letzte Änderung am 21. November 2003

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Doris Pumphrey

Wie ich modernisiert werde

Ich habe meine Arbeitsstelle verloren. Aber ich bin keine Arbeitslose. Ich bin "Kunde" beim Arbeitsamt. Das Arbeitsamt verleiht mir eine "Kundennummer". Ich schaue im Lexikon nach und gleich noch in einem zweiten. Der Kunde ist da definiert als Käufer, Kauflustiger, wandernder Handwerksbursche, Wirtshausgast, Landstreicher …

Ich habe kein Handwerk gelernt, gehe nicht besonders gern in Wirtshäuser, die Kauflust ist mir vergangen. Außerdem war ich bis jetzt immer nur freiwillig Kunde, wenn ich mir irgendwo was kaufen wollte. Ich bin noch nicht dahintergekommen, was ich mir auf dem Arbeitsamt kaufen kann.

Vielleicht soll ich mich dort einfach nur "modern" fühlen – im Sinne des Gesetzes "für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt". Der oberste Arbeitsamtschef, Florian Gerster, erklärt: "Wir schaffen, wenn man so will, durch unsere Neuorganisation die Voraussetzung für eine Beitragssenkung zur Arbeitslosenversicherung und damit zu einer Senkung der Lohnnebenkosten." Das soll wohl heißen: Die Arbeitsämter sollen dazu beitragen, daß die Unternehmer von "Lohnnebenkosten" befreit werden. Das ist jetzt ihr Auftrag. Zu diesem Zweck sollen sie zu "modernen, leistungsfähigen und kundenorientierten Dienstleistern" umgebaut werden.

Mir wird das guttun, denn ich brauche künftig nicht mehr den deprimierenden Weg zum Arbeitsamt zu gehen, sondern werde mich dann beschwingten Schrittes zur "Agentur für Arbeit" bewegen. Im stolzen Bewußtsein, daß ich zur Moderne gehöre. Modern ist klasse. Klasse ist modern. Kunde ist König.

Dort lerne ich, daß die "Agentur für Arbeit" ihre "Kunden" in vier Klassen einteilt. Wir ehemals Arbeitslosen teilen uns in drei Klassen: "Marktkunden", "Beratungskunden" und "Integrationskunden".

Von Olaf Scholz las ich neulich, daß "dem sozialdemokratischen Menschenbild nur ein Verständnis von Gerechtigkeit entspricht, das den Bezug zur Freiheit immer im Blick behält. Gerecht ist, was Menschen in die Lage versetzt, ihr Leben so zu gestalten, wie sie es selbst gerne gestalten möchten." Darf ich mir also als Arbeitslose die Kundenklasse bei der "Agentur für Arbeit" selbst wählen?

Die Wahl fällt mir schwer.

Die "Marktkunden" sollen Hilfe zur Selbsthilfe erhalten und ansonsten auf die Jobangebote im Internet verwiesen werden, wo sie selbstständig auf Stellensuche gehen können. Die Hilfe zur Selbsthilfe habe ich wohl noch nicht verstanden, aber im Internet kann ich schon ziemlich selbstständig suchen. Mehr Jobangebote, die meinen beruflichen Erfahrungen entsprechen, werden sicher noch reingestellt. Da der "virtuelle Arbeitsmarkt" ausgebaut werden soll, finde ich am Ende vielleicht eine "virtuelle Arbeit".

Unter "Beratungskunden" sind jene zu verstehen, die eine Weiterbildung oder Umschulung benötigen. Wenn ich nun in meiner selbstständigen Internetsuche kein passendes Jobangebot finde oder bei Bewerbungen die üblichen Absagen erhalte, weil einfach zu viele Jobsuchende selbständig im Internet gesucht haben, dann könnte mir vielleicht eine Weiterbildung oder Umschulung neue Hoffnung geben. Wenn ich nur nicht so alt wäre – über Vierzig…

"Integrationskunden" sind jene, die eine intensive Betreuung brauchen – "bis hin zur Partner- oder Schuldnerberatung". Mit meinem Partner komme ich aber gut aus, und Schulden habe ich noch nicht.

Vermutlich wird mir diese schwere Wahl auch abgenommen. Denn neue "Arbeitgeberteams" in den Arbeitsämtern sollen den Unternehmen bei der Suche nach Arbeitskräften helfen und für "paßgenauere Vermittlungen" sorgen.

Und damit sind wir bei dem vierten, dem wichtigsten Kunden: dem sogenannten "Arbeitgeber". Ihm steht in Zukunft ein Millionenheer von Zwangsarbeitern – nein: Kunden zur Verfügung, aus dem er sich Billigstarbeitskräfte vermitteln lassen kann. Unabhängig von meiner beruflichen Qualifikation, Erfahrung und Leistung werde ich dann, sozusagen freiwillig, auf die mir bald zustehende stattliche Summe von monatlich circa 300 Euro Arbeitslosengeld II verzichten und jede Arbeit annehmen, auch wenn diese noch schlechter bezahlt wird; die erzieherische Maßnahme sieht nämlich vor, daß mir sonst noch die 300 Euro um 30 Prozent gekürzt oder völlig entzogen werden. Ich will doch nicht zum Landstreicher werden.

Im Sommer 1933 erließ Hitler ein Gesetz zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit und schuf damit einen großen Billiglohnsektor. Der Staat sollte saniert und modernisiert werden. Zwei Jahre später wurde der "Reichsarbeitsdienst" (RAD) zum Gesetz erhoben. Ab Juni 1938 konnte der Chef der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung Arbeitslose verpflichten, auf ihnen zugewiesenen Arbeitsplätzen zu dienen. Der RAD unterstand dem Innenministerium.

Olaf Scholz arbeitet an der "zeitgemäßen Erneuerung der sozialdemokratischen Gerechtigkeitspolitik". Als Gebot der Gerechtigkeit soll gelten, daß Arbeitslose prinzipiell zur Aufnahme jeder Erwerbstätigkeit bereit sein müssen. Das ist die Modernisierung: Herstellung gesamtgesellschaftlicher Solidarität mit dem Kapital. Dazu sind wir alle aufgerufen. Auch ich werde gebraucht. Ich fühle mich modern, weil ich am großen nationalen Aufbauwerk des Billiglohnsektors mitwirken darf. Die Konzerne und Banken werden mit mir zufrieden sein: Indem ich viel billiger werde, helfe ich ihnen bei der angestrebten allgemeinen Lohn- und Gehaltssenkung und der Zertrümmerung von Tarifverträgen. Auch der Regierung mache ich eine Freude: Ich verschwinde aus der lästigen Nürnberger Arbeitslosenstatistik.

Text erschienen in "Ossietzky" Nr: 18

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