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Updated: 18.12.2012 15:51
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Wirtschaft des guten Lebens?

Armin Kammrad* zur Auseinandersetzung um die Höhe des Eckregelsatzes

Der folgende Text nimmt die Kontroverse zwischen Harald Rein [1] und Rainer Roth [2] um Alternativen zur derzeit herrschenden Definition des Existenzminimums in Form des ALG II und damit um deren Bemessungsgrundlagen und Höhe zum Anlass, um diese im Lichte des Verfassungsgerichtsurteils vom 9. Februar d.J. neu zu interpretieren.

Ob Harald Reins Position zur Regelsatzbestimmung nun tatsächlich die entscheidenden Ansätze für eine neue Sozialpolitik liefert, ist sicherlich einer Diskussion wert. So wird es wohl einfacher sein, eine »eigene (...) von uns selbst bestimmte und durchgeführte Untersuchung zur Bestimmung eines ausreichenden Einkommens« [3] zu initiieren, als diesen selbst bestimmten Warenkorb dann auch durchzusetzen. Auch ist die Vorstellung vom »guten Leben« nicht auf eine ausreichende physische Existenzsicherung reduzierbar – etwas, was jüngst das Bundesverfassungsgericht mit seiner Einschätzung, der bestehende Regelsatz sei nicht »evident unzureichend« [4], als gegeben ansah.

Wenn das Bundesverfassungsgericht trotz seiner sachfremden Behauptung zum physischen Existenzminimum gleichwohl definitiv feststellt, dass die »Vorschriften des SGB II, die die Regelleistungen für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistungen eines menschenwürdigen Existenzminimums (...) erfüllen«[5], lässt sich dies allerdings auch so interpretieren, dass nicht bereits die ausreichende physische Existenzsicherung dem grundgesetzlichen Anspruch auf ein soziokulturelles Existenzminimum genügt. Doch wie immer das Urteil interpretiert wird: Eine ausreichende gesunde Ernährung sollte in jedem Fall gewährleistet sein. Denn mit leerem Magen macht jede Art »Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben« [6] kaum Freude.

Trotzdem greift Rainer Roth etwas zu kurz, wenn er daraus den Schluss zieht: »Die Frage lautete nicht: ›Was möchte ich gerne essen‹, sondern: ›Welche Nahrungsmittel mit welchen Nährstoffen sind für den menschlichen Körper in welcher Menge notwendig?‹« Staatliche Gesundheitspolitik an Stelle der Garantie, selbst wählen zu dürfen, was der erwerbslose Mensch gerne essen würde? Daran schließt sich noch ein weiterer Kritikpunkt meinerseits an.

So betont Rainer Roth zwar einerseits, die Regelsätze müssten »als Bemessungsgrundlage ein nachvollziehbares Maß heute notwendiger Bedürfnisse haben«, und diese Grundlage dürften nicht Einkommen bilden, »die letztlich auf der Basis von niedrigen Löhnen zustande kommen« [7] . Anderseits stört es ihn jedoch, dass Harald Rein einem Existenzgeld näher kommen will und »nicht irgendeiner Begründung für ein Mindesteinkommen« [8] .

Doch wie lässt sich ein Mindesteinkommen überhaupt sinnvoll begründen? Offensichtlich nur so, dass Lohnarbeit die Existenz nicht (mehr) ausreichend sichert und der Staat deshalb diese Mindestsicherung gewährleisten soll. Dieser wirtschaftliche Aspekt stellt sich auch nicht grundsätzlich anders bei einem gesetzlichen Mindestlohn dar: Denn aus traditioneller gewerkschaftlicher Sicht ist die Mindestsicherung weder abhängig vom Gesetzgeber noch von einem wissenschaftlich ermittelten Grundbedarf, sondern ausschließlich von der Kampfkraft der abhängig Erwerbstätigen.

Natürlich hat Rainer Roth insofern Recht, dass die physische Existenz der von Lohnarbeit Abhängigen (ob mit oder ohne Lohnarbeit) gegenwärtig immer weniger gesichert ist. Die Frage ist nur, ob diese Auseinandersetzung erfolgreich geführt werden kann, ohne das dieser Entwicklung zugrunde liegende Prinzip der Lohnarbeit in Frage zu stellen. Denn bei jeder Art von Mindestsicherung streitet man sich mit dem Kapital nur um die Höhe jener Existenzsicherung, welche sich durch Lohnarbeit nicht mehr ausreichend sichern lässt, geschweige denn so etwas wie ein »gutes« Leben (mit ein paar »ungesunden« Bierchen zwischendurch) möglich macht.

Trotz aller Kritik am Urteil [9] gibt es zwischen Rainer Roth und dem Bundesverfassungsgericht eine Gemeinsamkeit: Die jeweiligen Ableitungen des Existenzminimums erfolgen nicht unter Berücksichtung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnisse. Was beim Bundesverfassungsgericht als »Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums« [10] erscheint, kommt bei Rainer Roth in Gestalt einer angeblichen Selbstverständlichkeit, nämlich sich ausreichend ernähren zu können, daher. Dass dies nicht so selbstverständlich ist, wie es scheint, zeigt immer deutlicher die gesellschaftliche Realität bei dem Teil der Bevölkerung, der von Lohnarbeit existenziell abhängig ist. Es ist eben keine Selbstverständlichkeit, dass Lohnarbeit die Existenz ausreichend sichert. Natürlich lässt sich eine Abschaffung der Lohnarbeit nicht von einem Wirtschaftssystem wie dem derzeit herrschenden einfordern, das maßgeblich auf Lohnarbeit aufbaut. Was sich allerdings ändern lässt, ist die Haltung zur Lohnarbeit.

Sei es mit juristischer, biologischer oder moralischer Begründung – der Kampf um ausreichende Existenzsicherung ist uralt. Das heißt jedoch nicht, dass Lohnarbeit mittelalterliche Hungersnot erfolgreich überwindet. Die Diskussion um Mindestsicherung zeigt vielmehr, dass dies nicht der Fall ist. Dabei ist unbestreitbar, dass die (staatliche) Einrichtung einer Mindestsicherung gegenüber dem Mittelalter einen Fortschritt darstellt – zumindest ideell bzw. »von Verfassungs wegen«.

Der wohl interessanteste Aspekt am Urteil des Bundesverfassungsgerichts besteht in diesem Zusammenhang nicht in der Konstruktion einer nicht verfassungsgemäß bestimmten Regelleistung, welche trotzdem nicht offensichtlich bzw. »evident« unzureichend sein soll, sondern im Umgang mit einer Politik, die mit einem möglichst niedrigen Regelsatz einen Niedriglohnsektor schaffen will. Denn den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, den das Gericht immer wieder bemüht, hat dieser ja zu einer Gestaltung genutzt, die ihm nach dem Grundgesetz gerade untersagt ist. Art. 1 und Art. 20 sind mit Art. 79 Abs. 3 nämlich jeder Änderung entzogen. Da hilft auch kein zeitlich knapp bemessener höchstrichterlicher Auftrag zur Neuregelung bis zum Jahresende. [11] Denn woher nimmt das Bundesverfassungsgericht seine Gewissheit, dass die herrschende Politik jemals einen verfassungsgemäßen Regelsatz festlegt?

Ich teile also vollständig die Ansicht von Rainer Roth: »Wir sollten uns nur auf uns selbst verlassen.« [12] Ein Blick auf das Urteil zeigt jedoch, dass die subjektiven Aspekte des Urteils gar nicht so wesentlich sind. Ob nun bewusst oder dem verfassungsrechtlichen Zwang folgend – der schriftlich fixierte Schutz der Menschenwürde und des Sozialstaates garantiert offensichtlich nicht, dass sich eine dagegen gerichtete Wirtschaftspolitik nicht durchsetzen kann (und das eigentliche »Grundgesetz« ist wohl eher das BGB). »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt«, verkündete Gerhard Schröder stolz am 28. Januar 2005 auf dem Weltwirtschaftforum in Davos. Auf Basis des Grundgesetzes ließ sich hier nichts verhindern.

Dieses Bestreben basiert auch nicht auf Grundrechten, sondern auf wirtschaftlichen Interessen. Es ist aber ein wirtschaftlicher Fakt, dass der Versuch nicht so recht funktioniert hat, mit niedrigen Löhnen und Zwangs-arbeit ein System zu stabilisieren, das ein Vordenker von Herrn Schröder, nämlich Ludwig von Mises, einmal so beschrieb: »Nur durch die Freiheiten des Eigentums sind auch andere Grundfreiheiten gewährt«. Denn das Eigentum benötigt auch Werterhalt. Alles, was gegenwärtig Bestandteil offizieller Wirtschaftspolitik ist (staatliche Übernahme privater Risiken, Umverteilung, steigende Erwerbslosigkeit usw.), dient dazu, Vermögen im Wert wenigsten zu erhalten. So stellte Jürgen Kromphardt bereits 2003 für Deutschland fest, »dass in den letzten Jahren die Verfehlung des Zieles hoher Beschäftigung immer gravierender geworden ist, während das Ziel der Preisstabilität immer besser erreicht wird«. [13] Eine Mindestsicherung wird nur deshalb heute so kontrovers diskutiert, weil auch niedrige Löhne weder Vermögenserhalt noch Wirtschaftsaufschwung gewährleisten. Vielmehr tritt eine Mindestsicherung immer mehr in den Mittelpunkt wirtschaftlicher Interessen, auch weil damit der Unterschied von Lohnarbeit und Erwerbslosigkeit zurücktritt. Der von Lohnarbeit abhängige Mensch erhält eben nur noch eine Mindestsicherung – als Regelsatz oder als (Kombi-)Lohn. Ist da das Interesse an ausreichender Existenzsicherung ohne den Zwang zur Lohnarbeit nicht nahe liegend? Auch lassen sich wirtschaftlich sog. »Sozialleistungen« als berechtigte Umverteilung interpretieren. Die Grenze für ein »gutes Leben« ohne Bedingung der Lohnarbeit besteht dann nur darin, wie viel Privatvermögen aktuell in der Gesellschaft existiert, das für eine Umverteilung zur Verfügung steht.

* Armin Kammrad ist Elektriker und lebt in Augsburg. Einen Großteil seiner Freizeit verbringt er mit praktischer Sozialarbeit.

Der Text ist ein Kooperationsauftrag von Labournet Germany und express-Redaktion. Er wird auch im Labournet erscheinen (www.labournet.de)

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/10


1) Harald Rein: »Das Ende der Bescheidenheit?«, in express, Nr. 9-10/2009 und Nr. 11/2009

2) Vgl. Rainer Roth: »Zur Ablehnung der Forderung nach 500 Euro Eckregelsatz durch Harald Rein«, in: www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/hilfe/rothadrein.pdf pdf-Datei – Es handelt sich hier um die Labournet-Fassung des Textes von Reiner Roth, Teil I, im express Nr. 1/2010 und Teil II in dieser Ausgabe. S. 8

3) Harald Rein, a.a.O.

4) Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09

5) Ebd.

6) Ebd.

7) Rainer Roth: »Zur Ablehnung der Forderung«, a.a.O.

8) Ebd.

9) Rainer Roth: »Ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu begrüßen? Nein!«, tacheles-sozialhilfe.de, 13. Februar 2010

10) Bundesverfassungsgericht Urteil, 1. Leitsatz, a.a.O.

11) Bundesverfassungsgericht Urteil, a.a.O.

12) Rainer Roth: »Ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu begrüßen? Nein!«, a.a.O.,

13) Jürgen Kromphardt: »Grundlagen der Makroökonomie«, 3. Auflage, München 2006


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