letzte Änderung am 18. März 2004 | |
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Eine große Koalition aus CDU/CSU, FDP, Grünen und SPD hat beschlossen, den 1.1.2005 zum großen Verfallstag sozialer Leistungen zu machen. An die Stelle von Arbeitslosenhilfe (Alhi) und der alten Sozialhilfe treten Arbeitslosengeld II und die neue Sozialhilfe (SGB XII). Diesen gemeinsam ist die Deckelung der Leistungen gegen individuelle Hilfebedarfe. Wichtiges Ziel der ganzen Aktion ist, den Bund von Kosten für die Massenarbeitslosigkeit zu befreien. Erwerbslose und politische Handlungsspielräume in Kommunen mit hoher Erwerbslosigkeit sind die absehbaren Opfer dieser Hauptstadtpolitik.
Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe [1] entfällt eine Leistung, die seit Anfang der 90er Jahre bei ständig wachsender Massenarbeitslosigkeit eine immer grössere Bedeutung erlangte [2]. So wuchs die Zahl der Personen mit Alhi-Bezug von durchschnittlich 759.187 (im Jahr 1993) auf zuletzt 2.034.062 (im Jahr 2003; vgl. Tabelle 1).
Wachsende
Bedeutung der Arbeitslosenhilfe bis 2003
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Zugleich stieg der Anteil der Alhi-Beziehenden an den Leistungbeziehern des Arbeitsamtes von 28,7 auf knapp 50 Prozent. Mit dem Anwachsen der überwiegend aus Steuermitteln des Bundes finanzierten Alhi wuchs ganz praktisch die vom Bund getragene Last der Massenarbeitslosigkeit. Dieser sucht sich der Bund mehr und mehr zu entziehen:
Die Abschaffung der Alhi zum 1.1.2005 bürdet nun den Kommunen gewaltige Kosten auf. Allein in der Ruhrgebietsstadt Herne werden die Mehrausgaben zwischen “6,5 und 10,5 Millionen Euro jährlich betragen”. Auch in Oldenburg (Oldbg.) rechnet die Stadtverwaltung für 2005 mit 1,5 Mill. Euro Mehrausgaben [3]. Dies bewirkt das Ergebnis des Vermittlungsverfahrens zwischen Bundestag und -rat vom Dezember 2003, die Teilträgerschaft der Kommunen für das Alg II.
Entgegen der Regierungspropaganda, wonach die “Zusammenlegung von Alhi und Sozialhilfe” Kommunen entlasten soll, werden die Kommunen nun Träger und Finanzier eines erheblichen Teils der Leistungen der “Grundsicherung für Arbeitssuchende”. Den Rest trägt die Bundesagentur, finanziert aus Steuern des Bundes und der Arbeitslosenversicherung (“Aussteuerungsbetrag”, vgl. quer 5/03, S. 4).
Die Bundesagentur trägt
Die Kommune trägt Kosten für
Die Kommune kann Kosten tragen für weitere Leistungen zur Eingliederung in das Erwerbsleben wie
Werden Einkommen oder Vermögen der “Hilfebedürftigen” (das sind alle im Haushalt lebenden Personen, auch die/ der ggf. 40 Std. Arbeitende; § 9) auf die Leistungen der Grundsicherung angerechnet, mindert das zuerst die Geldleistungen der Agentur für Arbeit (§ 19,2). Auch Kindergeld zählt zum Einkommen. Diese Entlastung nutzt dem Bund. Nur wenn die Anrechnung über den dem Bund zuzurechnenden Teil hinausgeht, wird die Kommune entlastet.
Den Lebensunterhalt zahlt der Bund, Unterkunft usw. die Kommune. Eine Prognose des Wirtschafts- und Arbeitsministerium (BMWA) erwartet - bei ohne Reform unterstellten 1,9 Mio. Alhi-Beziehende für 2005 - 3,08 Mio. erwerbsfähige Arbeitssuchende in 2,05 Mio. Alg II-Haushalten [4]. Während die Kommunen von den Regelsatzleistungen der bisherigen erwerbsfähigen Sozialhilfebeziehenden entlastet werden, müssen sie die Unterkunftskosten der ehemaligen Alhi-Beziehenden sowie deren Haushaltsangehörigen tragen. Die Belastung der jeweiligen Kommune durch Alg II ist am größsten, wenn wenige ‘ihrer’ Sozialhilfebeziehenden ins Alg II wechseln (diese bekommen die Regelleistung fortan vom Bund) und sie vielen ehemaligen Alhi-Beziehenden die Unterkunft zahlen muss. Diese Konstruktion trifft v.a. die neuen Bundesländer [5], munter mitbeschlossen von deren Bundestagsabgeordneten und Regierungen.
Die Agenturen für Arbeit können die Kosten für die Regelleistung des Alg II durch provozierte Sperrzeiten (“Verfolgungsbetreuung”) senken. Den Kommunen bleibt, die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung zu drosseln. Aus Sachsen wurde der quer von der Forderung von Kommunen berichtet, für das Alg II eine Unterkunftspauschale von 50 Euro festzusetzen. Absehbar sind Mietschulden, Obdachlosigkeit, Billigst- und Elendsquartiere, Armenvertreibung …
Politische Alternative wäre, sich dieser Politik der gesellschaftlichen Individualisierung und Dezentralisierung von Folgen und Kosten der Massenarbeitslosigkeit entgegenzustellen. Sonst bleibt nur, die ‘A…karte’ nach unten weiterzugeben.
Die Kommune kann sich entscheiden (bei Zustimmungspflicht der obersten Landesbehörden), die Grundsicherung für Arbeitssuchende ganz zu tragen (§ 6a). Näheres, z.B. zu den Pauschalen für Bedarfsgemeinschaften, die aktivierenden Leistungen, die Verwaltungskosten, Kooperationsmöglichkeiten zwischen Kommune und Agentur, was zu tun ist, wenn auf dem Gebiet einer Gebietskörperschaft (z.B. Landkreis) bisher zwei Arbeitsämter zuständig waren, sollen bis April 2004 in einem eigenem Bundesgesetz geregelt werden (Infos dazu siehe unter der zu Fußnote 4 genannten Netzadresse).
In der Debatte um diese ‘Option’ sind einige Anhaltspunkte zu finden, wie “Aktivierung” von Alg II-Beziehenden aussehen soll. Unterschieden wird nach der Aktivierungsquote, d.h. wie viel Prozent bestimmter Personengruppen betroffen sein sollen, und dem durchschnittlichen Aufwand je Maßnahmeteilnehmer [4]. Auffällig u.a., dass die Aktivierungsquote bei den Alg II-Beziehenden zwischen 15 und 24 Jahren nur 52 % betragen sollen. Denn gesetzlich vorgesehen ist, diese Arbeitslosen “unverzüglich nach Antragstellung auf Leistungen … in eine Arbeit, eine Ausbildung oder eine Arbeitsgelegenheit zu vermitteln” (§ 3,2). Wird erwartet, dass für 48 % dieser Arbeitslosen bei Meldung zum Alg II im JobCenter sofort eine Arbeit auf dem freien Markt gefunden wird? Oder kalkuliert das BMWA bereits ein, dass Maßnahmen für diese Arbeitslosengruppe nur schikanös genug gestaltet werden müssen, um einen erhebliche ‘Schwund’ erreichen zu können - zurück zu Eltern, in Schwarz- oder Gelegenheitsjobs …? Die durchschnittlichen Maßnahmekosten je Teilnehmer sagt bei näherer Betrachtung viel über die spärliche Qualität der ins Auge gefaßten Aktivierungsmaßnahmen aus (vgl. Tabelle).
Aktivierung von Alg II-Beziehenden
(Angaben des BMWA lt. Fußnote x3) |
Selbst das in Gesetz gegossene Alg II weckt nicht alle eher ‘Regierungsnahen’ aus ihren Träumen. So schrieb bspsw. die IG Metall-Zeitschrift DIREKT im Januar, nach Bezug von Alhi gäbe es zum Alg II für zwei Jahre einen Zuschlag, der bis zu zwei Drittel der Einbuße (Differenz) ausgleiche. Dabei sagt das Gesetz in aller Deutlichkeit, dass der befristete Zuschlag nur innerhalb eines Zeitraumes von zwei Jahren nach Ende des Arbeitslosengeldbezuges gezahlt wird, bei einer Obergrenze von 160 EUR im ersten und 80 EUR im zweiten Jahr (§ 24,1). Diesen Zuschlag erhält zudem nur, wer weniger Alg II/Sozialgeld bekommt als vormalig Alg zuzüglich Wohngeld (= Differenzbetrag). Berechnung:
Alg + erhaltenes Wohngeld
- Alg II + Sozialgeld
= Differenzbetrag
Ergebnis: Hat ein Haushalt (2 Erwachsene + 2 Kinder) von einem Erwerbseinkommen (zzgl. Kinder- + Wohngeld) gelebt und verliert der Erwerbstätige seine Arbeit, wird es beim späteren Wechsel ins Alg II den Zuschlag nicht geben, da der Alg II/Sozialgeldbetrag für 4 Personen einschließlich Unterkunft das Alg zzgl. Wohngeld i.d.R. übersteigen wird.
Was es heißt wenn Regierungsparteien schreiben, sie hätten sich
“zum Ziel gesetzt, alle Anstrengungen zu unternehmen, um Armut von Kindern
zu vermindern”, ist am Hartz-4-Gesetz abzulesen. Denn den neuen Kinderzuschlag
(KiZu) erhalten nur die Haushalte mit minderjährigen Kindern, deren Einkommen
reicht, den Alg II-Bedarf der Erwachsenen zu decken. Der KiZu wird unabhängig
von der Zahl der Kinder längstens für drei Jahre gezahlt in Höhe
von 140 EUR je Kind. Je 10 EUR, die das Elterneinkommen ihren eigenen Alg II-Bedarf
übersteigt, sinkt der KiZu um 7 EUR. Das BMWA schätzt, dass 63.000
Bedarfsgemeinschaften durch den KiZu aus dem Alg II-Bezug fallen.
JOHANNES STEFFEN weist darauf hin, dass der KiZu dazu führen kann, dass
Eltern den o.g. (höheren!) befristeten Zuschlag in Folge des KiZu nicht
bekommen. Denn ohne Alg II gibt’s keinen befristeten Zuschlag [6].
Hieß es bis Oktober 2003 noch, vom Einkommen sollte Erwerbslosen beim Alg II ein Sockel von 20 % der Regelleistung (ca. 68 EUR) bleiben, von jedem Euro mehr 15 Cent, haben die Berliner Parteien solchem ‘Großmut’ nun ein Ende gemacht. Beim Alg II bleiben Erwerbstätigen vom bereinigten Nettoeinkommen (nach Abzug von Steuern, Beiträgen, Werbungskosten) bei einem Bruttolohn von
Das Ergebnis dieser Krönung von Verwaltungvereinfachung und Bürgerfreundlichkeit will ich versuchen in drei Beispielen aufzeigen:
An dieser Freibetragsregel des SGB II sind dessen Grundprinzipien gut abzulesen:
Und wo es absehbar mangels (lohnender allemal) Jobs kaum legale Auswege aus der Hilfebedürftigkeit gibt, haben workfare-Modelle (Arbeit gegen Sozialhilfe) Hochkonjunktur. Die Idee Zivildienstleistende durch Arbeitslose zu ersetzen, erläuterte Hermann Scherl, Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg, nach Studium der neuen Pflichten der Alg II-Erwerbslosen [7]. Er plädiert nach entgegen anderer Varianten zur Beschäftigung der Erwerbslosen (ABM, Midi-Jobs) für die workfare-Lösung, da diese
Das Ziel des SGB II ist die Verhinderung der Inanspruchnahme von Leistungen trotz Hilfebedarf. Noch bestehende Arbeitsmarktregularien sollen über den Druck auf Erwerbslose bzw. deren materielle Not gekippt werden. Dagegen hilft - so traurig das ist - auch keine Tarifautonomie. Vielmehr muß die Durchsetzung gesellschaftliche Standards zu Einkommen und Arbeitsbedingungen sichern, dass Tarife nicht immer weiter in den Keller gedrückt werden. Aufstehen für gesetzlichen Mindestlohn in ausreichender Höhe, gegen die Deregulierung aller Lebens- und Arbeitsverhältnisse steht auf unserer Tagesordnung.
Fußnoten:
[1] Die in diesem Artikel beschriebenen Regelungen gelten ab dem 1.1.2005. Angegebene Paragrafen betreffen das SGB II, die GRUNDSICHERUNG FÜR ARBEITSSUCHENDE, in dem das Alg II geregelt ist. Änderungen des SGB II sind noch vor dem 1.1.2005 zu erwarten, z.B. im Rahmen der Verabschiedung eines Gesetzes zur “Option” alleiniger Trägerschaft des Alg II durch Kommunen. Eine 7-seitige Übersicht der SGB II-Detailregelungen von J. STEFFEN steht im Netz unter: www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/. Zur Darstellung des Alg II s.a. quer, Okt. 03, S. 5-7; zur Gegenwehr quer, Dez. 03, S. 5 ff.
[2] Befördert wurde diese Entwicklung mit Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 17.11.1992 - 1 BvL 8/87 -, das den verfassungswidrig niedrigen Einkommensfreibeträgen der Alhi für Ehepartner und Kinder des Erwerbslosen ein Ende machte und den Zugang zur Alhi für Erwerbslose in ehe(ähn)lichen Partnerschaften wesentlich erleichterte (vgl. INFO ALSO, Heft 4, 1992, S. 173ff.; hinzu kam ein vom Gesetzgeber bestimmter pauschaler Erwerbstätigenfreibetrag in Höhe von zuletzt ca. 150 Euro.
[3] So wurde nach einer Sitzung von SPD-regierten Ruhrgebietsstädten
am 07.02. 2004 vermeldet:
“Die SPD-Fraktionsvorsitzenden des Ruhrgebiets haben in ihrem Treffen
am 30. Januar 2004 in Oberhausen ausführlich die finanziellen Auswirkungen
der gesetzlichen Maßnahmen im Rahmen von Hartz IV erörtert. Hierbei
wurde deutlich, dass statt der angestrebten finanziellen Entlastung der Kommunen
tatsächlich eine Mehrbelastung zu erwarten ist.
»Für die Stadt Herne wird die Mehrbelastung zwischen 6,5 und 10,5
Millionen Euro jährlich betragen«, schildert Horst Schiereck, Sprecher
der Runde, das Ergebnis konkreter Herner Berechnungen.”
(Quelle: Eintrag zu Hartz 4 von der SPD Fraktion in Witten durch Thomas Richter,
Fraktionsvorsitzender, auf der SPD-Witten Seite am 7.2.). Angabe zu Oldenburg
lt. Nord-West-Zeitung vom 16.2.04.
[4] Lt. Unterlage aus dem BMWA, 13.02.2004, IIC 1 -20033, S. 3; im Netz: www.arbeitnehmerkammer.de/sozialpolitik/seiten/3_gesetze_gesetzgebung.htm
[5] Daran dürfte auch nichts wesentliches ändern,
dass die neuen Bundesländer “zum Ausgleich von Sonderlasten durch
die strukturelle Arbeitslosigkeit und der daraus entstehenden überproportionalen
Lasten bei der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe für
Erwerbsfähige” für die Jahre 2005 bis 2009 jährlich folgende
“Sonderbedarfs-Bundesergänzungszuweisungen” erhalten:
Brandenburg: 190.000.000 Euro,
Meckl.-Vorp.: 128.000.000 Euro,
Sachsen: 319.000.000 Euro,
Sachsen-Anhalt: 187.000.000 Euro,
Thüringen: 176.000.000 Euro.
So der neue Absatz 3a des § 11 des Artikels 5 des “Gesetzes zur Fortführung
des Solidarpakts und zur Abwicklung des Fonds »Deutsche Einheit«
(Solidarpaktfortführungsgesetz - SFG)”, vgl. Artikel 30 des ‘Hartz
IV-Gesetzes’.
[6] J. STEFFEN, Arbeitslose mit Kind in der «Agenda-Falle», zu finden auf o.g. Internetseite.
[7] H. SCHERL, Workfare statt Zivildienst: Eine beschäftigungspolitische
Chance; www.sozialpolitik.wiso.uni-erlangen.de/
down/workfare.pdf
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