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Updated: 18.12.2012 15:51
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Zum Leben zu wenig

Die politische Strategie von Kombi- und Mindestlohn

Die von Wirtschaft und Politik forcierte Lohnsenkung in Deutschland glückt. Das zeigen nicht nur steigende Unternehmensgewinne, sondern auch der Fakt, dass der Lohn seine zweite Funktion zunehmend weniger erfüllt: den Erhalt der Ware Arbeitskraft. Der Lohn reicht immer öfter nicht zum Leben. Dieses Problem hat die Regierung erkannt. Da sie starke Lohnsteigerungen nicht will, hat sie zwei andere Ideen: Mit Mindest- und Kombilöhnen könnte ein Überleben in der Armut ermöglicht werden.

Ein Niedriglohnsektor ist in Deutschland längst Realität. Bereits im Jahr 2004 arbeiteten laut Institut für Arbeit und Technik (IAT) fast sieben Millionen Menschen für weniger als zwei Drittel des Medianlohns [1], davon drei Millionen Vollzeitbeschäftigte. Zu Armutslöhnen von unter 7,50 Euro die Stunde arbeiteten 4,1 Millionen Menschen voll- und über 800.000 teilzeit. Eine Angestellte in der Bekleidungsindustrie Niedersachsen verdient heute beispielsweise 5,93 Euro die Stunde und ein Wachmann in Thüringen passt für 4,75 Euro die Stunde darauf auf, dass sich die Armen nicht am Privateigentum anderer vergreifen. All das ist tarifvertraglich geregelt: "Alle Gewerkschaften haben Verträge abgeschlossen, die sie nicht gerne vorzeigen", gibt Verdi-Sprecher Günter Isemeyer zu.

Bemerkenswert ist die Form der Legitimation: Es brauche den Niedriglohnsektor, da viele Menschen "gering qualifiziert" und damit "wenig produktiv" seien. Gemäß der herrschenden Wirtschaftslehre erhalten ArbeitnehmerInnen nämlich einen Lohn, der ihrer Produktivität entspricht. Menschen mit "geringer Produktivität" sollte daher ein Billiglohnbereich eingerichtet werden, in dem sie arbeiten können, anstatt Arbeitslosengeld II (ALG II) zu kassieren. Es mag zwar möglich sein, zwei BandarbeiterInnen hinsichtlich ihrer Stundenleistung zu vergleichen, aber gesamtwirtschaftlich sind solche Vergleiche nicht möglich. Die simple Wahrheit hinter der Entstehung des Niedriglohnsektors ist, dass angesichts der Millionen Arbeitslosen die Verhandlungsmacht der Lohnabhängigen sinkt. Das drückt auf den Lohn. "Es fehlt den Gewerkschaften inzwischen an Durchsetzungskraft", so Isemeyer.

Entsprechend breitet sich der Niedriglohnsektor in Deutschland aus: Gehörten laut IAT-Vizepräsident Gerhard Bosch 1999 beispielsweise 34,5 Prozent des Reinigungspersonals im Krankenhaus diesem Sektor an, betrug diese Quote vier Jahre später bereits 41 Prozent. In der Fleischindustrie vergrößerte sich der Niedriglohnsektor zwischen 1999 und 2003 von 32 auf 36 Prozent. Und bei den Zimmermädchen in Hotels hat er seit Jahren einen Anteil von 90 Prozent. Um von KellnerInnen, FriseurInnen und BotInnen erst gar nicht zu reden und auch nicht von dem Heer von GelegenheitsjobberInnen, Ein-Euro-Beschäftigten, "PraktikantInnen" oder anderen Prekären.

Ein Herz für die "Unproduktiven"

Dagegen regt sich seit einigen Monaten Protest - nicht jedoch von einer Arbeiterbewegung, sondern von der Politik. Die Regierung rechnet fest damit, dass immer mehr Menschen in den Armutslohn-Sektor gehen und dort auch bleiben werden. Sie hat deswegen eine Debatte um einen Mindestlohn angestoßen. Denn einerseits soll der Lohn niedrig sein, damit die Unternehmensgewinne steigen. Andererseits aber hält man es grundsätzlich für wünschenswert, wenn auch nicht für notwendig, dass der Lohn "existenzsichernd" ist.

Zudem will der Staat Kosten sparen. Denn wer als ArbeiterInnen lediglich 4,50 oder 5,80 Euro Stundenlohn bekommt, hat Anspruch auf ergänzende Sozialleistungen. Im Juni 2005 bekamen insgesamt 906.000 Erwerbstätige ihr Einkommen vom Staat aufgestockt. Sinkt das Lohnniveau weiter, wird der Bedarf an staatlicher Hilfe steigen. Ein gesetzlicher Mindestlohn kann verhindern, dass Vollzeitbeschäftigte auf die Grundsicherung angewiesen sind - so wirbt die Gewerkschaft nicht für existenzsichernde Löhne, sondern für staatliche Ersparnis.

Aber so einfach ist die Sache im Kapitalismus natürlich nicht. Denn ein Mindestlohn würde zwar das Überleben ermöglichen. Andererseits stellt sich die Frage, ob das System der Lohnarbeit sich das überhaupt leisten kann. "Das führt in die Sackgasse", meint zum Beispiel Martin Wansleben, Geschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Nicht nur die Industrie, auch der wirtschaftspolitische Sachverstand hat Bedenken: Im Falle eines Mindeststundenlohns von 7,50 Euro "müssten bei jedem zehnten Beschäftigten in Deutschland die Löhne angehoben werden", warnt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung. Das schade den Unternehmen, deren "Wettbewerbsfähigkeit geschwächt werden könnte". Und das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) erwartet, dass "viele Arbeitsplätze verschwinden werden. Warum sollte jemand eine Stelle schaffen, wenn sie ihn mehr kostet als vorher?", fragt Hilmar Schneider vom IZA. Es würde "mit Sicherheit viel mehr Arbeitsplätze geben, wenn keine Mindestlöhne existieren", sprich, wenn der Lohn zum Leben nicht mehr reichen muss. Hungerlöhne sind aus dieser Sicht das Beste, was den Menschen passieren kann.

Mindestlohn als untere Schranke

Ein bundesweiter Mindestlohn ist daher derzeit nicht in der Diskussion, sondern vor allem die Ausweitung des Entsendegesetzes, das bereits in der Bauwirtschaft und in der Seeschifffahrt gilt. Erst kürzlich wurde die Ausweitung des Gesetzes auf das Gebäudereiniger-Handwerk beschlossen. Damit gilt der deutsche Tariflohn auch für Firmen mit Sitz im Ausland, die ArbeitnehmerInnen nach Deutschland entsenden. Das soll nicht etwa Putzfrauen vor der Armut, sondern deutsche Unternehmen vor ausländischer "Billigkonkurrenz" schützen.

Das Entsendegesetz hat daher Charme für Politik und Unternehmen. Es fixiert keinen allgemein gültigen Mindestlohn, es gilt nur für eine Branche - und es ist flexibel. Denn es setzt voraus, dass in einer Branche ein allgemein gültiger Tarifvertrag existiert, dessen unterster Lohn dann als Mindestlohn in der Branche gilt. Die Gewerkschaft hätte zwar gern für jede Branche einen solchen Tarifvertrag, doch kann sie sich immer seltener durchsetzen. Unternehmen mauern, denn sie lieben tariflose Zustände, in denen sie den Lohn drücken können, wie sie wollen. Das Entsendegesetz ist also ein Angebot an die Unternehmen: Es liegt in ihrer Entscheidungsmacht, einen Branchentarifvertrag mit der Gewerkschaft abzuschließen und dann einen Branchen-Mindestlohn einzuführen oder nicht - je nachdem, ob sie sich vor ausländischer Konkurrenz schützen oder lieber weiter ihre Hungerlöhne zahlen wollen. Hier sind sich das Kapital durchaus uneinig: Während Handwerk oder Fleischwirtschaft "Interesse an Mindestlöhnen haben, um sich vor Konkurrenz aus Osteuropa zu schützen" ( Süddeutsche Zeitung , 24.8.06), lehnt "der Arbeitgeberverband Mittelständischer Personaldienstleister diese entschieden ab" ( Reuters , 23.8.06).

Wie günstig so ein Mindestlohn für Unternehmen sein kann, zeigt auch der jüngst vereinbarte Mindestlohntarifvertrag für ZeitarbeiterInnen: Er wird es möglich machen, neu Eingestellte nach der Entgeltgruppe M zu bezahlen, die den Mindestlohn widerspiegelt: schlappe 7 Euro die Stunde. Sorgt die Einführung eines Mindestlohns dafür, dass der Tariflohn in Richtung Mindestlohn sinkt, gefällt er natürlich auch dem Kapital. Die ArbeitnehmerInnen hingegen haben kaum Grund zum Feiern: Zum Mindestsatz für die GebäudereinigerInnen von 7,87 Euro (6,36 Euro Ost) sagt IAT-Vizechef Bosch resignierend: "Davon kann man nicht leben, wenn man Kinder hat." So werden laut Bosch gering verdienende Familien weiterhin auf Zuschüsse des Staates angewiesen sein: "Praktisch ist das schon jetzt ein Kombilohn."

Kombilohn - Staat übernimmt Lohnkosten

Der Kombilohn ist der zweite Antwort des Staates auf das Problem, dass Unternehmen Löhne zahlen, von denen ArbeitnehmerInnen nicht leben können. Beim Kombilohn wird die Politik jedoch radikaler: Sie will die Unternehmen gar nicht mehr dazu verpflichten, existenzsichernde Löhne zu zahlen. Stattdessen beteiligt sich der Staat an dieser Aufgabe. Er nimmt den Unternehmen einen Teil des Lohns ab und bereitet dem Kapital ein Sonderangebot für Arbeitskraft.

Beim Kombilohn werden Arbeitsentgelte durch Zuschüsse aufgestockt. Das spart dem Unternehmen Lohnkosten. Derzeit kursieren viele Konzepte. Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) zum Beispiel wirbt für seine Initiative "50plus": Hier bezahlt der Staat EmpfängerInnen von ALG I, die älter als 50 Jahre sind, die Hälfte des letzten Nettoeinkommens. Der Betrieb zahlt die andere Hälfte. Bei älteren ALG-II-EmpfängerInnen übernimmt der Staat 20 bis 40 Prozent des Lohnes. Ähnlich sieht das Modell der CDU aus. All das soll Firmen dazu bewegen, auch Ältere einzustellen und Ältere dazu bewegen, auch schlecht bezahlte Stellen anzunehmen.

Mit dem Kombilohn wird ein neuer Normalfall eingeführt: almosenabhängige LohnarbeiterInnen. Entgelte, die eingestandenermaßen zum Überleben nicht reichen, werden zu einer hinreichenden Erwerbsquelle aufgerüstet. Das ist Lohndumping im Sinne des Wortes. Und ist beabsichtigt. Denn den Unternehmen soll nicht mehr zugemutet werden, existenzsichernde Löhne zu zahlen. Davon werden sie staatlich freigesprochen. Ein kompletter Lebensunterhalt für die ArbeitnehmerInnen der Nation ist Luxus für das Kapital.

Das Arbeitgeberlager findet die Kombilohn-Ideen nicht schlecht, bevorzugt aber die Senkung der Lohnnebenkosten. Der Staat solle sein Geld für Besseres ausgeben als für die Lohnsubventionierung. Die Gewerkschaft ihrerseits lehnt einen flächendeckenden Kombilohn ab. Mit gutem Grund: Sie fürchtet, dass er das gesamte Lohnniveau drücken wird. Und das über zwei Wege: Einmal treten auf dem Arbeitsmarkt Arbeitslose gegen subventionierte Kombilöhner an, die das Unternehmen nur die Hälfte des regulären Gehalts kosten. Das schafft Verzichtsbereitschaft bei den Job-AnwärterInnen. "Das Lohnniveau kann unter Druck geraten, wenn Arbeitgeber wie Arbeitnehmer darauf vertrauen können, dass der Staat die Lücke zwischen Arbeitslohn und lebensnotwendigem Einkommen schließt", so das IAT.

Zum zweiten werden reguläre Stellen durch Kombilöhner ersetzt, weil sie billiger sind - der berühmte "Drehtüreffekt". "Letztlich gibt es keinen Weg, diesen Drehtüreffekt zu vermeiden", so Claus Schäfer vom WSI-Institut. Bemerkenswert sind diese Befürchtungen vor dem Hintergrund, dass es bereits massenhaft Kombilöhne gibt: Auch bei Mini- und Midi-Jobs, Ein-Euro-Jobs, Einstiegsgeld, Entgeltsicherung oder anderen Zuschüssen nimmt der Staat den Unternehmen Lohnkosten ab. Die lohnsenkende Wirkung dieser Maßnahmen ist belegt.

Während die Regierenden per Hartz IV klarstellen, dass in Deutschland nur der überleben darf, der auch arbeitsbereit ist, so machen sie bei Kombi- und Mindestlohn deutlich: mehr als das pure Überleben ist für immer mehr Arbeitende auch nicht drin. Anhand von Kombi- und Mindestlohn wird auch die Bedeutung von ALG II deutlich: Es ist ein schlagkräftiges Instrument zur Senkung des gesamten Lohnniveaus. Denn es fungiert erstens implizit als Mindestlohn, weswegen ÖkonomInnen und ArbeitgeberInnen fordern, ALG II zu kürzen, um schlecht bezahlte Jobs noch "attraktiver" zu machen.

Sonderangebot Arbeitskraft vom Staat

Zweitens ist das ALG II über Zuverdienst-Möglichkeiten und Ein-Euro-Jobs ein flächendeckendes Kombilohn-Modell. So ist es heute möglich, dass "ein alleinstehender Minijobber ohne Kind, der 15 Stunden arbeitet und überdies die Grundsicherung erhält, zurzeit nur rund 100 Euro weniger bekommt als jemand, der für 7,50 Euro pro Stunde Vollzeit arbeitet", rügt das IAB. Alleinerziehende mit einem Kind stellten sich mit einem Minijob plus ALG II sogar deutlich besser als mit einem Vollzeit-Armutslohn-Job. Daraus folgert Herbert Brücker vom IAB messerscharf: "Wenn die Politik mit Kombilöhnen ähnliche Erfolge erzielen will wie in den USA, dann müsste sie entweder das Arbeitslosengeld II halbieren oder zeitlich stark befristen." Beides sei aber mit den "Prinzipien unseres Sozialstaates nicht vereinbar". Man wird sehen. Eine "Generalüberholung von Hartz IV", so Schleswig-Holsteins Arbeitsminister Uwe Döring (SPD), ist bereits in Arbeit.

Stefan Kaufmann

Erschienen in ak - zeitung für linke debatte und praxis / Nr. 509 / 15.9.2006

Anmerkung:

(1) Der Medianlohn ist ein "Durchschnittslohn", der "statistische Ausreißer" ausfiltert.


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