Home > Diskussion > (Lohn)Arbeit: Realpolitik > Hilfe > ALG II - Leistungen und Auswirkungen > rein1 | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Das Ende der Bescheidenheit? Anmerkungen zur Diskussion über den Regelsatz von Harald Rein*, Teil I In den nächsten zwei Ausgaben dokumentiert der express eine Analyse von Harald Rein über die Begründungszusammenhänge zur Höhe und zur notwendigen Erhöhung von Sozialtransfers, wie sie nun auch vom Bundesverfassungsgericht geprüft werden. In der express-Redaktion wird die Kritik an den Reformvorschlägen von Sozialverbänden, Initiativen zur Grundsicherung und zum ALG II nicht durchgängig geteilt. Diskussionsbedürftig erscheint uns vor allem die Interpretation des Autors, die Motivlagen der Organisationen, die die bekannten Reformvorschläge vertreten, seien latent opportunistisch. Trifft dies nicht ein Problem, mit dem sich alle derzeit vertretenen Vorschläge zur Reform der Grundsicherung befassen müssen? Nichtsdestotrotz skizziert Harald Rein unseres Erachtens sehr anschaulich, vor welchem defensiven Hintergrund manche linken Forderungen zur Regelsatzerhöhung und Mindestlohn entstanden sind und dass eine Auseinandersetzung um die Maßstäbe der Bedarfsdeckung gerade erst begonnen hat. »Wir kämpfen um das, was wir brauchen«, so hieß die Leitlinie des 2. Bundeskongresses der Arbeitsloseninitiativen 1988 in Düsseldorf. Was danach kam, war und ist ein zähes Ringen um die existenzielle Absicherung von Erwerbslosen und BezieherInnen von Sozialhilfe bzw. Grundsicherung. Diese regelt sich über das, was von den herrschenden Parteien als Existenzminimum angesehen wird (in Form gesetzlicher Regelungen sowie Durchführungsbestimmungen der Verwaltungen), aber auch über den tagtäglichen Kampf gegen Behördenwillkür in Form von Widersprüchen, Klagen, Erbitten von Zuschlägen und Sonderbedarfen bis hin zu Erfahrungen der Abweisung, Demütigung und daraus folgenden Aggressionen und Hausverboten. Wer Grundsicherung für Arbeitssuchende (Sozialgesetzbuch II), Sozialhilfe oder Grundsicherung im Alter und für Erwerbsgeminderte (Sozialgesetzbuch XII) bezieht, sieht sich mit Regelsätzen konfrontiert. Ausgehend von einem so genannten Eckregelsatz für Alleinstehende und Alleinerziehende (zurzeit 359 Euro im Monat) werden alle weiteren Regelsätze (Kinder, Ehepartner usw.) prozentual von diesem Regelsatz abgeleitet. Mit den 359 Euro im Monat sollen alle Ausgaben einer erwachsenen Person (Ernährung, Körperpflege, Mobilität, Bedarfe des täglichen Lebens, Teilnahme am kulturellen Leben etc.) abgedeckt werden. Ging das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) formalrechtlich noch von einer individuellen Bedarfsdeckung aus, so wurden fast alle individuellen Bedarfe mit Einführung des Sozialgesetzbuches (SGB) II pauschalisiert, mit der Konsequenz einer faktischen Leistungskürzung bei gleichzeitigem Wegfall der Einzelfallprüfung beim Eintreten von individuellen sozialen Notlagen. Sowohl die Ausgestaltung der Höhe der Regelsätze wie auch die praktische Durchführung des Leistungserwerbs verfolgt unter anderem das Ziel, den Bezug von Sozialleistungen möglichst unattraktiv werden zu lassen. Dies ist aus Sicht herrschaftlicher Interessen, Lohnarbeit (und damit das kapitalistische Prinzip der Ausbeutung) als Sinn des Lebens zu postulieren, bei gleichzeitiger Verfemung jeden Ansatzes müßiggängerischer Aktivität folgerichtig. Zumal auch deshalb, weil die Höhe des ALG II als eine Art Mindestlohn wirkt, so dass die Profiteure der »sozialen Marktwirtschaft«, aber auch die herrschende Meinung eisern am Lohnabstandsgebot festhalten. Es handelt sich somit beim Eckregelsatz um einen politischen Regelsatz, der auf Basis einer kritikwürdigen Einkommens- und Verbrauchsstichprobengrundlage und mit Hilfe interessengeleiteter statistischer Zugriffe ermittelt wurde. [1] Die Auseinandersetzung darüber, welche Forderungen alternativ zur gängigen Existenzsicherungspraxis aufzustellen sind, hat sich in den letzten Jahren wieder intensiviert, u.a. auch aufgrund der Entwicklung eines Arbeitsmarktes, der immer weniger in der Lage ist, existenzsichernde Arbeit anzubieten. Besonders innerhalb von Erwerbslosenorganisationen, sozialen Initiativen, Parteien, politischen Gruppierungen und unter WissenschaftlerInnen hat es verschiedene Vorschläge gegeben, den Zustand von Armut und Diskriminierung durch Behörden mit adäquaten Forderungen zu durchbrechen. Unter der Fragestellung, welche weiterführenden Regelsatzforderungen es gibt und wie diese begründet werden, werde ich versuchen, den Stand der derzeitigen Diskussion zur Veränderung der Regelsätze zusammenfassend vorzustellen. Die anschließenden kritischen Bemerkungen meinerseits werden zu einem eigenen Vorschlag führen, den ich gerne zur Debatte stellen möchte. Dieser alternative Ansatz wird im nächsten express beschrieben. Nach Durchsicht verschiedenster Positionsbestimmungen von unterschiedlichen Organisationen und Einzelpersonen zur Regelsatzkritik kann zusammenfassend von zwei (sich manchmal auch überschneidenden) Ansätzen gesprochen werden: Immanente Kritik an der Regelsatzlogik Der Großteil von Organisationen, Initiativen und WissenschaftlerInnen nimmt die geringe Höhe der Regelsätze und deren »wissenschaftliche« Begründung als Ausgangsbasis, um daraus den Nachweis einer notwendigen Erhöhung des Eckregelsatzes zu entwickeln (etwa fehlende Berücksichtigung altersgerechter Ausgaben bei Kindern, zu geringe Berücksichtigung von Mobilitätsausgaben, kein Einbezug von Preissteigerungen, Mangelernährung mit Hartz IV usw.). In diesem Zusammenhang sind zwei Positionen maßgebend, die von einem Großteil von Sozialorganisationen und Initiativen als richtungsweisend übernommen werden: die Forderung der Erhöhung des Eckregelsatzes auf 440 Euro durch den Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) sowie die Forderung der Erhöhung des Eckregelsatzes auf 500 Euro, entwickelt durch den früheren Fachhochschulprofessor Rainer Roth. 1. Die Position des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands In einer Expertise von 2006 [2] versucht der DPWV die Logik der staatlichen Regelsatzbestimmung nachzuvollziehen und kommt zu folgenden Ergebnissen: Mit Beginn von Hartz IV erfolgten offensichtliche Kürzungen bei einzelnen Ausgabepositionen, z.B. bei der Kinderbetreuung, dem Nachhilfeunterricht, den Kursgebühren. Zudem wurde der Bereich kulturelle Teilhabe vollkommen herausgenommen, und es gab Abschläge (im Vergleich zum früheren Regelsatz) bei den Sparten Gesundheit, der Nachrichtenübermittlung und der Mobilität. Außerdem fanden die Preissteigerungen für den Zeitraum 2003 bis 2006 (Stichtag der Expertise) keine Berücksichtigung (diese betrugen rund drei Prozent). »Unter uneingeschränkter Offenlegung seiner Berechnungsgrundlagen kommt der DPWV bei seinen Neuberechnungen zu dem Ergebnis [3], dass der Regelsatz – der Methodik des vom Gesetzgeber vorgesehenen Statistikmodells folgend – am 1. Juli 2006 um 20 Prozent von 342 auf 415 Euro angehoben werden müsste.« [4] Aufgrund der Fortschreibung der Regelsätze entlang der Entwicklung der Lebenshaltungskosten erhöhte sich die Forderung von 415 Euro (2006) auf 440 Euro (2009). Zu den Kinderregelsätzen gab es vom DPWV eine gesonderte Expertise [5]: Sie ging ebenfalls von der Berechnungsgrundlage der Bundesregierung aus, wertete aber die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) bedarfsspezifisch für Kinder aus. Hintergrund ist die Kritik an der prozentualen Ableitung der Kinderregelsätze vom Eckregelsatz, die der Bedarfsstruktur von Kinder und Jugendlichen nicht gerecht werde. Demnach müsste der Regelsatz für Kinder bis 6 Jahre 276 Euro betragen, für Kinder zwischen 6 und 14 Jahren 332 Euro und für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren 358 Euro. [6] Aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise und der damit vorhandenen Gefahr eines weiteren Anstiegs der Arbeitslosigkeit fordert der DPWV, nun auch die Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld I zu verlängern [7], allerdings ohne genaue Angabe der Verlängerung. Eine Reihe von Organisationen hat sich der Argumentation bzw. den Forderungen des DPWV angeschlossen: Der Sozialverband VdK initiierte 2008 die »VdK-Aktion gegen Armut«, in der er forderte, den Regelsatz für Erwachsene auf 420 Euro im Monat und die Regelsätze von Kinder bis 13 Jahre um 20 Prozent auf 250 Euro im Monat anzuheben. [8] Bündnis 90/DIE GRÜNEN forderten in ihrem Bundestagswahlprogramm 2009 eine Erhöhung des Eckregelsatzes auf 420 Euro im Monat. Für Kinder soll es eine nicht weiter definierte Kindergrundsicherung geben. Als Mindestlohn wird 7,50 Euro im Monat angegeben. [9] Bei ver.di ist eine Regelsatzerhöhung für Erwachsene auf 435 Euro im Monat und ein Mindestlohn von 7,50 Euro im Monat Beschlusslage. [10] Nach Auffassung des DGB kann das Einkommen des unteren Fünftels der Bevölkerung grundsätzlich weiterhin als Referenzmaßstab für die Bestimmung des Eckregelsatzes dienen. Die Analyse solle aber durch weitere Daten und Erhebungen ergänzt und der Regelsatz von unabhängigen Experten des Deutschen Bundestages festgesetzt werden. Der DGB fordert eine deutliche Anhebung des Regelsatzes und einen eigenständigen Kinderregelsatz (unter Berücksichtigung kinderspezifischer Bedarfe, insbesondere für Bildung und Gesundheit). Mittelfristig tritt er für eine Kindergrundsicherung ein: Da eine Erhöhung des Kindergeldes bis zur Höhe des Existenzminimums zur Zeit nicht zu realisieren sei, fordert der DGB als ersten Schritt Verbesserungen für Kinder von Geringverdienern durch eine Erhöhung des Kinderzuschlages und des Wohngeldes. [11] Ein Mindestlohn 7,50 Euro steht auch auf der Agenda. Die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS) tritt u.a. mit ihren Kampagnen »Reiches Land – Arme Kinder? Einkommen zum Auskommen!« sowie »Armut bekämpfen – Reichtum umverteilen« für eine bedarfsorientierte Mindestsicherung ein und fordert eine Regelsatzerhöhung auf 440 Euro sowie einen Mindestlohn von 7,50 Euro im Monat. [12] Für Kinder fordert die KOS, die statistisch erfassten Ausgaben von Haushalten mit mittlerem Einkommen für Ernährung, Gesundheit und Bildung zu 100 Prozent in die Hartz IV-Sätze zu übernehmen und die anderen Ausgaben wie etwa für Bekleidung und Freizeit zu 50 Prozent. Danach ergäben sich Sätze von
Um bestimmte »Ungereimtheiten« (der Mindestlohn unterschreitet zum Teil das erhöhte ALG II) aufzuheben, fordert die KOS zusätzlich einen verbesserten Kinderzuschlag, indem die Anspruchsvoraussetzungen deutlich herabgesetzt werden und der Höchstbetrag pro Kind von 140 auf 200 Euro wächst. Dies wäre zusammen mit dem Kindergeld ein Schritt in Richtung einer – abhängig vom Einkommen der Eltern konzipierten – Grundsicherung für Kinder. [14] Was das Arbeitslosengeld I angeht, so heißt es im Flugblatt zur Bundestagswahl: »Das Arbeitslosengeld I muss leichter zu bekommen sein und länger gezahlt werden.« Zusammenfassung: Auffallend bei diesen Positionen ist die Beibehaltung des vorgegebenen Bemessungssystems, die moderate Erhöhung des geforderten Eckregelsatzes sowie eine fehlende Auseinandersetzung mit den Prinzipien eines autoritären Sozialstaates, wie Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitszwang an dieser Stelle. Aber auch der Mindestlohn in der geschilderten Höhe führt nach wie vor zur Notwendigkeit einer ergänzenden Leistungsunterstützung. 2. Die Position von Rainer Roth, dem Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne, dem Bündnis Kinderarmut durch Hartz IV [15] und den Verfassern des »Leitfadens für Arbeitslosengeld II« [16] Roths Kritik setzt an der Forderung des DPWV nach einer Erhöhung des Regelsatzes auf 440 Euro an, deren Begründung zwar in die richtige Richtung weise, aber im Bereich der Ernährung dem Mangel Vorschub leiste. Nach seinen Berechnungen liegt der Tagessatz für einen Alleinstehenden Hartz-IV-Bezieher bei 3,94 Euro für Essen und Trinken. Dies reiche nicht für eine gesunde Ernährung, Mangelernährung sei das Resultat. Für eine ausreichende Ernährung veranschlagt Roth 6,38 Euro, womit der Eckregelsatz nicht 440 Euro betragen müsste, sondern 73 Euro mehr, also mindestens 500 Euro. [17] Die Notwendigkeit eines Eckregelsatzes von 500 Euro wird hier ausschließlich über einen Mangel an Ernährungsbestandteilen begründet. Im Rahmen der vorgegebenen Struktur der staatlichen Regelsatzbemessung bleiben auch die Überlegungen von Roth zu den Kinderregelsätzen. Dabei stellt er zwei Faktoren in den Vordergrund: die Willkürlichkeit der prozentualen Ableitung der Kinderegelsätze vom Eckregelsatz und den Versuch, über einen politischen Minimalkonsens ein möglichst breites Bündnis an Befürwortern für eine Erhöhung der materiellen Unterstützung für Kinder zu erreichen. Mit der Einführung von Hartz IV im Januar 2005 kürzten die maßgeblichen Parteien den Regelsatz von Schulkindern unter 14 Jahren auf das Niveau von Säuglingen. Ebenso verfuhren sie mit dem Regelsatz von Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren, dieser wurde um über elf Prozent auf das Niveau von erwachsenen Haushaltsangehörigen abgesenkt. Folgerichtig bedeuteten die Kürzungen, »dass die herrschenden Parteien ab dem Schulalter biologische Grundbedürfnisse von Kindern, d.h. ihren Wachstumsbedarf, nicht mehr anerkannten.« [18] Vor diesem Hintergrund fordern Roth und verschiedene andere Gruppen und Personen eine sofortige Anerkennung des Wachstumsbedarfs von Kindern ab dem Schulalter (wobei der Regelsatz 20 Prozent höher sein müsse als bei Säuglingen), die Wiedereinführung der Altersgruppe 7 bis 13 Jahre (253 Euro statt 211 Euro) und die Rücknahme der Regelsatzkürzung bei 14- bis 17-Jährigen (316 statt 281Euro, d.h. 90 statt 80 Prozent des Regelsatzes). [19] Tatsächlich nahm die große Koalition im Januar 2009, nach einem kritischen Urteil des Bundessozialgerichts, die Kürzung bei Schulkindern teilweise zurück und hob den Regelsatz von 6-Jährigen von 60 auf 70 Prozent des Eckregelsatzes an (das heißt auf 251 Euro). Weitere Forderungen Roths in diesem Zusammenhang betreffen das Arbeitslosengeld I und den Mindestlohn: So soll der Bezug von ALG I mindestens fünf Jahre lang zu 80 Prozent des Nettolohns gewährt werden und der gesetzliche Mindestlohn bei 10 Euro brutto liegen. [20] Zu bemerken sei hier, noch dass es Roth bei der Aufstellung von sozialen Forderungen »um die Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen vor allem der LohnarbeiterInnen« [21] geht. Und weiter: »Alle diese Forderungen sollten nur mit den Interessen der LohnarbeiterInnen begründet werden, deren Grundbedürfnisse eingefordert werden.« [22] Bezugsgröße sind grundsätzlich die Interessen der LohnarbeiterInnen, die der Erwerbslosen werden diesen nachgeordnet. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass zumindest die Autoren des »Leitfadens« am Ende ihrer Ausführungen die Methode, den Regelsatz von Erwachsenen und Kindern nach Warenkörben festzulegen, präferieren. »Das Korsett der EVS (Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, H.R.) muss gesprengt werden. Es muss ersetzt werden durch die Methode, den Regelsatz von Erwachsenen und Kindern nach Warenkörben festzulegen, durch die es möglich ist, Grundbedürfnisse ausreichend zu befriedigen.« [23] Warum zugleich jedoch an der Forderung nach einer Erhöhung des Regelsatzes auf 500 Euro und damit am zugrunde liegenden Statistikmodell festgehalten wird, ist unklar. Möglicherweise verspricht man sich davon taktisch eine größere Breitenwirkung auch bei Gruppen und Personen, die einer Regelsatzerhöhung bislang eher skeptisch gegenüber standen. Auch der Argumentation bzw. den Forderungen Roths u.a. haben sich eine Reihe von Organisationen oder Personengruppen angeschlossen: Im Bundestagswahlprogramm der LINKEN finden sich neben der Zielsetzung, eine bedarfsdeckende, sanktionsfreie Mindestsicherung zu etablieren, u.a. folgende Forderungen:
Das Aktionsbündnis Sozialproteste (ABSP) beteiligt sich an verschiedenen Bündnissen und fordert aktuell 500 Euro Eckregelsatz und zehn Euro Mindestlohn (lohnsteuerfrei). Perspektivisch orientiert sich das ABSP an drei Richtungsforderungen für eine solidarische Gesellschaft: Arbeitszeitverkürzung, gesetzlicher Mindestlohn und eine deutliche Anhebung des ALG II-Regelsatzes bei repressionsfreier Ausgestaltung des Bezugs bzw. langfristig einem bedingungslosen Grundeinkommen. [25] In einem Aufruf, erschienen in der Frankfurter Rundschau, meldeten sich sozial engagierte Professoren (Peter Grottian, Roland Roth, Wolf-Dieter Narr, Christoph Butterwegge, Mohsen Massarrat) zu Wort und forderten u.a. einen Sofortausgleich der Einkommensverluste von Hartz-IV Empfängern seit Beginn der Großen Koalition (12-15 Prozent), 500 Euro Regelsatz, eine Erhöhung der Sätze für Kinder um 100 Euro, die Aufhebung der »Schnüffelverwaltung« von Hartz-IV und einen Mindestlohn von 10 Euro. [26] Der Frankfurter Appell entstand und entwickelte sich vor und nach den zentralen Demonstrationen im November 2003, Oktober 2004 und Juni 2006 und war Produkt der inhaltlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Sozialprotestbewegung. Hier sind die unterschiedlichen Positionen von 2004 und 2006 dokumentiert: In der Erklärung vom 18. Januar 2004 hieß es: »Einen gesetzlichen Mindestlohn, der zum Leben reicht, ein ausreichendes garantiertes Mindesteinkommen für alle Erwerbslosen, ohne Bedürftigkeitsprüfung, massive Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich.« [27] In der Erklärung vom 3. Dezember 2006 wurde nach ausführlicher Diskussion gefordert: »Arbeitslosengeld in Höhe von 80 Prozent des letzten Nettoentgeltes für alle Erwerbslosen für die gesamte Dauer der Er-werbslosigkeit, ein Mindesteinkommen für Erwerbslose, mindestens 500 Euro Eckregelsatz plus Unterkunftskosten und Heizungskosten, damit auch Anhebung der Kinderregelsätze – ohne Bedürftigkeitsprüfung und repressionsfrei, jährliche Anpassung an die jeweilige Inflationsrate, bedarfsorientierte Festsetzung der Kinderregelsätze, einen gesetzlichen Mindestlohn, mindestens 10 Euro brutto die Stunde, 30-Stundenwoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich.« [28] Zusammenfassung: Auch bei diesen Positionen fällt auf, dass trotz vereinzelter Kritik das vorgegebene Bemessungssystem als Grundlage der eigenen Berechnungen genommen wird. Aber auch die geforderten 500 Euro Eckregelsatz im Monat werden nicht bedürfnisorientiert begründet, sondern entspringen m.E. auch dem politischen Willen, möglichst nicht mit dem avisierten Mindestlohn von 10 Euro brutto zu kollidieren. Dennoch hat sich die Forderung bei vielen sozialen Initiativen durchgesetzt und wird von einigen im Zusammenhang mit der Forderung nach Sanktionsfreiheit (die von Rainer Roth nur teilweise geteilt wird; dies trifft übrigens bei ihm auch auf die Forderung nach Abschaffung der Bedürftigkeitsprüfung zu) in der Öffentlichkeit vertreten. Daneben finden sich aber auch, ähnlich wie bei der BAG-SHI, weitergehende Forderungen nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (z.B. bei Aufrufen zu zentralen Demonstrationen oder beim ABSP). Einzig der Frankfurter Appell von 2006 geht über die 500 Euro-Forderung noch darauf ein, dass der staatliche Arbeitszwang und die Bedürftigkeitsprüfung abzuschaffen seien. * Harald Rein arbeitet im Frankfurter Arbeitslosenzentrum FALZ Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9-10/09 Anmerkungen: 1) Zur genaueren Kritik siehe: Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A-Z, Frankfurt a.M. 2008, S. 228-247 2) »Zum Leben zu wenig...« Expertise (Rudolf Martens). Der Vorschlag des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes für einen sozial gerechten Regelsatz als sozialpolitische Grundgröße, Berlin 2006 3) Anhand der Kritik an einzelnen Ausgabepositionen in der Regelsatzverordnung, insbesondere der seiner Meinung nach fehlerhaft begründeten prozentualen Abschläge, kommt der paritätische Wohlfahrtsverband in einer eigenen Untersuchung auf folgende Beträge, um die sich der Regelsatz erhöhen müsste: Nahrungsmittel: Getränke, Tabakwaren: 6,01 Euro; Bekleidung und Schuhe: 4,21 Euro; Gesundheitspflege: 6 Euro; Ver-kehr: 18,49 Euro; Nachrichtenübermittlung: 12,71 Euro; Freizeit, Unterhaltung und Kultur: 12,72 Euro; Beherbergungs-/ Gaststättendienstleistungen: 5,24 Euro = 65,38 Euro/Monat 4) »Zum Leben zu wenig...«, S. 4 5) »Was Kinder brauchen...«, Expertise (Rudolf Martens), Berlin 2008 7) Pressemeldung vom 14. Juli 2009 8) www.aktion-gegen-armut.de »Kinderarmut wirksam bekämpfen« 9) www.gruene.de »Der grüne neue Gesellschaftsvertrag« 11) Deutscher Gewerkschaftsbund: »Stellungnahme des DGB zu den Anträgen 1. Regelsatz erhöhen...«, Berlin 2008 12) Flugblatt der KOS: »27. September ist Bundestagswahl« 13) Pressemitteilung KOS vom 27. Januar 2009: »Jetzt handeln gegen Kinderarmut!« 14) »Mindestlohn und Mindestsicherung für Erwerbslose«, in: A-Info 115/2007 15) Hierbei handelt es sich um ein Bündnis, das maßgeblich von Rainer Roth und einigen Erwerbslosenorganisationen am 1. Mai 2008 gegründet wurde, um auf einer möglichst breiten Unterstützungsbasis Forderungen zur Erhöhung der Kinderregelsätze durchzusetzen, siehe: www.kinderarmut-durch-hartz4.de . Mittlerweile gibt es in diesem Zusammenhang eine weitere Bündnisplattform für einen Eckregelsatz von 500 Euro. 16) Rainer Roth hat viele Jahre zusammen mit der AG-TuWas an der Fachhochschule Frankfurt den Beratungsratgeber »Leitfaden für Sozialhilfe« und später »Leitfaden für Arbeitslosengeld II/Sozialhilfe« herausgegeben. Mittlerweile führt der Wuppertaler Erwerbslosen- und Sozialhilfeverein »Tacheles« dieses Werk weiter. 17) www.500-euro-eckregelsatz.de 18) Rainer Roth: »Hartz IV erkennt biologische Grundbedürfnisse von Kindern nicht an«, Mai 2008, www. kinderarmut-durch-hartz4.de 19) Siehe Unterschriftenliste für die Plattform des Bündnisses »Kinderarmut durch Hartz IV«, Juli 2008 20) Siehe Flugblatt des »Bündnisses 31. Januar«: Sie kriegen den Karren nicht flott... 21) Rainer Roth: »Finanz- und Wirtschaftskrise – Krise des Kapitalismus«, Vortrag 31. Januar 2009, www.rhein-main-buendnis.de 23) Leitfaden für Alg II / Sozialhilfe von A-Z, 2008, S. 247 24) Bundestagswahlprogramm der Partei DIE LINKE: Konsequent sozial. Für Demokratie und Frieden 25) Siehe: www.die-soziale-bewegung.de 26) Frankfurter Rundschau 16. Januar 2009: »Programm für wahrhaft Bedürftige« |