letzte Änderung am 23. Februar 2004

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Schluss mit lustig.

Soziale Grundrechte gegen Agenda 2010 und „Unternehmen Hamburg“


Sehr geehrte Damen und Herren. Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Genossinnen und Genossen

In zwei Wochen werden in Hamburg Bürgerschaft und Bezirksversammlungen neu gewählt. Es ist die hohe Zeit der professionellen und weniger professionellen KaffeesatzleserInnen: Wer kommt rein? Wer muss draußen bleiben? Wer mit wem und wie viel? Dabei stehen schon jetzt zwei sicherere Gewinner fest – wenn man mal davon ausgeht, dass der REGENBOGEN keinen erdrutschartigen Wahlsieg wird verbuchen können. Der erste Wahlsieger heißt Ronald B. Schill und zwar unabhängig davon, ob dieses rechtspopulistische Medienprodukt den Sprung über die 5%-Hürde schafft oder nicht.


Der heimliche Sieg des Rechtspopulismus

Am 20. August letzten Jahres, unmittelbar nach Schills Entlassung als Innensenator, sprach die TAZ von einem "Ende des Rechtspopulismus", und viele haben dem in den letzten Wochen und Monaten zugestimmt, als sich die Schillpartei scheinbar selbst zerlegt hat. Doch dreierlei sollte nicht vergessen werden:

Laut Umfragen kommen die offen rechtspopulistischen Gruppierungen in Hamburg immer noch auf sechs bis acht Prozent. Das ist genug, um als politischer Faktor ernst genommen zu werden. Zum ersten muss also davon ausgegangen werden, dass nach wie vor ein erhebliches rechtspopulistisches Potenzial existiert.

Zum zweiten spricht einiges dafür, dass dies auch auf Dauer so bleiben wird. Es ist falsch, in der rechtspopulistischen Agitation nur den Ruf nach Repression und Law and Order zu sehen. Schill ist vor zwei Jahren von Leuten gewählt worden, die sich durch die herrschende Politik massiv sozial bedroht gesehen haben. Seine Mischung aus Sicherheit, Ausgrenzung von „Unnormalen“ und "Systemkritik" (Stichwort Filz, Kritik an den „verkrusteten Altparteien“) hat für viele eine glaubwürdige Antwort dargestellt. Schill hat nicht zuletzt für eine spezifische Variante von sozialer Sicherheit gestanden, nämlich für eine obrigkeitsstaatliche, ausgrenzende: Soziale Gerechtigkeit ja, aber nur für den fleißigen und ordentlichen deutschen kleinen Mann. Angesichts der "Agenda 2010", die von allen Parteien getragen wird, dürfte eine solche rechtspopulistische Interpretation der "sozialen Frage" eher an Attraktivität gewinnen.

Und drittens muss man feststellen, dass der Rechtspopulismus gewissermaßen politisch-inhaltlich auf breiter Front gesiegt hat. Die Dominanz der Ordnungspolitik in allen Politikbereichen ist inzwischen politisches Allgemeingut. Als die Hamburger Sozialdemokratie im April 2003 ihr neues sicherheitspolitisches Konzept vorlegte, musste sie sich von der Schill-Partei den Vorwurf gefallen lassen, dort abgekupfert zu haben. Wirklich dementiert wurde das nicht, lediglich "behutsamer" als Schill wolle man sein bei der zwangsweisen Vergabe von Brechmitteln, beim Aufmischen der offenen Drogenszenen, bei der Einknastung von Kindern und Jugendlichen. Der Erfolg der Schill-Partei hatte allen klar gemacht: Mit Sicherheit und Ordnung lassen sich Wahlen gewinnen; diese Botschaft haben alle verstanden.

Der politisch-ideologische Einfluss des Rechtspopulismus geht dabei weit über den Kernbereich der so genannten inneren Sicherheit hinaus. Er berührt das gesamte Verhältnis von BürgerInnen und Staat. Schill hat die bürgerlichen Freiheitsrechte und die individuellen Menschenrechte denunziert, als „falschen Liberalismus der Nach-68er“ oder als „Diktatur von Minderheiten“ gegen die „rechtschaffene“ Mehrheit. Er konnte damit an ein autoritäres und obrigkeitsstaatliches Grundmuster anknüpfen, das seit einiger Zeit bereits alle Politikbereiche durchzieht, vom Strafvollzug und dem Demonstrationsrecht über die Flüchtlings- und Migrationspolitik bis zur Kinder- und Jugendhilfe und der Sozialpolitik. Es ist ein Muster, das längst von allen Parteien der politischen Klasse im Gleichschritt vollzogen wird.


„Aktivierender Sozialstaat“ und Umverteilung

Damit wäre ich beim zweiten Sieger der Wahl vom 29.2., der jetzt schon feststeht, nämlich dem Sozialstaat; jawohl, der Sozialstaat wird gestärkt aus der Wahl hervorgehen. Allerdings ist es kein Sozialstaat, wie er manchen von uns vielleicht vorschwebt. Sieger ist der „aktivierende Sozialstaat“ des „Förderns und Forderns“ oder wie es im englischen Sprachgebrauch so schön heißt, des „help and hassle“, des Helfens und Belästigens. Ursprünglich eine originäre Erfindung der „Neuen Sozialdemokratie“, hat die Formel vom „aktivierenden Sozialstaat“ inzwischen Eingang in den Sprachgebrauch aller Parteien gefunden.

Der Formwandel des Sozialstaates in den letzten 20 Jahren ist natürlich zum einen ein Sozialabbau: Abbau sozialer Rechte , massive Einsparungen bei öffentlichen sozialen Dienstleistungen und Angriffe auf die Sozialeinkommen. Ich muss hier nicht erzählen, wie die so genannten „Konsolidierungsmaßnahmen“ alle Bereiche des sozialen Hilfesystems in Hamburg an die Wand fahren.
Dabei sind diese Sparorgien genauso wenig ein Naturgesetz wie die angebliche Ebbe in den kommunalen Haushalten. Seit Jahren ist es ungebrochener politischer Wille, die kommunalen Kassen ausbluten zu lassen, während gleichzeitig Unternehmen und Wohlhabende steuerlich entlastet werden. Ich meine dabei gar nicht so sehr die Abschaffung der Vermögenssteuer, sondern in noch stärkerem Maße die Unternehmensbesteuerung. Im Jahre 2000, unmittelbar vor der rot-grünen Steuerreform, zahlten Unternehmen 23,6 Mrd Euro an Körperschaftssteuer. Im Jahre 2001, nach der Steuerreform, entwickelten sich die Finanzämter zu Auszahlungsstellen. Der Steuerausfall allein in Hamburg betrug 460 Mio. Euro. Und im Jahr 2002 sind die Einnahmen des Bundes aus der Körperschaftssteuer um 2,9 Mrd. Euro gesunken. Hamburg seinerseits verzichtet auf Steuereinnahmen bei der Gewerbesteuer und betreibt die direkte und indirekte Subventionierung von Unternehmen. 665 Mio. EUR oder 1,3 Mrd. DM sind bis Ende 2002 in die Zuschüttung des Mühlenberger Lochs geflossen, und Airbus schreit ständig nach weiteren Geschenken. So werden die "Sachzwänge" produziert, die dann angeblich das Sparen erforderlich machen.
Spätestens seit Anfang der 80er Jahre, als der damalige SPD-Bürgermeister Klaus v. Donanhy seine berühmt-berüchtigte Rede vor dem Übersee-Club hielt und vom "Unternehmen Hamburg" sprach, ist Hamburger Politik Standortpolitik, ausgerichtet an den Bedürfnissen des Weltmarktes und der weltmarktorientierten Unternehmen. Und dazu gehört auch das entsprechende urbane Face lifting: Schicke Konsummeilen, mondänes Ambiente, teure Wohnungen, exklusive Lebensqualität, für die, die es sich leisten können. Eine solche Politik der Umverteilung und der Standortlogik nimmt die soziale Spaltung der Stadt bewusst in Kauf. Nicht "Armut trotz Reichtum" ist die richtige Formulierung, sondern "Armut wegen Reichtum".
Dabei ist Geld genug da: Hamburg ist nach wie vor eine der reichsten Städte in Europa, und neun der 100 reichsten Personen Deutschlands wohnen hier: Werner Otto (Otto-Versand) mit 6,6 Mrd €, Michael Herz (Tchibo) mit 5,1 Mrd €, Heinz Bauer (Bauer Verlag) mit 4 Mrd €, Günter Herz mit 3,9 Mrd €, John Jahr (Gruner & Jahr) mit 2,3 Mrd. €, Karl Ehlerding mit 1,9 Mrd. €, Ingeborg Herz mit 1 Mrd. €, Hermann Schnabel mit 1 Mrd € und Robert Vogel mit 800 Mio. €. Diese 9 Menschen halten zusammen ein Vermögen von 26,6 Mrd €. Zum Vergleich: Der Jahreshaushalt der FHH beträgt ca. 10 Mrd €. Wenn die Vermögenssteuer allein für diese 9 Personen wieder eingeführt und sie mit nur 2 % zur Kasse gebeten würden, wären die bundverursachten Steuerausfälle im Hamburger Haushalt weitgehend beseitigt.

Autoritärer Pflichtgedanke und die Umdefinition sozialer Gerechtigkeit

Es wäre aber ein großer Fehler, wenn man bei allem Sozialabbau und bei aller Umverteilung nicht sehen würde, dass Formwandel des Sozialstaates noch sehr viel mehr heißt. Worum es nämlich in erster Linie geht, ist der materielle und ideologische Umbau des Sozialstaates. Was "soziale Gerechtigkeit" ist, wessen Ansprüche gerechtfertigt sind und wessen nicht, wer gesellschaftliche Solidarität beanspruchen darf und wer nicht - dies alles wird neu definiert.

Im letzten Sommer hatten 25 jüngere Bundestagsabgeordnete von CDU, FDP und Grünen ein gemeinsames Manifest vorgestellt. Titel: „Deutschland 2020 – für mehr Gerechtigkeit“. Die Verfasserinnen warnen vor den „hinterlassenen Lasten vorangehender Generationen“, die die gegenwärtig „Aktiven“ „überfordern“ und ihre Potenziale „blockieren“. Jedem und jeder nach seiner/ihrer Leistung lautet die daraus abgeleitete politische Forderung.

Erinnert sich noch jemand an Philipp Missfelder, den Vorsitzenden der Jungen Union? Der hatte krakeelt, die Sozialversicherungssysteme seien „nicht dafür zuständig, dass jeder Senior fit für einen Rentner-Adventure-Urlaub ist“. Zahnersatz auf Krankenschein? „Sozialistisches Ausbeutungssystem auf Kosten meiner Generation“ und „unsolidarisches Abzocken der gesellschaftlichen „Leistungsträger“. Mißfelder weiter: „Ich halte nichts davon, wenn 85-jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen. Früher sind die Leute auch auf Krücken gelaufen.“

Die Debatte um die sog. „Generationengerechtigkeit“ transportiert ganz unverhüllt einen neuen ökonomischen Utilitarismus in der Sozialpolitik. Das Wohl und Wehe der so genannten gesellschaftlichen „Leistungsträger“ wird zum neuen Gerechtigkeitsmaßstab. Leistungsunfähige, Leistungsgeminderte und erst recht Leistungsunwillige gelten in erster Linie als Kostenfaktoren. Diese Botschaft durchzieht inzwischen sämtliche Äußerungen zur Agenda 2010, von Gerhard Schröder und Ulla Schmidt bis Angelika Beer und Krista Sager. Die hatte schon im Mai 2003 beklagt, dass die „Altersquote“ zu hoch sei: "Wir investieren immer mehr Geld in die Vergangenheit als in die Zukunft." Ausgaben für die gleichberechtigte und gleichwertige soziale Sicherheit Aller werden so zu reinen „Fehlinvestitionen“.

In der Agenda 2010 und der Zerschlagung der paritätischen Sozialversicherungssysteme manifestiert sich die neue „Verwertungsgerechtigkeit“ des „aktivierenden Sozialstaats“. Quer durch alle Parteien und in allen Feldern der sozialen Sicherungssysteme schält sich eine Art staatlich organisierte und steuerfinanzierte Not- und Grundversorgung heraus, wahlweise „Versorgung mit dem Nötigsten“ oder „gleiche, einheitliche Grundsicherung“ genannt. Jede soziale Absicherung und jede gesellschaftliche Teilhabe, die diesen Namen wirklich verdient, ist dann eine Frage der „Eigenverantwortung“ bzw. der Größe des Portemonnaies. Soziale Rechte als individuelle Ansprüche sind genauso abgeschafft wie der Gedanke an kollektive, gesellschaftliche Solidarität.

Die Agenda 2010 ist somit mindestens viererlei gleichzeitig: a) eine gigantische Entlastung des Kapitals, insofern die Unternehmen jetzt wesentliche Teil des Lohns nicht mehr bezahlen müssen; b) eine brutale Verarmungsstrategie gegen abhängig Beschäftigte und Erwerbslose; c) eine äußerst repressive Zwangsflexibilisierung und d) die Etablierung der Marktlogik in den Köpfen der Menschen. Es ist vor allem dieser letzte Punkt, der den bisherigen „Erfolg“ der Agenda 2010 ausmacht.

Wo es zumindest in Ansätzen noch so etwas wie tatsächliche und moralische soziale Rechte und Rechtsansprüche gegeben hat, werden diese heutzutage zugunsten der so genannten „Sozialpflichten“ ersetzt. Im letzten Bürgerschaftswahlkampf plakatierte die SPD: „Bei uns dürfen Jugendliche alles, nur nicht arbeitslos werden.“ Dieser Spruch lässt sich als unverhüllte Drohung lesen: Jugendliche, ihr dürft alles, aber wehe ihr werdet arbeitslos.

Keine staatlichen Leistungen ohne Gegenleistungen; Sozialleistungen, soziale Rechte und Ansprüche muss man sich vorher erst einmal verdienen. Wer nur irgendwie seine Haut zu Markte tragen kann, muss dies tun; nach Arbeitsbedingungen, Löhnen und Sinnhaftigkeit der Arbeit wird nicht mehr gefragt. Die GAL-Bürgerschaftsabgeordnete Dorothee Freudenberg-Hübner hat das so ausgedrückt: „Wer arbeitsfähig ist, soll für seine ergänzende Sozialhilfe auch eine Gegenleistung erbringen, das ist zumutbar.“ Arbeiten für die Sozialhilfe. Inzwischen arbeiten SozialhilfeempfängerInnen in Hamburg für einen Euro die Stunde – gezwungenermaßen, ohne Arbeitsverhältnis, ohne Lohnersatzleistungen, ohne ArbeitnehmerInnenrechte. Sozialleistungen ohne unmittelbare Gegenleistung wie Krankengeld, Rente, Arbeitslosenunterstützung oder Sozialhilfe gelten zunehmend als verdächtig.


Entsolidarisierung und Privatisierung sozialer Risiken

Der autoritäre Pflichtgedanke des „aktivierenden Sozialstaates“ korrespondiert mit einem radikalisierten Subsidiaritätsprinzip. Jeder und Jede ist dazu verpflichtet, sich selbst zu helfen, durch jede Form von Eigeninitiative: durch Lohnarbeit jeder Art, durch Selbstständigkeit, durch Selbstverwertung. Alle müssen sich wie "Arbeitskraftunternehmer" verhalten. Die „Ich-AG“ ist das Leitbild der Gegenwart. Eigenvorsorge und Eigenverantwortlichkeit treten an die Stelle gesellschaftlicher, kollektiver Solidarität. Bei Schnieber-Jastram hieß das "Frage nicht, was der Staat für dich tun kann, frage, was du selbst tun kannst". Bei der SPD-Grundwertekommission heißt das „gerechte Ungleichheiten“: Sozial- und Bildungspolitik sollen zwar gleiche Chancen gewährleisten (was natürlich mit der Realität nichts zu tun hat), doch dann zählt nur noch die individuelle Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative. Jede und jeder ist ihres und seines Glückes Schmied. Ungleichheiten, die mit diesem Prozess verbunden sind, sind dann nicht mehr Resultat gesellschaftlicher Defizite, sondern von individuellem Versagen, aus dem eben auch kein Anspruch auf Solidarität mehr erfolgt. Eigenverantwortung und selbstverwertende Flexibilität werden nicht nur erwartet, sondern sie werden auch gefordert und erzwungen. Nicht-flexibles Verhalten, fehlende Eigenvorsorge und mangelnde Eigenverantwortung wird bestraft – durch Verarmung und durch Leistungsentzug.

Die Konsequenzen dieser politischen Grundorientierungen für diejenigen, die sie vor Ort umsetzen sollen, sind erheblich – für die Sachbearbeiterinnen in den Arbeits-, Sozial- und Jugendämtern bzw. den Ämtern für soziale Dienste genauso wie für die SozialarbeiterInnen bei frei-gemeinnützigen Trägern. Sozialpolitik soll nicht Verhältnisse ändern, die etwa Armut und Ausgrenzung erzeugen, sondern sie soll die Menschen, ihre Interessen, Bedürfnisse und Verhaltensweisen an diese Verhältnisse anpassen.

Sozialpolitik wird unter solchen Umständen zur schwarzen Pädagogik und Disziplinierung. Detlef Scheele, Geschäftsführer der HAB und arbeitsmarktpolitischer Chefstratege der Hamburger SPD, hat die Arbeitsmarktpolitik und insbesondere Tarife unter dem Sozialhilfeniveau als Mittel zur „Nachsozialisation“ beschrieben. Schlechte Arbeitsbedingungen und Niedriglöhne an der Armutsgrenze sind in dieser Logik explizite Erziehungsmittel. Erwerbslosigkeit oder Auffälligkeiten von Jugendlichen sind nicht mehr Resultate gesellschaftlicher Verhältnisse sondern das Produkt von individuellem Fehlverhalten: „Fehlqualifikation“, „Motivationsschwäche“, „unrealistisches Anspruchsdenken“, „persönliche Defizite“ und dergleichen mehr lauten die Befunde, und Sozialpolitik erscheint gewissermaßen als medizinische (Zwangs-)Therapie mit „Diagnosen“, „Anamnesen“, „Prophylaxen“, „Profiling“, „Eingliederungsplänen“ etc.


Sozialpolitik zwischen schwarzer Pädagogik und Marktlogik

Der aktivierende Sozialstaat erwartet von der Sozialpolitik und ihren Akteuren, dass sie bei individuellem Fehlverhalten zugunsten des Gemeinwohls intervenieren. Soziale Arbeit wird zur „Politik der Lebensführung“ (Giddens). Der obrigkeitsstaatliche Eingriff in individuelle Lebensplanungen und –entwürfe ist der Kern des „Förderns und Fordern“. Es erübrigt sich, darauf hinzuweisen, dass bei solchen Vorgaben das methodische Arsenal der Sozialarbeit nicht mehr gefragt ist: diskursive Lösungsstrategien, partnerschaftliche Zusammenarbeit, Akzeptanz oder gar die engagierte und parteiliche Interessenvertretung für die sog. „Zielgruppen". In der Sozialen Arbeit vollzieht sich zunehmend eine "paternalistische Wende"; Akzeptanz wird auf breiter Front zu einem Fremdwort - es sei denn, sie macht sich im Sinne von Kriminalprävention nützlich. Und in der Tat werden Einrichtungen des Sozialen Hilfesystems zunehmend nur noch über das Präventionsversprechen legitimiert. Im Mittelpunkt steht dann aber ganz schnell nicht mehr der Jugendliche, der Drogenkonsument oder die Bettlerin mit seinen/ihren Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Rechten. Im Mittelpunkt steht "der Schutz der Gesellschaft".

Umverteilungspolitik und Kürzungen haben das soziale Hilfesystem nicht nur ausgedünnt, sondern seinen Charakter auch tief greifend verändert. Mit den Einsparungen hat sich eine forcierte Verbetriebswirtschaftlichung sozialer Einrichtungen vollzogen. Ökonomische „Effizienz“, Markt, Budget, "Kunden", "Controlling" oder "Evaluation": Das sind die neuen Zauberwörter. Der Einspar- und Kostendruck wird an die sozialpolitischen Einrichtungen weitergegeben. Die Träger werden zu mehr oder weniger kleinen betriebswirtschaftlich orientierten Klitschen umgewandelt, die sich untereinander Konkurrenz machen. Dass es bei dem Kampf um Marktanteile zu einem Konzentrationsprozess kommt, ist genauso wenig verwunderlich wie der Druck auf die Beschäftigten. Arbeitsintensität und Arbeitshetze werden erhöht, Arbeitsgänge segmentiert, gemessen und - teilweise bei unterschiedlichen Kostenträgern – abgerechnet. Tarifliche Arbeitsbedingungen und Löhne bleiben bei dieser Taylorisierung genauso auf der Strecke wie engagierte und kompetente Arbeit für die NutzerInnen.

Nichtzuletzt sind Ökonomisierung und Kosteneffizienz auch die Schlagworte für eine Privatisierung sozialer Dienstleistungen, etwa des Gesundheitssystems und der Krankenhäuser. Es ist aber nicht nur der LBK, der in Hamburg verscherbelt werden soll. 62 stadteigene Unternehmen und Unternehmensbeteiligung will der Senat aufgeben, ganz oder zum größten Teil privatisieren: die Messe, die HHLA, das Berufsförderungswerk, die HAB und die Altonaer Arbeitsförderungsgesellschaft, Pflegen & Wohnen, die Stadtreinigung, die Wohnungsbaukreditanstalt, die Sprinkenhof AG, die Schuldnerberatung und die Freizeitbäder, um nur einige zu nennen.

Bei der anstehenden Privatisierungswelle geht es nicht mehr um das „Tafelsilber“, mit dem der Haushalt saniert werden soll. Es geht auch nicht um betriebswirtschaftliche Effizienz. Es geht inzwischen nur noch um reine Ideologie. Finanzsenator Peiner: „Hamburg verkauft seine öffentlichen Unternehmen nicht aus Finanznot. … Die Entscheidung … bedeutet weder eine Kritik an der Leistung der öffentlichen Unternehmen und ihrer Mitarbeiter noch eine `Bestrafung’ des Managements. Sie soll … zu einer Rückbesinnung auf die Kräfte führen, die Hamburg in der Vergangenheit stark gemacht haben – auf selbstständige Unternehmen.“

Und vergessen wir bei der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und sozialer Risiken nicht, dass die Auflösung der öffentlich organisierten Daseinsvorsorge ganz ungeniert auf die kostenlose Arbeitskraft, Zeit und Energie von Frauen zurückgreift. Sie sind die Ausfallbürgen einer Politik, die professionelle Beratungsstellen schließt, öffentliche Kinderbetreuung genauso zu einer Frage des Geldes macht wie die Versorgung von Pflegebedürftigen.


Soziale Grundrechte und Sozialprotest

Kein Wunder also, wenn am 8. März 2002 3.000 Frauen in Hamburg gegen den Kahlschlag bei den Frauen- und Mädchenprojekten protestiert und dabei auch dem Rathaus einen unangemeldeten Besuch abgestattet haben. Überhaupt hat es durchaus hoffnungsvolle Anzeichen eines wachsenden Protestes gegen die Zumutungen des „aktivierenden Sozialstaats" gegeben: die Demo von SoPo und ver.di am 16. April 2002, die Demo von 50.000 Menschen im Juni desselben Jahres gegen Bildungsklau, die Bambule-Aktionen im Herbst und Winter 2002/3, der Widerstand gegen das Kita-Gutschein-System oder gegen die Privatisierung der Berufsschulen oder auch die Demo vom 1. November 2003 in Berlin gegen die Agenda 2010.

Allzu oft konzentriert sich der "Kampf gegen den Sozialabbau auf die drastischen finanziellen Einschnitte und die Verteilungsungerechtigkeit. Wenn es aber stimmt, dass der neoliberale Sozialstaat neben Sozialabbau vor allem Umbau bedeutet, dann springen soziale und gesellschaftliche Alternativen zu kurz, wenn sie nur den Sozialabbau kritisieren. Neben der Verteilungsfrage müssen soziale Protestbewegungen daher die grundsätzlichen sozialstaatlichen Strukturen kritisieren, die ein Einfallstor für Pflichtgedanken, Ausgrenzungen und bürokratische Bevormundungen sind. Auch reformerische Politik muss heute sehr viel antiautoritärer, staatskritischer und in diesem Sinne auch radikaler als bisher sein.

Wenn die ganz große Koalition der Agenda 2010 in Berlin und Hamburg „soziale Gerechtigkeit“ umdefiniert, so wird es notwendig sein, neu zu bestimmen, was wir darunter verstehen, welches Menschenbild das unsere ist, wie unserer Meinung nach eine Gesellschaft aussehen soll, in der ein schönes, d.h. von Existenzsorgen freies Leben für alle möglich ist. Worum es also geht, ist der Entwurf von Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen, die als moralischer Maßstab dienen können - sowohl für die Kritik der vorhandenen gesellschaftlichen Zustände als auch für Befreiungsperspektiven. Der Schlüssel und Orientierungspunkt dafür ist die umfassende, unbedingte und unteilbare Teilhabe am und die Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens. Das schließt die Sicherung der materiellen Voraussetzungen - etwa Existenz sichernde Einkommen - genauso ein wie die Wahrung von individueller Autonomie, Selbstbestimmung, persönlicher Integrität und Integration. In einer solchen Sichtweise wird soziale Sicherheit unmittelbar zu einer Frage der Demokratie und umgekehrt.

Dazu zwei ganz konkrete Beispiele: Im Kampf gegen die Privatisierung etwa des LBK geht es nicht nur um die Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze der Beschäftigten. Es geht auch um das individuelle Grundrecht auf optimale Gesundheitsversorgung. Es geht auch um Gesundheitsversorgung als öffentliches Gut, als eine öffentlich bereit gestellte Dienstleistung, die allen zugänglich ist – auch z.B. so genannten Illegalisierten. Es geht um die öffentliche Einflussnahme bei der Produktion dieser Dienstleistung, um die Rechte von PatientInnen, um die Frage, welche Medizin wir in den Häusern des LBK eigentlich wollen.

Ganz ähnlich hat auch der Widerstand gegen die Abschaffung des HVV-Sozialtickets mehrere Aspekte: den Widerstand gegen schlichten Einkommensraub, wenn Erwerbslose und SozialhilfeempfängerInnen jetzt teure Tickets kaufen müssen. Mit dem Sozialticket wird aber auch das individuelle Grundrecht auf Mobilität thematisiert, das Recht, sich frei zu bewegen und über räumliche Distanzen Beziehungen zu pflegen. Die Ausgestaltung des Öffentlichen Personennahverkehrs berührt also unmittelbar die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in dieser Stadt.
Worum es also gehen muss, ist die Verteidigung eines sozialen Anspruchsdenkens: den Anspruch auf individuelle und kollektive Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, den Anspruch an ein gutes Leben für Alle als soziales Grundrecht für jeden Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Hautfarbe oder Verfügbarkeit am Arbeitsmarkt.

Solche Grundrechte sind demokratische BürgerInnenrechte. Sie sind aber auch vor- und überstaatliche Menschenrechte; Leitbilder und unveräußerliche Eckpunkte für eine menschliche Gesellschaft auch und gerade dann, wenn sie nicht in irgendwelchen Chartas festgehalten werden. Und als Menschenrechte sind sie auch nicht gebunden an einen (Staats-)BürgerInnenstatus.

Soziale Grundrechte sind erheblich mehr als Armen- und Marginalisiertenrechte. Die mit ihnen verbundenen sozialen Ansprüche betreffen nicht zuletzt die Frage, wie in diesem Land gearbeitet wird, wer unter welchen Bedingungen eigentlich was produzieren soll. Ansprüche und Rechte machen also weder vor den Fabriktoren, noch vor den Büros, oder den Küchen und Wickelkommoden der privaten Haushalte halt.
Heute für soziale Grundrechte zu streiten, bedeutet auch, Ansprüche und Rechte gegen die Zumutungen und die Gewalt einer umfassenden Flexibilisierung und ihrer scheinbaren "Normalität" zu verteidigen. Der ehemalige SPD-Generalsekretär Franz Müntefering meinte, es sei heute normal und zumutbar, für einen Job von Mecklenburg-Vorpommern nach Bayern zu ziehen und dabei vertraute soziale Bezüge aufzugeben. Für viele Menschen mag das tatsächlich der Fall sein und vielleicht sogar mit einer Aufbruchstimmung aus provinzieller Enge verbunden sein. Okay. Aber die sozialen Ansprüche an Einkommen, Jobs und Lebensqualität von denen, die aus welchen Gründen auch immer nicht so flexibel sein wollen, sind deswegen um kein Gramm weniger berechtigt. Für das Recht, unflexibel und immobil zu sein und dennoch gut zu leben, auch das ist ein Kampf um soziale Grundrechte.

Redemanuskript von Dirk Hauer von der Konferenz "Die Wüste lebt" in Hamburg am 14.2.04

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