Aufruf von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
Sozialstaat reformieren statt abbauen Arbeitslosigkeit bekämpfen statt Arbeitslose bestrafen
Mit den in der "Agenda 2010" angekündigten Maßnahmen will die rot-grüne Bundesregierung die Bundesrepublik bis zum Ende des Jahrzehnts aus der Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise führen. Die Blockaden der letzten Jahre sollen überwunden, die Wirtschaft belebt und vor allem Arbeits-plätze geschaffen werden. Wir bezweifeln aber, dass die Ansätze tatsächlich geeignet sind, diese Ziele zu erreichen. Im Wesentlichen konzentriert sich die Agenda 2010 auf drastische Leistungs-kürzungen in den sozialen Sicherungssystemen. Dazu zählen vor allem die Kürzung der Dauer des Arbeitslosengeldes, die faktische Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, Verschärfung von Zumut-barkeitsregelungen, Ausgliederung des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung, Auf-weichungen des Kündigungsschutzes sowie die nochmalige Absenkung des Rentenniveaus. Der Opposition, den Wirtschafts- und Arbeitgeberverbänden, vielen wissenschaftlichen Beratungsgremien sowie weiten Teilen der Medien gehen diese Einschnitte noch nicht weit genug. Unter der Devise "Weniger Sozialstaat = mehr Beschäftigung" hat ein Wettlauf um den Abbau der Kernele-mente des Sozialstaats eingesetzt. So wollen CDU/CSU in den anstehenden Verhandlungen mit der Regierung Eingriffe in Tarifvertragsgesetz und Tarifautonomie sowie die Absenkung der Sozialhilfe durchsetzen.
Wir widersprechen dieser Politik, weil die angekündigten Maßnahmen die Probleme auf dem Ar-beitsmarkt nicht beseitigen werden. Eine Politik, die auf der einen Seite mit den falschen Rezepten operiert, auf der anderen Seite dem Druck konservativer Lobbygruppen nachgibt, ist weder mutig noch reformorientiert. Die geplanten Einschnitte verletzen die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit und gefährden die Substanz des Sozialstaates, schaffen aber keine Arbeitsplätze. Wir widersprechen der These, dass der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar und die Ursache von Wachstumsschwä-che und Arbeitslosigkeit sei.
Der eingeschlagene Weg führt in die falsche Richtung, weil der Politik eine falsche Krisendiagnose zu Grunde liegt.
- Die andauernde Massenarbeitslosigkeit ist die Folge fehlender Arbeitsplätze und nicht die Folge fehlender Arbeitsbereitschaft. Wer glaubt, die
Arbeitsmarktkrise durch noch mehr Druck auf die Arbeitslosen zu lösen, bekämpft die Arbeitslosen, aber nicht die Arbeitslosigkeit. Die Kürzungen bei
der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe führen zu gravierenden
Einkommenseinbußen bei den Arbeitslosenhaushalten und verschärfen das ohnehin schon hohe Armutsrisiko der Betroffenen.
- Eine Politik, die Arbeitslose unter dem Druck der materiellen Verhältnisse dazu treibt, Arbeit "um jeden Preis" anzunehmen, fördert die
Ausbreitung einer Niedriglohnökonomie auch in Deutschland. Eine solche Entwicklung steht im Widerspruch zum dringend notwendigen Ausbau
qualifizierter Dienstleistungen und führt zu problematischen Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt, nicht aber zu insgesamt mehr Beschäftigung.
Besser bezahlte, gesicherte Arbeit wird durch schlechter bezahlte, prekäre Arbeit ersetzt. Die Arbeits- und Einkommensbe-dingungen der
Beschäftigungsverhältnisse insgesamt werden gefährdet.
- Die Aufweichung des Kündigungsschutzes wird das ohnehin reduzierte Schutzniveau in Klein-betrieben noch weiter herabsetzen, ohne dass neue
Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies zeigen die Erfahrungen der Jahre 1997 und 1998. Ein beliebiges Unterlaufen tarifvertraglicher Regelungen
durch betriebliche Vereinbarungen würde die zentrale Funktion des Flächentarif-vertrags außer Kraft setzen, Mindeststandards für Arbeits-
und Einkommensbedingungen zu garantieren.
- Die Ursachen für die gegenwärtige Finanzkrise liegen nicht im sozialstaatlichen System und dessen vermeintlich zu üppigen Leistungen.
Die Finanzierungsdefizite sind in erster Linie Folge der Finanzierung der deutschen Einheit über die Sozialversicherung sowie der chronischen
Arbeitsmarktkrise. Die steigende Arbeitslosigkeit führt zu erhöhten Ausgaben und sinkenden Bei-trags- und Steuereinnahmen. Zur Finanzkrise hat
aber auch die Steuerpolitik der letzten Jahre beigetragen, die die Entlastungen auf die Unternehmen, hohen Einkommen und die Vermö-gensbesitzer
konzentriert hat. Insbesondere die Einnahmen aus Gewerbesteuer, Körper-schaftsteuer und veranlagter Einkommensteuer sind eingebrochen.
- Die Finanzierungsprobleme und die steigenden Beitragsbelastungen in den Systemen der so-zialen Sicherung werden durch Leistungsausgrenzungen (mit Verweis auf die private Vorsor-ge) oder verstärkte Zuzahlungen (Praxisgebühr, Arzneimittel usw.) nicht beseitigt. Es kommt dadurch lediglich zu einer Verlagerung der Finanzierung zu Lasten der Versicherten und vor allem der Kranken. Hinzu kommt, dass sich die Beitragszahlungen bei Privatversicherungen nach dem individuellen Risiko richten ohne Berücksichtigung der Einkommens- und Famili-enverhältnisse. Es käme zu Unterversorgungen gerade jener Gruppen der Gesellschaft, die wegen ihrer Arbeits-, Lebens- und Einkommensbedingungen besonders hohe Gesundheitsrisi-ken tragen. Auch die Finanzierung des Krankengeldes allein durch die Versicherten ändert nichts an der Ausgabenentwicklung im Gesundheitssystem, sie ist ausschließlich eine Umver-teilung zu Gunsten der Unternehmen und höhlt das Prinzip der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus.
Mit dem eingeschlagenen Weg werden das Sozialstaatsprinzip und die Grundlagen einer auf den sozialen Ausgleich gerichteten Gesellschaftsordnung
gefährdet. Wir widersprechen der Behaup-tung, dass diese Einschnitte "alternativlos" sind. Ein hohes Beschäftigungsniveau und ein
ausgebauter Sozialstaat müssen wie Beispiele aus europäischen Nachbarländern zeigen - keine Ge-gensätze sein. Um das zu erreichen,
sind jedoch Maßnahmen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie Arbeitsmarkt und Sozialpolitik notwendig, die den Namen "Reform"
tatsächlich verdienen. Dazu zählen insbesondere folgende Punkte:
- Um die Arbeitslosigkeit abzubauen und den Sozialstaat zu sichern, ist eine Umkehr in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zwingend erforderlich.
Die öffentlichen Investitionen müssen ausge-baut statt gekürzt werden. Durch ein öffentliches Investitionsprogramm können die überfällige
Modernisierung von Infrastruktur und Umwelt sowie der Ausbau des Bildungssystems in Angriff genommen werden. Dies schafft kurzfristig
Arbeitsplätze und sichert mittel- und langfristig die Zukunftsfähigkeit Deutschlands. Statt durch Sozialleistungskürzungen die Kaufkraft
gerade in den unteren und mittleren Einkommensbereichen zu begrenzen, bedarf es einer Stabilisierung und Erhöhung des privaten Konsums.
- Ein ausgebauter Sozialstaat kann kein "billiger" Staat sein. Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten. Die Belastungen durch Steuern und
Abgaben müssen sich aber nach der fi-nanziellen Leistungsfähigkeit richten. Erforderlich ist deshalb eine Steuerreform, die sich am Maßstab
sozialer Gerechtigkeit orientiert und Unternehmen sowie hohe Einkommen und Ver-mögen wieder stärker an der Finanzierung öffentlicher Aufgaben beteiligt.
- Gerade in der Arbeitsmarktkrise bedarf es der Verstetigung der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Es ist notwendig aber nicht ausreichend, die
Arbeitsverwaltung und Arbeitsvermittlung zu effekti-vieren. Der 2. Arbeitsmarkt und die Bildungsförderung dürfen nicht weggeschlagen,
sondern müssen weiterentwickelt werden. Die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe muss ohne die angekündigten Leistungseinbußen
geregelt werden.
- Statt der Verkürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und der angekündigten Herauf-setzung von Altersgrenzen und Rentenabschlägen bedarf es einer veränderten, altersgerech-ten Personalpolitik der Unternehmen. Wenn die Frühausgliederung gestoppt und Ältere länger im Arbeitsleben verbleiben sollen, dann sind dafür in den Betrieben und Verwaltungen zunächst die Voraussetzungen zu schaffen.
- Allein durch Wachstum lässt sich die Arbeitslosigkeit nicht abbauen. Der gegenwärtige Stillstand in der Arbeitszeitpolitik muss überwunden und durch unterschiedliche Formen individueller und allgemeiner Arbeitszeitverkürzungen abgelöst werden. Ziel muss es sein, das begrenzte Erwerbsarbeitsvolumen auf mehr Menschen zu verteilen. Dazu gehört aber auch, die Nicht-Erwerbsarbeit zwischen den Geschlechtern egalitär aufzuteilen.
- Die Sicherung der Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems erfordert zum einen ein sozial gerechtes Ausschöpfen der Rationalisierungsreserven. Qualität und Effizienz der Sy-steme müssen erhöht und die Risikoprävention gestärkt werden. Zum andern ist ein solidari-sches Sicherungssystem auf Dauer nur tragfähig, wenn auch die gesamte Bevölkerung zu sei-ner Finanzierung beiträgt. Angesichts der Finanzierungsprobleme insbesondere bei der Renten- und Krankenversicherung muss der Weg in Richtung einer allgemeinen Erwerbstätigen-versicherung eingeschlagen werden, bei der das gesamte Einkommen Maßgröße für den Fi-nanzierungsbeitrag ist.
Prof. Dr. Gerhard Bäcker, Duisburg
Prof. Dr. Heinz Bierbaum, Saarbrücken
Prof. Dr. Karin Böllert, Münster
Prof. Dr. Hans-Ulrich Deppe, Frankfurt
Prof. Dr. Dieter Eißel, Gießen
Prof. Dr. Heiner Ganßmann, Berlin
Prof. Dr. Walter Hanesch, Darmstadt
Prof. Dr. Arne Heise, Hamburg
Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach, Frankfurt
Prof. Dr. Klause Hofemann, Köln
Prof. Dr. Ernst-Ulrich Huster, Bochum
Prof. Dr. Klaus-Peter Kisker, Berlin
Prof. Dr. Ulla Knapp, Hamburg
Prof. Dr. Ingrid Kurz-Scherf, Marburg
Prof. Dr. Friederike Maier, Berlin
Prof. Dr. Hans-Uwe Otto, Bielefeld
Prof. Dr. Brigitte Stolz-Willig, Frankfurt
Prof. Dr. Joachim Trube, Siegen
Prof. Dr. Norbert Wohlfahrt, Bochum
Prof. Dr. Karl-Georg Zinn, Aachen