte Identität zu zwingen versucht würde.

Auf solche Auseinandersetzungen geht Dirk Hauer aber gar nicht erst ein, würde doch damit die völlig verallgemeinerte Kritik schnell fragwürdig. Und diese Pauschalisierungen korrespondieren offensichtlich nicht zufällig mit einem zentralen blinden Fleck in seinem Rundumschlag. Die Worte Mobilität und Migration tauchen in seinem Text nicht einmal auf! Doch wer angesichts so genannter Osterweiterung und zugespitztem Ausbeutungsgefälle bis nach China, wer angesichts eines globalisierten Apartheidsystems den Prekarisierungsdiskurs ohne offensiven Bezug zu Mobilität und Migration diskutieren will, kann gleich einpacken. Hätte Dirk Hauer allerdings diese zentralen Fragen in seine Bilanz einbezogen, hätte er zumindest auf die eingangs erwähnten Ansätze eingehen müssen, und dann wäre eine pauschale Abkanzelung der Prekarisierungsdebatten als »identitär und entpolitisiert « kaum möglich gewesen.

Doch versuchen wir den Blick nach vorne. Das Aktionsbündnis soziale Bewegung, in dem auch die ostdeutschen Montagsdemo- Initiativen vertreten sind, mobilisiert schon für den 5. September zu einem bundesweiten Hartzschluss-Aktionstag. Im Aufruf dazu werden auch migrationspolitische Forderungen aufgegriffen, sogar der Slogan »kein mensch ist illegal« wurde übernommen. Dies ist u.a. Ausdruck eines Zusammentreffens auf dem Sozialforum in Erfurt und ließe sich in gegenseitigen Bemühungen sicherlich weiter ausbauen. Mittelfristiger gibt es zur Zeit erste Überlegungen, im kommenden Jahr eine Folgekonferenz von »Die Kosten rebellieren« mit einem neuen Euromayday in Hamburg zu verknüpfen. Damit verbunden wäre die Absicht, den Prekarisierungsdiskurs in inhaltlicher wie personeller Erweiterung voranzubringen, im hoffentlich produktiven Streit auch um oben genannte Fragen; aber vor allem mit dem Ziel, unterschiedliche Widerstandsansätze und Suchprozesse zueinander zu vermitteln und verstärkt in gemeinsamen alltäglichen sozialen Kämpfen weiterzuentwickeln.

Hagen Kopp, kein mensch ist illegal/Hanau

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8/05


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